Impressum

Waldtraut Lewin

Waterloo liegt in Belgien

Ein Reisebuch

 

ISBN 978-3-95655-822-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Andrea Grosz
 

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Kontraste, Harmonien und Regen

Caesarisches

Ein guter alter Bekannter namens Julius Caesar hat sich vor fast zweitausend Jahren hier herumgetrieben wie ich, er allerdings in weniger friedlicher Absicht. Er fängt seinen Bestseller »De bello Gallico« folgendermaßen an: »Gallien in seiner Gesamtheit ist in drei Teile geteilt, deren einen die beigefarbener bewohnen, den anderen die Aquitanier, den dritten, die sich selbst Kelten, wir aber Gallier nennen ... Von ihnen allen sind die beigefarbener die tapfersten.«

Ich muss bekennen, dass mein Wissen über mein Reiseziel sich auf eine ähnliche lapidare Mitteilung reduzieren ließ, als eines Tages das Telefon bei mir läutete und man mich fragte, ob ich nicht nach Belgien fahren wolle. Beim Hochschulwesen war durch eine kurzfristige Absage ein zweimonatiger Studienaufenthalt an einer belgischen Universität vakant, und man habe sich nun an die Schriftsteller gewandt, ob da vielleicht einer wolle? Voraussetzungen seien erstens, natürlich, perfektes Französisch und, zweitens, natürlich, ein plausibler Reisegrund. Mein Französisch war so wenig perfekt wie mein Reisegrund zunächst plausibel. Aber mit der Tollkühnheit, die man als Literat nun mal entwickeln muss, schloss ich die Augen, holte tief Luft und sagte zu.

Belgien ist bestimmt langweilig, meinten die Bekannten, und während ich mich im Schweiß meines Angesichts bemühte, mein Französisch nicht etwa zu perfektionieren, sondern bloß auf einen passablen Stand zu bringen, war ich oft drauf und dran, die Meinung anderer Freunde zu teilen, die da lautete: Du musst doch verrückt sein ... Was willst du denn da ...? Nachher sagte ich einfach, ich wolle rauskriegen, ob die Belgier wirklich die Tapfersten sind. Darüber konnte man zumindest lachen.

Um es vorwegzunehmen: Mit meinem Französisch kam ich gerade so durch. Und langweilig war’s nicht, schon deshalb nicht, weil es so ganz anders wurde, als ich erwartete.

Irgendwann sitze ich dann tatsächlich im Zug und fahre los. Dabei finde ich mich zunächst mal mindestens so tapfer wie Caesar seine »Belgae«. Zwei Monate sind nämlich eine ganz schön lange Zeit. Und es fängt nicht sehr verheißungsvoll an.

Am Stadtrand die Reichen, drinnen ich

Der »Stadtführer Brüssel« gibt die Zusammensetzung der Bevölkerung so an: 1 008 715 Einwohner, davon 234 275 Ausländer. Stand 1981. Es sind Türken, Perser, Algerier, aber auch sehr viele Afrikaner, hauptsächlich Kongolesen, die hier wohnen, kinderreiche Familien durchweg, Menschen, die auf eine billige Wohnung angewiesen sind.

»Größte Pension Brüssels« nennt sich mein Quartier - ich weiß nicht, wann die Wirtin die Reklamekarte hat drucken lassen, vielleicht vor dem ersten Weltkrieg. Das Haus ist würdig, schlampig, schlecht beleuchtet und schlecht geheizt. An drei Tagen der Woche übt eine Amateurband von abends bis mitternachts. Man tut gut daran, während dieser Zeit außer Haus zu sein.

Rundum Schmutz und Verfall. Mülltonnen, deren offenbar die Abfuhr nur begrenzt Herr wird, Hundedreck auf den Trottoirs - man geht am besten nur gesenkten Hauptes, falls man drum rumkommen will.

Einige Häuser stehen schon auf Abriss; in fast allen noch bewohnten werden Wohnungen zu Kauf oder Miete angeboten. Die alte Population verlässt diese Gegenden, falls sie was auf sich hält, und zieht davon in Richtung Stadtrand. Hier hausen nur noch Leute am Rand des Existenzminimums. Und eben Ausländer.

Fest in ihren Traditionen verhaftet vor allem die orientalischen Frauen, eingewickelt in ihre Kopftücher, verhüllt von weiten Hosen und langen Kaftanen. Aber auch ältere Männer in Burnus und Pantoffeln sind keine Seltenheit.

Die ersten Sonnenstrahlen locken sie heraus vor die Türen oder versammeln sie auf den winzigen Plätzen in den kleinen Parks, wie sie es von zu Hause her gewohnt sind. Die Kinder spielen wilde Spiele mit leeren Konservendosen und unterhalten sich in babylonischem Sprachgewirr, die Mütter sitzen auf den Bänken und haben ein Auge drauf, und es bilden sich auch gleich die für den Süden so typischen »Palavergruppen« von Männern, wo man wild gestikulierend beieinandersteht.

Sie haben ihre Heiterkeit, ihren Lebenswillen nicht verloren, und ich bewundere sie. Wenn mir schon trübe zumut ist in diesem regnerischen Land, wie erst ihnen, die aus Gegenden kommen, wo es warm ist und die Menschen herzlicher und temperamentvoller sind. Welch ein Mut der Verzweiflung und welch vitaler Elan müssen vonnöten sein, sich in dieses europäische Abenteuer zu stürzen, für ein besseres Leben, das man sich und den Seinen verschaffen will, und welche Zähigkeit, es auszuhalten!

