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Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte


Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte



von: Erik Neutsch

3,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 31.07.2014
ISBN/EAN: 9783965213906
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 59

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Die Handlung dieser kleinen poetischen Geschichte spielt während zweier Sommer und einem Herbst, einem Winter und einem Frühjahr dazwischen in einem Dorf zwischen zwei mächtigen Flüssen, in einer Gegend, die man das Luch nennt. Und auch ein See liegt in der Nähe. Und dort passierte vor einiger Zeit etwas Ungewöhnliches: Eines von acht Kindern eines Gänseelternpaares, das Frühling für Frühling aus dem fernen Afrika wieder ins Luch heimkehrte und ein Nest am Schilfufer des Sees baute, wollte partout nicht fliegen lernen und erfand allerhand Ausflüchte. Schließlich führte „Gussi“, das Graugänsemädchen, am sommerlichen See ein schönes Leben. Und ihr schien es zu reichen, laufen und schwimmen zu können.
Dann aber kam der Herbst, und es wurde Zeit für die Wildgänse, wieder nach Afrika zu fliegen. Aber als sich ihre Eltern und ihre Brüder auf den weiten Weg machen wollten und „Gussi“ zum Mitfliegen aufforderten, da konnte sie es nicht – weil sie nicht fliegen konnte. Aber was würde mit dem einsamen Graugänsekind geschehen, wenn erst der Winter mit Kälte, Eis und Schnee auch am See Einzug gehalten hat? Würde irgendjemand „Gussi“ helfen können? Würde sie ihre Eltern und ihre Brüder im nächsten Jahr wiedersehen?

