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Keine Anzeige in der Zeitung


Keine Anzeige in der Zeitung

Erinnerungen
1. Auflage

von: Günter Görlich

8,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 24.06.2022
ISBN/EAN: 9783965217201
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 608

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Diese Erinnerungen sind keine Beichte, sondern eine kritische Bilanz. Ihr Titel spielt auf eines seiner Erfolgsbücher zu DDR-Zeiten an. Hier also „Keine Anzeige in der Zeitung“. Das spannend, mit Aufmerksamkeit und Respekt für den Autor, aber auch mit manchen Einwänden und Zweifeln zu lesende Buch beginnt ungewöhnlich und in Hamburg:
Das ist eine seltsame, fast unwahrscheinliche Geschichte. Im Sommer 1994 sitzt ein Mann an einem Holztisch, Fabrikat danbo-Möbel, in einer kleinen Wohnung in Hamburg. Die befindet sich in einem Haus in der Englischen Planke.
Der Mann ist zu diesem Zeitpunkt sechsundsechzig Jahre alt und hat die Absicht, aufzuschreiben, wie sein Leben so war, also die fälligen Erinnerungen zu liefern.
Der Gedanke, seine Erinnerungen aufzuschreiben, war dem Mann schon früher gekommen, gleich nach dem Bruch in seinem Leben. Den haben viele erlebt, sehr viele, jeder auf seine Weise. Aber es wurde darüber so vieles geschrieben. Und so schnell. Das war dem Mann unheimlich, denn er hatte manches davon gelesen. Weniges fand seinen Beifall. Aber das hat nicht viel zu sagen.
Der Mann am Holztisch in der kleinen Wohnung in der Englischen Planke ist der Autor.
Sein Lebensweg hatte am 6. Januar 1928 in Breslau begonnen, über die sowjetische Kriegsgefangenschaft in den sowjetischen Sektor Berlins geführt, der sich in den Tagen seiner Heimkehr in die Hauptstadt einer Deutschen Demokratischen Republik verwandelte. Und am Werden und Untergehen dieser deutschen Republik war er beteiligt.
Im Buch kann man viel Familiäres und viel Politisches aus dem Leben dieses Schriftstellers und Kulturfunktionärs erfahren, der auf merkwürdige Weise in ein hohes Parteiamt gelangte und zum Zeitpunkt der Niederschrift verwundert-zornig auf die Ereignisse des zweiten Halbjahres 1989 blickt, die zum Untergang des Sozialismus in der DDR führten.
Wie und warum es dazu kam (oder kommen musste) hat vielleicht auch mit einer Anekdote zu tun, die Görlich über seinen Erfolgsroman „Eine Anzeige in der Zeitung“ berichtet: Ich weiß heute, es gab Bemühungen, meine Geschichte zu verhindern. Es ist nicht gelungen. Vielleicht, weil ich Margot Honecker das Manuskript zu lesen gab, und sie entschied sich für die Geschichte.
Wer wissen will, wie es damals gewesen ist und wie er gewesen ist, der sollte bis zu den letzten Sätzen dieser bitter-hoffnungsvollen Memoiren durchhalten: Diese Episode an der Mauer der Kommunarden hat er nicht erfunden, sie hat sich so zugetragen.
Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.
Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.
Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.
1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.
Weitere Auszeichnungen:
Kunstpreis des FDGB 1966, 1973
Nationalpreis 2. Klasse 1971
Held der Arbeit 1974
Nationalpreis 1. Klasse 1978
Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979
Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979
Ehrenspange zum VVO in Gold 1988
Goethepreis der Stadt Berlin 1983
An dieser Stelle springe ich wieder vierzig Jahre zurück in meinen Erinnerungen, in den Herbst des Jahres’49.
Jener Herbst war ungewöhnlich schön und sommerlich. Ich war noch ein- oder zweimal bei Elli im Holzhaus in Bad Saarow, und nach vielen Jahren schwamm ich wieder in einem klaren See. Ich fuhr nicht mit der Bahn dorthin. Mein Onkel Erich hatte mir ein Fahrrad zusammengebaut, die Bereifung schickte mir Onkel Willi aus dem Ruhrgebiet. Ich musste ja täglich zur Arbeit nach Ahrensdorf in die Kiesgrube. So fuhr ich auf meinem neuen, alten Fahrrad nach Bad Saarow, immer auf der Autobahn in Richtung Osten, verließ sie an der Abfahrt Fürstenwalde, von dort war es nicht mehr weit bis zum Holzhaus am See. So legte ich siebzig bis achtzig Kilometer zurück, damals rollten nur wenige Autos über die Straßen des Führers, und die Radfahrer störten nicht.
