Details

Und als ein Fremdling geblieben


Und als ein Fremdling geblieben

Erzählungen. Nachrichten
1. Auflage

von: Volker Ebersbach

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 14.03.2022
ISBN/EAN: 9783965216365
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 173

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Eine wichtige Vorbemerkung des Autors vorab: Den Texten ist, mitunter das Zitat streifend, Wortmaterial aus Werk und Briefen der Dichter und aus anderen Zeugnissen ihrer Zeit (Goethe, Lenz, Charlotte von Stein, Novalis, Seume, E.T.A. Hoffmann, Bettina und Achim von Arnim, Heinrich Heine) eingeschmolzen.
Damit sind auch schon die Namen jener Dichter genannt, um deren Leben und Werk es geht – zum Beispiel um jenen Jakob Michael Reinhold Lenz, der erst gerade unzertrennlich mit Goethe war und der dann wegen einer von Goethe am 26. November 1776 in seinem Tagebuch erwähnten, aber unkommentiert gelassenen „Eseley“ aus Weimar ausgewiesen wurde und später vereinsamt, verarmt und verbittert 1792 in Moskau starb. Bei Ebersbach heißt es über die Weimarer Zeit unter anderem:
Anderntags steht er selber in der Tür, der endlich eingeführte Geheime Legationsrat mit Sitz und Stimme im Geheimen Conseil und zwölftausend Talern. Ist schon Abend?
Du Glücklicher! Du lebst wie ein Poet. Hältst dich im Hintergrund. Da bleibt man frei. Wirst nicht von großen und wichtigen Geschäften ausgezehrt. Brauchst dich nicht überall hinzupassen, musst nicht aus allem Vorteil ziehen, zu Dissonanzen Mienen des Beifalls zeigen, dich Halunken angenehm machen, die Schranzen gewinnen, damit sie dir nicht den Herzog stehlen. Du lebst in deinen Fantasien, nicht in der wahren Welt.
Lenz lächelt: Die wahre Welt kann ich mir nicht leisten.
Goethe schaut ihm besorgt in die Augen: Du kokettierst mit deiner Schwäche! Du lebst dahin, als wartetest du auf ein Wunder.
Ich lebe hier wie ein Satyr unter Satyrn. Ich tue, was ich kann, ich schreibe. Und wenn mir was gelingt, ist es das Wunder, auf das ich warte. Oder die Saat, die dem Bauern Ernte bringt, er darf nur warten.
Du sprichst wie ein Narr. Ach, du bist zum Narren geboren, Lenzchen, und wenigstens hast du so viel Verstand, es in einer guten Art zu sein. Aber du musst dich auch selber lieben! Die Selbstliebe gibt uns die Kraft zu anderen Tugenden, merke dir das, mein menschenliebiger Don Quichote! Verdreh die Augen, wie du willst. Deine heftigste Leidenschaft noch musst du der Selbstliebe unterordnen, sonst wird sie abgeschmackt und andern lästig! Du darfst dich nicht verkriechen.
Man spürt den Bruch zwischen beiden Dichtern, von denen der eine Minister geworden ist.
Außerdem befasst sich Ebersbach mit den beiden heute halbvergessenen Schriftstellern Wilhelm von Kügelgen und Jakob Wassermann und dessen historischem Roman „Alexander in Babylon“.
FÜNF ETÜDEN ÜBER EINE ESELEY. Vermutungen über Goethe und Lenz
GEORG TRAKL
NOVALIS UNTER TAGE
NOVALIS IN FREIBERG
SEUME IN TEPLITZ
DIE DROSTE
BLUT UND WEIN
ADALBERT STIFTER VORM SPIEGEL
HEINE LIEGT
WILHELM VON KÜGELGEN
HYBRIS
ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND DER „FÜNF ETÜDEN“:
ÜBERBLICK ÜBER DAS LEBEN DES DICHTERS NOVALIS
DIE LEBENSSTATIONEN DES JOHANN GOTTFRIED SEUME
HEINRICH HEINE
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.
Lion-Feuchtwanger-Preis, 1985
Stipendiat des Künstlerhauses Wiepersdorf und des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1993
