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Rentner-Disco


Rentner-Disco


1. Auflage

von: Gerd Bieker

6,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 28.01.2022
ISBN/EAN: 9783965216044
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 157

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Tom verzieht das Gesicht wie bei Zahnschmerzen. Er sagt ihr, von welcher nächtlichen Beschäftigung er kommt und worauf er hier warten will. Dabei besieht er sich das Mädchen genauer.
Ein rundes Gesicht mit Himmelfahrtsnase. Lebhafte Augen. Beim Zuhören zieht sie die Augenbrauen hoch, kraust den Nasenrücken. Das glattgescheitelte Haar ist links und rechts mit Gummibändchen abgebunden, die Zopfbüschel ragen weg wie Katzenohren. Die Figur ist Durchschnitt, ein bisschen mollig. Alles sitzt, und alles passt.
Also irgendeines dieser völlig normalen Mädchen, wie sie einem am Tag dutzend Mal begegnen, nach denen man sich höchstens umschaut, wenn sie eingehenkelt mit der hübschen Freundin ankommen. Die Zigarette hält sie mit Daumen und Zeigefinger wie eine Anfängerin. Lächelt. Wahrscheinlich alles in allem ein schlichtes Gemüt.
Jana lacht. „Wir zwei passen zusammen wie ein Latsch zum anderen, du.“
Tom guckt verdutzt.
Sie erklärt es ihm: „Beide kommen wir von der Nachtschicht. Treffen uns rein zufällig. Doch was der Clou ist: Jeder hat sein problematisches Alterchen daheim. Du die Oma, ich den Opa.“
Diese beiden älteren Herrschaften, das sind übrigens die Rosel und der Bruno, mit denen die beiden jungen Leute so ihre Schwierigkeiten haben. Und worauf Tom, der Schornsteinfegerlehrling, frische achtzehn, und Jana, Brötchenbäckerin im Backwarenkombinat (im Schichtbetrieb), ein bisschen über zwanzig und damit die reifere von beiden und außerdem mit einem Faible für ihre Lieblingsfarben Grün und Orange, ist der Beginn des Kartenvorverkaufs für den Rentnerball zu Pfingsten in der Stadthalle - Tanz für altes Eisen gewissermaßen.
Und nachdem sich die beiden bei einem gemeinsamen Sekt-Frühstück im noblen Interhotel etwas näher miteinander bekanntgemacht haben, haben sie eine Idee – sie wollen Rosel und Bruno miteinander verkuppeln:
„Wenn deine Großmutter meinen Großvater nähm“, sagt sie langsam, „dann wären wir beide auf einmal ziemlich verwandt miteinander. Hast du daran schon einmal gedacht?“
Erst schüttelt Tom den Kopf, dann plötzlich nickt er.
Jana erwidert seinen Blick. Ernsthaft und ohne Zwinkern sieht er sie an.
Ihm fällt auf, sie hat schöne Augen. Helle. Mit grünlichen Pupillen.
Vor Verlegenheit greift Jana zum Glas. „Worauf trinken wir jetzt?“
Aber weder Jana noch Tom – die beiden sind jetzt ungefähr anderthalb Stunden miteinander bekannt – ahnen, welche Folgen ihre Pläne haben werden und zwar sowohl für ihre beiden alten Herrschaften als auch für sie selbst.
Am 23. Juli 1937 in Grünhainichen geboren, Lehre als Buchdrucker, danach Zeitungsrotationsdrucker in ständiger Nachtarbeit.
Von 1960 bis 1963 Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Danach bis 1969 Kulturpolitischer Mitarbeiter beim Kulturbund der DDR.
Ab 1970 freier Autor in Karl-Marx-Stadt: Erzähler und Hörspielautor in Serien für Kinder, eigene Serien (Paule-Geschichten), Jugendbuchautor, vielseitige journalistische Mitarbeit bei Zeitungen und Zeitschriften sowie Autor von Stadt- und Regionalgeschichte.
Nach 1990 Arbeit als Buchhändler, Leiter des ABM-Vereins „Fachwerk heute e. V.“.
Er lebt mit seiner Partnerin Brigitte Dathe in Chemnitz.
„Du schindest dir die Jugend aus dem Leib. Für nichts und wieder nichts.“ Ohne alle Umstände ist die Oma bei ihrem Thema angelangt. „Na, was denn? Des Geldes wegen? Erzähl mir nichts! Du hast dein Auskommen. Ist doch wahr! Ich sag nichts, wenn du dich nützlich machst. Sich regen bringt Segen, und Arbeit macht das Leben süß, soweit gut. Aber bei dir artet es aus. Ich meine, deinem Herumwirtschaften fehlt der Sinn, das ist es. Weil du es nur aus reinem Trotz tust, darum.“
„Oma, ich muss! Meine Hände jucken, die brauchen das, versteh mal.“
„Ach du! Wie gern möchte unsereins mal mit seinem Enkel in die Stadt, die Einkaufsläden unsicher machen oder einfach nur so dahinbummeln, sich dieses ansehen, jenes. Meinetwegen in ein Museum, das Zeug aus früheren Zeiten bewundern. Ins Kino. Auf Kaffee und Tortenstück ins Restaurant. Herrje, da haust man nun in der großen Stadt, aber wann hat der Enkel seine Oma in der letzten Zeit mal aus dem Haus geführt?“
