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Forster in Paris


Forster in Paris

Erzählung
1. Auflage

von: Erik Neutsch

3,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 14.04.2013
ISBN/EAN: 9783863944063
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 201

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Wie nahe kann man mit literarischen Texten dem Leben historischer Persönlichkeiten kommen? Man lese und prüfe diese Frage am Beispiel dieses Textes über die Zeit der Großen Französischen Revolution, als einer der großen deutschen Revolutionäre dieser Zeit nicht mehr viel Zeit zu leben hat.
Wir schreiben das Jahr 1793. Forster ist auf dem Wege nach Paris - in einer nach südlicher Art breit und bequem gebauten Kutsche, die gut noch für 3 oder 4 Personen Platz gehabt hätte: für Therese, die beiden Töchter und - Huber. Aber er fuhr allein. Des wiederholten Wartens müde, hatte er endlich in Troyes die Extrapost genommen, die ihm in seiner Eigenschaft als Gesandtem des Konvents ohnehin zustand.
Doch Georg Forster, der berühmte Weltreisende und Naturforscher und Deputierte der Mainzer Republik im Pariser Konvent reist allein. Er ist im schlechtesten Sinne des Wortes allein, allein und verlassen und zu allem Unglück auch noch krank, sehr, sehr krank.
Er konnte nur hoffen, nicht mehr, aber auch nicht weniger tun als das, was ihm seit Jahren nun schon zur Gewohnheit geworden war, spätestens seit der Abreise Thereses von Mainz, die einer Flucht geglichen hatte. Auch die Tage im Val de Travers, wo er noch einmal sein Glück zu zwingen versucht hatte, verschwammen, verdunkelten sich. Zerschmolz die Erinnerung? Nein, natürlich nicht. Nur überwog jetzt die Bitterkeit; die Freude über das lang entbehrte, heftig ersehnte Wiedersehen erlosch. Die Erinnerung drückte ihn nieder. Mit dem Abstand von heute lag sie auf seinem Kopf wie eine Last, so, als wollten sich nachträglich die Enttäuschungen rächen, die kalten und kargen, verregneten, bleich von Nebeln umhüllten Berge des Juramassivs über ihn stürzen und seinen Mut verschütten. Er spürte die Brust sich verkrampfen. Er war Mediziner genug, um zu wissen, dass es von diesem scheußlichen Rheuma herrührte, das er sich unter den Segeln Cooks in den eisigen Stürmen des Südkontinents geholt hatte.
Mit großer Kenntnis und Einfühlung zeichnet Neutsch die letzten Lebensmonate eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten und Enttäuschungen nicht aufgibt und der Revolution die Treue hält.
Sehr bemerkenswert ist übrigens auch das Nachwort des Autors zu seinem Text. Es lautet: „Die Erzählung entstand nach Briefen von Forster und in Benutzung zahlreicher anderer Quellen. Der Autor bittet alle jene um Verständnis, die sich in Formulierungen wiedererkennen, und dankt ihnen. Es geschah in dem Bestreben, der Wahrheit am nächsten zu kommen.“
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.
Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.
Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.
Veröffentlichungen
Romane:
Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)
Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)
Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)
Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)
Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)
Erzählungen:
Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)
Die zweite Begegnung, Halle 1961
Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)
Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)
Tage unseres Lebens, Leipzig 1973
Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976
Akte Nora S., Berlin 1976
Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998
Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)
Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)
Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)
Stockheim kommt, Berlin 1998
Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)
Kinderbücher:
Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)
Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.
Bühnenwerke:
Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971
Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971
Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972
Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983
Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999
Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.
Filme (nach seinen Texten):
Spur der Steine, DEFA 1966
Die Prüfung, DEFA 1967
Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975
Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976
Zwei leere Stühle, DFF 1982
Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.
Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.
Auszeichnungen u.a.:
Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981
Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971
Kunstpreis der Stadt Halle 1971
Händelpreis der Stadt Halle 1973