Er stürmte die Wendeltreppe des Freiberger Bürgerhauses hinauf, Lichtfluten entgegen, Lichtkaskaden, die ihn blendeten bis zur Benommenheit, bis zu Schwindel und erneuter Kopfabwesenheit, er stand noch aufrecht, griff nach dem Geländer, ein Röcheln in seiner Lunge erinnerte ihn an das Unwort Mottenfraß. Er hatte andere, jüngere Studenten des Bergfaches, die nicht zu ahnen schienen, dass es auch ihn betraf, darüber spotten hören, dass sich seit Otto dem Reichen der Bergbau ins Erzgebirge gefressen habe wie dieser Mottenfraß in eine kranke Lunge. Man sah die Löcher kaum. Über die Abraumhalden war Wald gewachsen.
Es war zu hell um ihn, seit er die Tagesöffnung der Grube verlassen hatte. So konnte nur die Hölle blenden, der er sich doch in der warmen Tiefe der Erzkavernen genähert hatte. Er dachte an die versunkenen, versengten Wälder, aus denen jene Kohle zu bestehen schien, an die offenliegenden Verwüstungen, welche ihr Abbau hinterlassen würde. Wie war das Holz im Inneren der Erde schwarz geworden? Hatte das Höllenfeuer, die Lava es gestreift, Lava, die irgendeinem fernen, Feuer speienden Berg zuströmte? Nur das Licht der Lava hatte seinen Ursprung in der Erde selbst, nicht in der Sonne, die jetzt in die Treppenfenster stach.
Und Julie von Charpentier saß da in ihrem blaugeblümten Kleid, spielte die Glasharfe. Was machte ihre weißen Finger feucht? Ihre Tränen? Machten salzige, salinensalzige Tränen die Glasschalen klingen? Weinte sie schon um ihren Bräutigam? Weinte sie sphärisch um ihn, der so lange nicht kam? Erschrak sie, innehaltend, über das Blut auf seinem Ärmel? Ahnte sie, wie bald er wieder würde gehen müssen, endgültig in die Erde? Oder plagte sie der Gesichtsschmerz, der plötzlich in ihr schönes junges Gesicht sich krallende Schmerz, der ihre Züge augenblicklich, buchstäblich mit einem einzigen Blinzeln der schmalen glänzenden Lider alt machte und wie ein Blitz ihre blonden Locken ins Weiße zu erhellen schien?
Wäre es nicht doch ehrlicher gewesen, da unten zu bleiben? Sterben war ihm zu einem philosophischen Akt geworden, in Jena und Dürrenberg beim lauten gemeinsamen Dichten, Lesen, Grübeln, Sympathisieren und Symphilosophieren mit Friedrich Schlegel, solange seine Natur der lieb gewonnenen Krankheit widerstand. Erst in der Todesangst, mit der er drunten im Stollen zu sich gekommen war, hatte er die Wirklichkeit des Sterbens geahnt, gestreift, ein Zipfelchen davon erlebt. Er würde Julie enttäuschen müssen, so oder so. In einem Traum hatte er mit der linken Hand sein Glied sich vor die Augen halten können, ganz schmerzlos abgetrennt von seinem Schoß, und neugierig beäugt wie einen Pilz.
Die Bergakademie gaukelte ihm Leben vor, Leben und Lebenssinn. Langweilig wäre es gewesen, nur auf den Tod zu warten. Es hatte ihn gereizt, sich in Mineralogie, Geologie, Bergbaukunde, Bergrecht und Markscheidekunst zu vertiefen, als Salinenakzessist und auch als Dichter, denn es gab da magische Entsprechungen, wenn er dichtend und schreibend das eigene Herz, die eigene Seele wie ein Bergwerk aufschloss. Der Bergbau hatte ihn noch einmal zum Lehrling gemacht. Fleiß und Tüchtigkeit, das zupackende Handeln ließ er sich wieder abfordern, Geschäftigkeit erfüllte seinen Tag, Begebenheiten wollten in Augenschein genommen werden, nicht einmal den seichten Zerstreuungen des Studentenlebens hielt er sich immer fern.