Rosel fuhrwerkt zwischen den Kartoffelschalen im Spülbecken umher, dass es nur so spritzt.
Tom schweigt. Er weiß, dass die Oma das nur sagt, um ihm eine Freude zu machen. Ihr liegt an alledem nichts. Trotzdem hat sie recht, die gute Oma. Mit Angeboten solcher Art wird Rosel Handschuk von ihm nicht verwöhnt. Vielleicht hat er bisher wirklich nur mit sich zu tun gehabt, nur seinen Idealen gelebt, den egozentrischen Eigenbrötler mitsamt Psyche gehätschelt, ohne sich um anderer Menschen Freude und Kummer zu scheren.
Das Anstehen vor der Stadthalle hat Tom im Nachhinein sehr nachdenklich gestimmt. Oft auch hat er in den vier Tagen seither an Jana denken müssen. Er hat sie mit den Mädchen an Beatrices Oberschule verglichen. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie hübscher, aber die Jana scheint wiederum das zu besitzen, was er bei Beatrice vergeblich sucht: Seele, oder wie man’s auch immer benennen mag.
„Ich versündige mich“, ereifert sich Rosel Handschuk weiter, „aber ich bin froh, dass es dich am Arm erwischt hat. Endlich musst du daheim sitzenbleiben. Musst dich ausruhen. Es wäre bei der Gelegenheit nicht schlecht, dein bisschen Grips für die letzten Prüfungen aufzubessern. Dazu haben sie euch schließlich freigegeben.“
„Das schaffe ich mit links“, sagt Tom. „Wenn ich will, mit Fleißbienchen und großem Stern.“
Die Oma seufzt. „Bei diesen Elternabenden sagen deine Berufsschullehrer jedes Mal über dich: ,Hochintelligent, aber stinkend faul.‘ Du hast mich schon oft in die Zwickmühle gebracht. Konnte ich ihnen denn auf die Nase binden, was du für ein Arbeitstier bist? Nur vor zwei Jahren, da war es genau umgedreht …“
„Als ich dir auf einmal zum Zehnklassenabschluss lauter blanke Einsen präsentierte?“
„Für ein Abitur hätte das vielleicht sogar gereicht. Der beste Fahrschein auf die Universität war das … Aber der Herr Enkel musste ja partout seinen Spleen durchsetzen: auf die Häuser steigen wollen, die dreckigste Arbeit machen, den Rußputtel spielen für andere Leute. Das Herz bleibt mir armen Frau stecken, wenn ich nur daran denke ... Tag um Tag … Dabei hätte einem wie dir der Doktor offengestanden, Junge.“
„Damals, zum Schulabschluss, waren die Schlachten um meinen Beruf geschlagen, ich hatte schon gewonnen und meinen Lehrvertrag mit Schornsteinfegermeister Ullrich so gut wie in der Tasche. Ich stand demnach überhaupt nicht mehr unter irgendwelchem Leistungsdruck, sondern sagte mir: Jetzt zeigst du es dir und den anderen, was in dir steckt. Ich wollte mich ausloten, mein Leistungsvermögen testen. Und außerdem, das war der Hauptgrund, sollte es für dich zum Geburtstag eine Art Geschenk sein, Oma.“
„Alle lobten dich über den grünen Klee.“ Rosel Handschuk hängt den Erinnerungen nach. „Ich konnte deinen Eltern schreiben, dass es ihr gescheiter Sohn mit Bravour geschafft hat. Das war für mich das Allerschönste …“
„Wenn du willst, Oma, verehre ich dir diesmal einen Berufsschulabschluss der Sonderklasse. Speziell für dich.“
„Du musst es wollen, für dich. Du musst endlich Linie hineinbringen in dein Hirn.“
„Stimmt“, sagt Tom spontan.
Er ist seiner Sache völlig sicher: Die Prüfungen in der zentralen Berufsschule wird er mit ausgezeichnet schaffen. Daraufhin kann er seine berufspraktische Prüfung vorfristig ablegen, so lautet die anspornende Regelung. Bald nach Pfingsten wird er sich den schwarzglänzenden Zylinder aufsetzen dürfen: Herr Facharbeiter.
Misstrauisch blickt die Oma zu ihm herüber, weil er ihr beipflichtet, statt ihr zu widersprechen. Sollte er endlich zur Vernunft kommen? Nicht auszudenken wär’s!
Sie wirft ihm, Einsicht will belohnt werden, noch eine Kartoffel hin.
Tom ist verändert, seit er mit dieser Verwundung heimkam. Das hat Rosel Handschuk gleich gemerkt. Gerade deshalb redet sie dauernd mit ihm, in der Hoffnung, er möge endlich aus seiner unirdischen Welt, die er sich zurechtgebastelt hat, herausfinden. Endlich einen anständigen Weg finden aus diesem Zwist – man bedenke! – mit den eigenen Eltern.
Nein, wahrhaftig nicht zum Vergnügen zankt sie mit ihm, dem anstelligen und geschickten Riesenkind, das ihr mittlerweile mehr ans Herz gewachsen ist als der eigene ferne Sohn …

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