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Stendhal oder Ich liebe, also bin ich


Stendhal oder Ich liebe, also bin ich

Der Liebhaber - Der Seelenkenner - Der Erzähler. Ein biografischer Essay
1. Auflage

von: Volker Ebersbach, Margit Ebersbach

8,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 23.08.2022
ISBN/EAN: 9783965217430
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 704

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Wie war er, dieser Henri Beyle, der sich ab 1817 Stendhal nannte? Eine Ahnung bekommen wir in diesem ebenso umfang- wie materialreichen Essay in dem Kapitel Erste unglückliche Liebe:
Frauen haben Stendhal immer viel bedeutet, wenn nicht alles. Die Liebe behauptet in seinem ganzen Leben ihren Platz, sie ist ihm la seule affaire, nichts außer ihr scheint ihm von Belang. Eine Frau zu verehren, sie zu begehren nimmt einen großen Teil seines Wesens ein. Während der Pubertät ergreift dieses Gefühl heimlich von ihm Besitz. Er schwärmt von der Angebeteten im Stillen, schüchtern und verschwiegen. Als junger Mann geht er von der Anbetung zu stürmischer Eroberung über. Sie gelingt ihm lange nicht. „Anstatt galant zu sein“, bekennt er, „wurde ich bei den Frauen, die ich liebte, leidenschaftlich. Den anderen stand ich, ohne mich rühmen zu wollen, gleichgültig gegenüber, daher auch der geringe Erfolg, das ewige Fiasko.“ Schließlich erfährt er, dass eine gewisse männliche Schwäche am ehesten ein Frauenherz betören kann. Die große, einzige, lange währende Liebe, von der er träumt, die er ersehnt, bleibt ihm versagt.
Die Wurzeln solch einer unerfüllbaren Sehnsucht reichen weit zurück in seine Kindheit: Die Liebe zur Mutter musste er als die erste unglückliche Liebe erfahren. In seiner Erinnerung ist Henriette Gagnon eine reizende, ein wenig füllige, wunderbar frische Frau. Sie bezaubert das Kind mit ihrer flinken, heiteren Art. In dem Haushalt, dem sie vorsteht, erledigt sie, weil ihr die Dienstboten zu langsam sind, beinahe alles selbst. Sie liest Dantes „Göttliche Komödie“ im italienischen Original, sorgt für Geselligkeit im Haus Beyle, gibt gern Soupers und empfängt die vornehmsten Damen der Stadt in einem von Lichtern erstrahlenden Salon. Henri ist sieben Jahre alt, da stirbt sie im dreiunddreißigsten Lebensjahr bei der Geburt ihres vierten Kindes.
Tatsächlich fühlt sich Stendhal ein Leben lang zu schönen Frauen hingezogen, erforscht die menschlichen Seelen, wird ein großen Erzähler und - ein großer Essayist, wie sein 1822 veröffentlichtes Buch „Über die Liebe“ beweist:
Es zehrt von dem Erlebnis einer neuen Liebe und folgt ihrer wechselvollen Geschichte. Ähnlich wie das Reisebuch vereinigt es tagebuchartige Reflexionen, aphoristische Gedankensplitter und kleine pseudosystematische Traktate mit lockeren Plaudereien, deren Reiz lange auf die Entdeckung durch das Publikum warten muss.
Heute aber gilt es als eines der furiosesten und raffiniertesten Bücher über die Liebe.
EIN PAAR FRAGEN ZUVOR
1. Kapitel: VÄTER UND GEGENVÄTER
Janusköpfe
Erste unglückliche Liebe
Standbilder aus Papier
2. Kapitel: EIN PLEBEJER MIT ARISTOKRATISCHEN NEIGUNGEN
Verheißungen der Freiheit
Traumwelten
Mathematik der Gefühle
3. Kapitel: WAISE DER REVOLUTION
Leben in der falschen Zeit?
Der Rationalist und die Leidenschaften
Mars und Venus
4. Kapitel: EIN BEAMTER DES HELDENTUMS
„Le Beylisme“
Die Kunst des Möglichen
Inventur der Siege
5. Kapitel: STURZ NACH INNEN
Flucht in den Süden
Reisend schreiben – schreibend reisen
Ein gescheiterter Liebesroman
6. Kapitel: ROMANTISCHER LIBERALSMUS
Knisternde Salons
Raschelnde Journale
Menti
7. Kapitel: SEILBSTFINDUNG IM ROMAN
Eroberung des Genres
Spaziergänge in der Historie
Sprung in die Meisterschaft
8. Kapitel: AMT OHNE WÜRDE
Juligewitter
Giulia
Allen unbequem
9. Kapitel: EINSAMKEIT UND MEISTERSCHAFT