Dieser warme, sonnige Herbst brachte uns schnell näher, Elli und mich.
Die Arbeit in der Kiesgrube war nicht gerade leicht, doch im Vergleich zu der im Steinkohleschacht war sie erträglich. Sie war gleichförmig, ja stumpfsinnig. Aber ich verdiente Geld, doch so recht wusste ich nicht, mit ihm umzugehen. Zum Glück hatte ich Erna, sie hatte alles im Griff, die Lebensmittelkarten, das Geld und so manches noch, das eben zum Leben damals gehörte. Sie begleitete fürsorglich meine tastenden, unbeholfenen Schritte in das zivile Leben. Und das war gut. Doch es hatte einen Nachteil, ich brauchte recht lange, um selbstständig zu werden.
Erna besorgte mir ein kleines Zimmer zwei Häuser weiter, meine erste eigene Behausung nach der Gefangenschaft, vier Wände, ein Fenster, eine Tür.
Dann meldete sich der Winter. Das Jahr ’49 näherte sich seinem Ende, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte beginnen mit dem Jahr 1950.
Das stimmt zwar nicht, wenn man genau ist, doch die Jahreszahl 1950 ist optisch einprägsam.
Da ich das niederschreibe am Holztisch in der Englischen Planke, nähern wir uns dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Und die Böller und Raketen werden in der Nacht vom 31. Dezember 1999 zum 1. Januar 2000 hochsteigen zur Jahrhundertwende.
Meine blaue Wattejacke, ausgegeben vom Magaziner im Ural, war nicht mehr so neu, doch sie hielt zuverlässig warm. Eigentlich war sie für andere Winter gedacht.
Das erste Weihnachten nach der Heimkehr. Seltsam, ich erinnere mich nur schwach an die Feiertage. Ein Weihnachtsbaum stand in der Küche und ein Radio spielte Weihnachtsmelodien. Erna brachte Gutes auf den Tisch, das ich leider nicht so recht würdigen konnte, immer noch gewöhnt an das Lageressen. Und Bohnenkaffee gab es, besorgt aus dem Westen. Damals mochte ich dieses edle Getränk nicht sonderlich. In diesen Tagen besuchte ich Lena und Erich, Großmutter Anna und Eva.
Auch Elli war zu den Weihnachtstagen aus Berlin gekommen. Das hatte für mich Bedeutung, beherrschte mein Denken und Fühlen. Schliefen wir in jenen Tagen schon in meinem Zimmer zwei Häuser weiter? Seltsam, ich weiß es nicht.
Für den Jahreswechsel hatte sich Elli etwas Besonderes ausgedacht. Ich holte sie am Silvestertag in Pankow ab, sie hatte ein Zimmer in der großen Wohnung der Honigmanns. Ich erinnere mich, es war feuchtkaltes Wetter, kein Schnee. Wir wollten ins Zentrum, in die Marienstraße, nicht weit vom Bahnhof Friedrichstraße gelegen. Ich trug den Wintermantel, den ich von Herrn Honigmann bekommen hatte, den aus London, in dem ich mir etwas verloren vorkam. Aber in der Wattejacke, der man die Arbeit in der Kiesgrube ansah, konnte ich ja nicht zur Silvesterfeier aufkreuzen.
In der Marienstraße hatte Elli ihre Kindheit verbracht, in einer Wohnung über einem Zoo-Geschäft, das ihr Vater betrieb. Und dieses Haus trafen Bomben, es war das einzige Haus in der Marienstraße, das bis auf die Grundmauern niederbrannte. Im unversehrten Hinterhaus wohnten Ellis Freunde, mit denen wir in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hineinfeiern wollten.
Für mich wurde es eine verwirrende Nacht. Mich begrüßten junge Leute in meinem Alter. Mädchen musterten mich unverhohlen neugierig, die jungen Männer nahmen kaum Notiz von mir. Elli wollte mich in das Berliner Leben einführen, vielleicht wollte sie auch zeigen, dass sie nun auch einen Kerl hatte. Einen zu haben war nicht leicht für Frauen in jenen Jahren nach dem Krieg. Der hatte die Männer meines Jahrgangs und die vor meinem lagen arg dezimiert. Ich weiß nicht mehr, wie bei dieser Silvesterfeier das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Frauen und Männern war. Ich weiß nur, es herrschte großer Trubel in der nicht sehr großen Wohnung, es wurde viel gelacht und gesungen, Schlager, die ich nicht kannte.
Ich saß da, lächelte wohl einfältig, hatte zur Unterhaltung kaum etwas beizutragen. Ich hatte das Empfinden, jede und jeder bei dieser Feier war mir überlegen. Sie kannten das Leben in Berlin, unterhielten sich über Filme, die sie im Westteil gesehen hatten, redeten über Preise, legale und nicht legale, kannten tolle Witze, und die meisten von ihnen hatten irgendwelche Berufe.

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