Aber es war alles nur Vorwand für stille Betrachtung, ein Schauspiel, in dem er selber nicht mehr auftrat, eine Türsteherei vor den Bereichen der Mystik, ein Lugen durch die Fensterschlitze der Wissenschaften in die Alchimie des Geistes, und so haftete diesem Verlöbnis mit Julie etwas Betrügerisches an.
Dennoch – war denn so sicher, dass sie ihn überleben würde und nicht er sie? Dass er ihre Pflege brauchen würde und nicht sie die seine? Als Julie ihren kranken Vater pflegte, tat sie es mit einer Hingabe, als wäre das ihr Lebenssinn, sosehr ihr immer wieder der Gesichtsschmerz dazwischenfuhr, als wollte er ihre Sanftmut mit Grimassen Lügen strafen. Eine Liebe, die nach Bett roch, roch auch nach Krankenbett. Das peinlichere Labyrinth lag über Tage, war überirdisch, womöglich himmlisch. Stürbe Julie auch, wann immer, ausbleiben konnte es ja nicht, dann würde er im Jenseits mit zwei Frauen leben. Lebenssinn, der die allmorgendliche Lebensangst verscheuchte, das Morgen-Grauen überwinden half, zog er nur aus dem Dichten. Er brauchte, um anzufangen, die seltsamsten Konzentrationsübungen. Aber nur wenn er schrieb, gab es in dieser Welt noch Sinn. Schreibend fand er die himmlische Ruhe in sich selbst, die Ruhe, die alles vollendete. Was er schrieb, war aber schon im Ansatz Bruchstück, nichts als Blütenstaub.
Fast täglich besuchte er seit Monaten das Haus seines Lehrers, des Berghauptmanns Johann Friedrich von Charpentier. Die Tochter des Hauses, die zweiundzwanzigjährige Blondine, war ihm wie ein schleichendes Gift ins übertemperierte Blut gedrungen. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er, der Bräutigam einer Toten, nur wie ein Fremdling kommen konnte und als ein Fremdling bleiben musste. Aber unversehens fand er Julchen nicht nur im Salon, sondern auch überall in sich, Ahnungen duftigen Fleisches, Anwandlungen unwiderstehlicher Wollust ausstreuend – doch dann der Traum, das Ding da, schmerzlos abgetrennt und wie ein Pilz. Da hatte er den eigenen Tod gesehen, den ersehnten, schrecklich nahe. Er konnte Julie nicht mit einer Toten untreu werden, und er würde Sophie mit Julie gar nicht betrügen können. Die Liebe selbst war eine Gegenwelt geworden, ihre Erfüllung nur jenseits des Todes noch erreichbar.
Und doch geschah sie schon in ihm: Sophie hatte sich allmählich seiner eigenen Seele anverwandelt, unverlierbar, seine Seele und Sophie waren so verschmolzen, dass er, indem er Sophie liebte, seine eigene Seele liebte. War diese Liebe etwa nicht die Selbsterkenntnis, zu der die Griechen aufgefordert wurden, bevor sie das Orakel von Delphi befragten oder das verschleierte Bild zu Sais? Lehrlinge sind wir alle, Lehrlinge bleiben wir alle, und haben zu lernen, dass, was uns widerfährt, Freude und Kummer, Entzücken wie Entsetzen, Lust und Gram nur gleichsam ein verschleiert Bildnis ist, in dem wir, reißen wir den Schleier fort, uns selbst erblicken müssen – die einzige Art der Selbsterkenntnis. Die einzig mögliche Erkenntnis. Mit ihr muss alles, was geschieht, zu einem Märchen werden. Warum geht diese Treppe denn nicht weiter? Ich bin doch da oben, da oben noch verlobt!
Sophie ist tot. Aber die da, die hat ja nie gelebt. Vielleicht ist der Tod gar nicht dunkel? Vielleicht wird in ihm alles licht? Was ahnte Julie da in ihrem blaugeblümten Kleid von seinen blaublumigen Gedanken und Gefühlen? Ihm wurde entzückend wohl, als wohnte er schon bei Sophie in der blauen Blume.
Julie?
Sophie!

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