«Halt an, Bürger. Bist du ein Freund, trinke mit uns und nimm einen Happen.»
Ein Krüppel lud ihn ein. Beide Beine waren ihm abgeschossen, bei Jemappes, wie er sagte, und er bewegte sich auf einem flachen Karren mit vier Holzrädern, indem er sie mit seinen Händen bediente.
«Es kann doch nicht alles umsonst gewesen sein. Leben wollen wir, leben. Verstehst du? Wie einstmals die Könige. Satt werden jeden Tag. Sie, die Blutsauger, sollen geköpft werden, aber das französische Volk - es soll leben.»
Forster nahm einen Schluck, einen Bissen trockenen Brots und gebratenen Fleischs. Es mochte von Hunden oder Katzen stammen. Aber er hatte ja unter Cooks Kommando auch schon Ratten verzehrt. Er dachte: Die Männer haben Arme und Beine verloren, sogar das Augenlicht, doch es stört sie nicht Sie haben auch ihre Ketten abgestreift. Und das vor allem läßt sie den Verlust ihrer Glieder ertragen...
Er erreichte die Quaimauern der Seine, hörte den Fluß unter sich rauschen und erblickte vor sich den Pont Neuf mit seinen unverkennbar stämmigen Pfeilern und niedrig geschwungenen Bögen. Erneut suchte er Halt, lehnte sich auf der Brücke gegen die steinerne Brüstung und starrte in das dunkle, im Widerschein der Uferlaternen sich leicht bewegende, zitternde und glitzernde Wasser. Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, nahm seine Schwäche zu. Die Beine wurden ihm schwer, so müde und bleiern schwer, daß sie ihm nicht mehr gehorchen wollten und er sie von seinem Körper abgetrennt wähnte. Kalter Schweiß troff über seine Stirn, rann den Nacken herab, bedeckte klebrig seinen Rücken und tränkte seine Kleider.
Oder war es nicht doch der immer heftiger werdende Regen, der ihn jetzt bis auf die Haut durchnäßte? Mein Gott, wenn das so fortgeht, kann ich mich nur gefaßt machen, mich bis in den Frühling als armer Gefangener ans Bett gefesselt zu sehen. Das aber fehlte noch, einen ehrlichen Kerl so peu á peu zur Welt hinauszumartern...
Auch am Quai im Dämmerschatten des Louvre kreischten die Geräusche der Bohrer. Zwei Barken lagen dort vor Anker, umgebaut zu Werkstätten, in deren flackerndem Licht Geschützrohre bearbeitet wurden.
Der Lärm betäubte ihn, und er schloß für Sekunden die Augen.
Vom Pont Neuf brauchte er höchstens noch eine halbe Stunde bis in sein Quartier. Er atmete tief. Er wollte sich wieder aufraffen.
Doch plötzlich hörte er dicht neben sich Stimmen. Eine Streife der Nationalgarde sprach ihn an. Ihren heimlich gewechselten Worten entnahm er, daß ihn die Posten für betrunken hielten.
«Nein», keuchte er, «nur krank. Unendlich einsam und krank.»
Offenbar wollten sie verhindern, daß er noch länger dem Treiben auf den Barken zuschaute. Womöglich glaubten sie gar, er sei ein Spion.
«Ihre Carte de civisme, Bürger.»
Er zeigte ihnen den Ausweis, den jetzt jeder nach dem Gesetz über die Verdächtigen bei sich zu tragen hatte und der nicht nur seine Personalien angab, sondern ihm auch eine tadelsfreie republikanische Gesinnung attestierte.
«Voilá. Sie können passieren.»
Forster löste sich von der Brüstung. Doch schon nach wenigen Schritten versagten ihm seine Füße den Dienst. Er sank auf die Knie. Schwindel im Kopf. Er versuchte, sich wieder aufzurichten. Seine Hände wühlten in modrigem Laub. Natürlich, die Straßen wurden weder gefegt noch ausgebessert... Und er spürte noch, daß die Männer ihm unter die Arme griffen, ihn aufhoben, und hörte sich antworten, als sie nach seiner Adresse fragten.

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