Ein Torso
Unruhiger Urlaub
Von Waterloo nach Parma
Epilog: DIE UNERMÜDLICHE FEDER, DER UNERMÜDLICHE TOD
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.
Wie ein Verjagter hat Stendhal Mailand verlassen müssen. In Paris steht er vor dem Nichts. Es ist, als wiederholte sich mit seiner Rückkehr nach Frankreich der Sturz von 1814. Seine einzige Barschaft sind 3 500 Francs, die er unterwegs nicht aufgebraucht hat. Seine große Liebe hat keine Erfüllung gefunden. Gerade die Leidenschaft, der die Erfüllung versagt bleibt, betrachtet der Liebende als die, auf die es ihm einzig ankam. Die Veröffentlichung seiner ersten Bücher hat ihm einen mäßig bekannten Namen eingebracht, aber keinerlei finanzielle Sicherheit. Mit seinen sechsunddreißig Jahren erlebt er erneut einen heillosen Tiefpunkt.
Seine Stimmung pendelt zwischen Selbstbehauptung und Niedergeschlagenheit. Er spielt wieder mit Selbstmordgedanken. Die Grundsätze seines „Egotisme“ raten ihm, es mit der Kunst des Überlebens zu versuchen. „Alles, was in dieser Welt der Mühe lohnt, ist das eigene Ich. Das Gute an dieser Auffassung ist, dass man den Rückzug aus Russland hinnimmt wie ein Glas Limonade“, hat er schon 1818 an den Freund Mareste geschrieben. Aber wenn ein Ich von allen Seiten in Frage gestellt wird, entwerten sich die Erinnerungen und Lebenserfahrungen. Der Glaube an die selbstgestellten Ziele schwindet mit dem an das eigene Können. Die Neuheiten des Tages werden schal. Der Mann, den er in Mailand aus sich gemacht hat, droht in Paris zu verkümmern. Nur die Vermutung, die Jahre der wiedererrichteten Bourbonenherrschaft könnten gezählt sein, hält ihn aufrecht. In dem autobiografischen Rückblick „Erinnerungen eines Egotisten“ von 1832 schreibt er: „1821 widerstand ich nur mit Mühe der Versuchung, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen … Mir scheint, die politische Neugier hielt mich davon zurück, Schluss zu machen.“
Im Hotel de Bruxelles bezieht er Quartier. Es fehlt ihm nicht an aufmunterndem Umgang mit Freunden. Der Baron Adolphe de Mareste und die Jugendfreunde Colomb und Crozet versuchen ihn aus seinen periodisch wiederkehrenden Depressionen zu reißen. Man trifft sich in Cafés, besonders im Café de Rouen, man unternimmt auch gemeinsam Ausflüge in die Pariser Halbwelt. Doch die so fürsorglich an ihn herangetragene Heiterkeit erreicht nur die Oberfläche seines Wesens. Wie tief seine seelische Verstimmung sitzt, zeigt eine „partie de filles“, die seine ebenfalls unverheirateten Freunde veranstalten: Bei dem vergnüglichen Abend mit käuflichen Frauen versagt er, und den Spott darüber erträgt er mit Gleichmut. Das sich lange haltende Gerücht, er sei impotent, das seinen Lauf nimmt, scheint ihm nichts auszumachen. Für die Außenwelt ebenso unzugänglich wie nach dem Russlandfeldzug, hat er sich auf sich selbst zurückgezogen. Weder Hohn noch Schmeichelei kann ihn wirklich treffen.
Auf seinen Spaziergängen in den herbstlichen Kastanienalleen von Paris, oder wenn er in den Gärten der Tuilerien seinen Erinnerungen nachhängt, begegnet ihm manchmal die königliche Kalesche mit dem alten, gichtkranken Symbol seiner Misere: Da sitzt „der dicke Louis XVIII mit den Glotzaugen“ oder „die Schlafmütze“. Der träge, beleibte und behäbige Monarch steht ihm für die allgemeine Erstarrung Frankreichs. Der König hat dem Land sowohl die Freiheit als auch die Ehre geraubt. Der Bruder des 1793 guillotinierten Ludwig XVI. hat außer seinen Gebrechen und Sorgen nur noch den Wunsch, als gekrönter Herrscher friedlich in seinem Bett zu sterben. Seine Politik kennt nur eins: Ruhe um jeden Preis. Die Minister kommen und gehen. Solange die breite Öffentlichkeit einen Minister akzeptiert, stützt ihn der König. Kommt er ins Wanken, wird er fortgeschickt. Nur einer hat unbedingt zu bleiben: der König. Damit