LESEPROBE:
Indessen hatte sich Gussi wieder zurück auf den Weg zum See begeben, wo sie unter der Fichte mit den tiefhängenden Zweigen ihr Nest mit dem wärmenden Laubpolster wusste. Denn sie fror erbärmlich, und da sie auch nur selten etwas Saftiges und Stärkendes zu verzehren fand, magerte sie zusehends ab. Schritt für Schritt, müde vor Anstrengung, watschelte sie dahin. Die Füße taten ihr weh. Die rosa Schwimmhäute zwischen ihren Zehen waren wundgescheuert und zeigten vor Kälte kaum noch ein Gefühl.
Doch plötzlich, als das Schneegestöber sich lichtete und schließlich aufhörte, sah sie vom Dorf her eine Kolonne von riesigen Maschinen auf sich zukommen. Das ratterte und knatterte, und umso lauter wurde das Getöse, je näher die Ungetüme auf sie zurollten. Sie erkannte Bagger und Kippfahrzeuge, Planierraupen und Walzen. Entsetzt ergriff sie die Flucht, stolperte über Stock und Stein. In ihrer Not spreizte sie alle Federn, schlug verzweifelt mit ihren Flügeln durch die Luft und wollte auffliegen. Doch ungeübt und lahm versagten sie ihr jeglichen Dienst. So war sie noch froh, sich vor den Maschinen ans Ufer gerettet zu haben.
Aber auch das war ein Irrtum. Sie suchte die schützende Mulde unter der Fichte.
Sie fand sie nicht.
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.
Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.
Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.
Veröffentlichungen
Romane:
Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)
Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)
Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)
Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)
Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)
Erzählungen:
Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)
Die zweite Begegnung, Halle 1961
Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)
Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)
Tage unseres Lebens, Leipzig 1973
Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976
Akte Nora S., Berlin 1976
Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998
Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)
Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)
Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)
Stockheim kommt, Berlin 1998
Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)
Kinderbücher:
Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)
Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.
Bühnenwerke:
Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971
Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971
Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972
Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983
Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999
Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.
Filme (nach seinen Texten):
Spur der Steine, DEFA 1966
Die Prüfung, DEFA 1967
Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975
Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976
Zwei leere Stühle, DFF 1982
Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.
Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.
Auszeichnungen u.a.:
Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981
Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971
Kunstpreis der Stadt Halle 1971
Händelpreis der Stadt Halle 1973
Indessen hatte sich Gussi wieder zurück auf den Weg zum See begeben, wo sie unter der Fichte mit den tiefhängenden Zweigen ihr Nest mit dem wärmenden Laubpolster wusste. Denn sie fror erbärmlich, und da sie auch nur selten etwas Saftiges und Stärkendes zu verzehren fand, magerte sie zusehends ab. Schritt für Schritt, müde vor Anstrengung, watschelte sie dahin. Die Füße taten ihr weh. Die rosa Schwimmhäute zwischen ihren Zehen waren wundgescheuert und zeigten vor Kälte kaum noch ein Gefühl.
Doch plötzlich, als das Schneegestöber sich lichtete und schließlich aufhörte, sah sie vom Dorf her eine Kolonne von riesigen Maschinen auf sich zukommen. Das ratterte und knatterte, und umso lauter wurde das Getöse, je näher die Ungetüme auf sie zurollten. Sie erkannte Bagger und Kippfahrzeuge, Planierraupen und Walzen. Entsetzt ergriff sie die Flucht, stolperte über Stock und Stein. In ihrer Not spreizte sie alle Federn, schlug verzweifelt mit ihren Flügeln durch die Luft und wollte auffliegen. Doch ungeübt und lahm versagten sie ihr jeglichen Dienst. So war sie noch froh, sich vor den Maschinen ans Ufer gerettet zu haben.
Aber auch das war ein Irrtum. Sie suchte die schützende Mulde unter der Fichte.
Sie fand sie nicht.
Zwar kam sie an den Platz, wo vor ihrer Wanderschaft das Versteck gelegen hatte. Doch inzwischen breitete sich dort eine kahle, verkohlte Fläche aus. Bäume und Büsche waren gerodet, Gezweig und Gestrüpp zu Haufen gestapelt und angezündet worden. Noch brannten die Feuer, loderten die Flammen. Schwarzer, stinkender Rauch wälzte sich über den See und verdüsterte unter sich das Geflimmer des Wasserspiegels, den Widerschein der matt am Himmel glänzenden Sonne im Spiel der wie klagend ans Ufer klatschenden Wellen.
Gussi war unendlich traurig. Und ihre Traurigkeit nahm noch zu, als nun auf der abgeholzten und niedergebrannten Fläche die Maschinen eintrafen.
Sie saß in der Deckung eines Wacholderstrauches und rührte sich nicht.
Von etlichen Männern, die den Kabinen der Fahrzeuge entstiegen waren, hörte sie Wortfetzen zu sich herüberhallen. Immer wieder war darin von einer Melioration die Rede. So nannten die Menschen offenbar ihr Werk, das Land, wie sie sagten, zu ebnen, zu entwässern und zu verbessern. Sie wollten darauf ein Hotel bauen, einen riesigen Platz für Golfspieler anlegen, einen Badestrand dazu, und freuten sich, dass sie noch lange zu arbeiten hätten.
Schon ratterten und knatterten wieder die Motoren. Die Bagger fraßen sich mit ihren Schaufeln tief in den Boden und warfen Gräben aus. Eine Gruppe Wildkaninchen stürzte aus ihrem Bau und stob hakenschlagend mit angstverzerrten Gesichtern an Gussi vorbei. Die Kipper schleppten von irgendwoher Geröll und Kies heran und schütteten einen Deich damit auf. Ein Reh, wohl schon Vortags von seinem Rudel getrennt, jagte wie von Sinnen davon, rannte mit dem Kopf gegen eins der eisernen Geräte und blieb mit gebrochenem Genick neben ihm liegen. Die Planierraupen schoben unentwegt Erde in den Sumpf, um ihn trockenzulegen und einzupoldern, und die Walzen fuhren glättend darüber hin, verschonten auch nicht die Böschung am See, zermalmten sie unter sich. Mit qualvollem Schrei, einem weithin gellenden „Tittittie!" schoss ein Eisvogel auf. Selbst im dunstverhangenen Licht dieses Wintertags noch blau und grün und rot wie ein Edelstein blitzend, flog er übers Wasser und gewiss, seiner tief in eine Uferwand gebohrten Nisthöhle beraubt, dem sicheren Tod entgegen.

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