hat sich das Gesicht der Monarchie erheblich verändert. Es ist nicht mehr der uneingeschränkte Absolutismus, der von ihr ausgeht. Das Vierteljahrhundert der Revolution und des Bonapartismus lässt sich nicht ungeschehen machen. Gerade der Wunsch, ungestört zu sterben, zwingt den von den Krankheiten des Wohllebens im Exil geplagten Dickwanst, der veränderten französischen Gesellschaft die Zugeständnisse zu machen, die sie verlangt. Aber warum ihm nicht doch noch einen Strich durch die Rechnung machen? Warum nicht, wenn man schon lebensmüde ist, mit einer Tat der unerhörten Art in den Gang der Geschichte eingreifen? Der vereinsamte Literat spielt nicht nur mit dem Gedanken, sich selbst eine Kugel in den Kopf zu schießen, sondern auch mit der kühnen Idee, den Pistolenlauf zuerst auf den verhassten Monarchen zu richten. Er missgönnt es ihm, im Bett zu sterben, während ein geistvoller Spaziergänger im besten Alter schon wieder am Ende ist: Die zweite Kugel in den eigenen Kopf – Selbstmord durch Königsmord. Oder man lässt sich hohnlächelnd abführen und legt den Hals zufrieden auf den Block der Guillotine. Sie war die letzte Geliebte so vieler Männer von 1789.
Aber nicht einmal das wäre der Mühe wert. Wer würde ihm Beifall klatschen? Der König hat es geschafft, die Finanzen ordnen zu lassen. Seine Steuerpolitik gilt allgemein als ausgewogen. Frankreichs Außenpolitik erlebt Jahre der Stabilität. Die Finanzkreise der Bourgeoisie zeigen sich ausgesöhnt. In der Wirtschaft geht es voran. Nach dem Albtraum der Kriege und Zusammenbrüche, in die Frankreich nach kurzem Glanz zuletzt getaumelt ist, will die Nation wie Ludwig XVIII. nichts als Ruhe. Die Menschen wollen Frieden und Arbeit, Aufbau und Ausgleich. Genau das garantiert ihnen dieser König, wenn man ihn nur auf seinem geliebten Thron sitzen lässt. Die Katzbalgereien zwischen rachsüchtigen Aristokraten und treuen Gefolgsleuten den großen Verbannten sind abgeflaut. Napoleons Tod am 5. Mai 1821 auf Santa Helena, der fernen Insel im Südatlantik, hat letzteren das Idol genommen. Für den Handel und die Banken hat sich mit der Verfassung von 1814 nichts Wesentliches geändert.
Nur beim Militär und im Staatsdienst bedeutet die Wiederherstellung einiger alter Adelsprivilegien noch einen Einschnitt. Der Grundsatz, jeder könne nach Fähigkeit und Leistung Karriere machen, der den Armeen Bonapartes ihre legendäre Schlagkraft verlieh, gilt nicht mehr uneingeschränkt. Manche Laufbahn ist jäh abgebrochen, manche Existenz von Grund auf zerstört worden. Die heranwachsenden neuen Generationen stoßen mit dem Leistungswillen ihrer Jugend, mit ihren Wünschen und Träumen an die veralteten Standesschranken; junge Intellektuelle ohne bedeutendes Elternhaus, Journalisten, Lehrer, Schriftsteller und andere künstlerische Begabungen, denen die förderlichen Verbindungen fehlen, sehen sich in ihrer Entfaltung durch die Privilegien anderer benachteiligt. Solche Fälle von Zurücksetzung erzeugen umso mehr Unruhe, als ein großer Teil derer, die an so begehrte Posten herankommen, ein getreues Abbild des faulen und unfähigen Monarchen bietet. Auch wenn ihre Unfähigkeit offenbar wird, bleiben sie, durch ihre Adelsfamilien geschützt, so unabsetzbar wie ihr gekrönter Exponent. Das Parlament erlebt, sooft es im Palais Bourbon tagt, immer schärfer sich zuspitzende Debatten zwischen den Liberalen – vorwiegend Gelehrte, Advokaten und Publizisten – und ultrakonservativen Royalisten, die ihrerseits über eine eifrige Journaille verfügen. Forderungen nach individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dringen trotz aller Zensurmaßnahmen über die Zeitungen an die Öffentlichkeit, und das hohe literarische Niveau mancher Artikel macht sie zum Stoff der Gespräche in vielen Salons.

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