Depressionen sind etwas für Leute, die es sich leisten können, nicht für sie. Auf eine neue Art sind sie Pioniere, Leute, die ausziehen in eine Fremde, um alles zu wagen, die sehenden Auges in ein Land ziehen, das von Anfang an versuchen wird, sie zu erschlagen und zu erdrücken mit seiner technischen Überlegenheit, seiner Sprache, seiner andersartigen Kultur und seinem Lebensverständnis. In Belgien gibt es einige gute Voraussetzungen dafür, dass die schwarzen Augen und die dunklen Haare im Lauf der Zeit eingemeindet werden und Bestandteil der Städte, in denen sie jetzt noch Fremdkörper sind. Zum Beispiel ist Rassendiskriminierung dort unbekannt. Sicher schimpft dieser und jener des Landes verwiesene Kolonialist über die im Kongo, die nun alles allein machen wollen, aber das hat seine spezielle merkantile Nuance. Es würde niemandem einfallen, sich in der Straßenbahn oder im Restaurant nicht neben einen Afrikaner zu setzen, und »gemischte« Pärchen werden als Selbstverständlichkeit angesehen. Die Wirren in der Historie haben die Belgier tolerant und weltoffen gemacht.

Wer einen Atlas zur Hand hat, sollte die Karte von Belgien betrachten. Da liegt dieses Land, eingequetscht zwischen Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, gleichsam mit eingezogenen Schultern. Halb grün, halb mäßig braun sind die Farben auf der Landkarte, und Stadt liegt an Stadt gedrängt, man wusste kaum, wie man die Namen alle hinschreiben sollte. Die Größe? Nun, man kann an einem Tag bequem hin und zurück durchs ganze Land reisen und ist zum Abendessen wieder in seiner Pension in Brüssel. Und organisch wirkt es auch nicht gerade, wie die Grenze verläuft. Willkür scheint im Spiel gewesen zu sein, mehr als einmal.

Solche Gegenden sind nämlich begehrt. Durchgangszimmer der Weltgeschichte, Kreuzwege hoch entwickelter und reicher Kultur haben ihre Chance zur Eigenentwicklung, aber sie sind auch immer in Gefahr, von den Nachbarn verschluckt zu werden.

Das Land zwischen Meuse und Ijser war klein, aber wichtig. Die belgischen Provinzen spielten ihre Vermittlerrolle; nicht nur zwischen Frankreich, dem Niederrhein, Deutschland und England war hier der materielle und geistige Umschlagplatz, sondern seit den Kreuzzügen zwischen Orient und Okzident, zwischen Asien und Europa. Der Rolle dieser Gebiete seit dem frühen Mittelalter ist nur die Italiens zu vergleichen, und nur die italienische Frührenaissance ist der Blüte von Malerei und Musik hier oben adäquat, die sich zur selben Zeit entfaltete.

Und heute? Auch heute erinnert nicht nur das dichte Eisenbahnnetz, erinnern nicht nur die vielen Straßen daran, dass man hier einzog und durchzog von allen vier Ecken der Welt.

Die dunklen Gesichter

Vertragsgemäß gewährt die »Größte Pension Brüssels« nur preiswertes Quartier für die ersten zehn Tage, dann muss man sich etwas anderes suchen. Möglichst billig - denn die Preise sind zwar zehn Jahre lang nach oben geklettert, das Stipendium, das einem das Land gewährt, aber nicht - und doch so, dass man dort arbeiten kann. So etwas ist fast wie die Quadratur des Kreises.

Auf der Suche nach einer solchen Unterkunft durchstreife ich Brüssel kreuz und quer, der Angebotsliste verschiedenster karitativer Einrichtungen folgend. Pensionen, die halbe Klöster sind, und Internate, die gerade den Maler haben und den Gast gleich zur Renovierung seines Zimmers verpflichten wollen, kommen einem da unter. Ein Freund und Mitreisender findet dann auch Quartier in einem veritablen Kloster: Die Redemptoristen vermieten billige Zimmer mit Kochgelegenheit, Blick aufs nahe gelegene Kirchengemäuer. Die höflichen Patres lassen Besuche zu und gestatten mir auch die Besichtigung der angebotenen Räume, aber auf die Frage, ob ich auch da wohnen könne, verneint man höflich und mit unverhohlenem Grinsen.

Mein erwähltes Zweimonatsheim hat dann allerdings auch einiges von einem Kloster. Es ist ein reines »Mädchenpensionat«, Herrenbesuch kommt nicht über den Besuchsraum im Parterre hinaus, nicht mal zum Koffertragen, und um Mitternacht wird erbarmungslos abgeschlossen, wer dann nicht drin ist, bleibt draußen. Ansonsten aber das vergnügteste (und lauteste) Haus, das man sich denken kann. Die Verwaltung liegt in kirchlichen Händen, die Mission hat da ihre Finger drin, denn hauptsächlich für in Brüssel studierende junge Frauen aus Entwicklungsländern wurde diese Pension eingerichtet.

Mein Zimmerchen, sonnig, mit Blick auf einen sich allmählich begrünenden Spielplatz mitten in Saint Gilles, ist bedeutend kleiner als die »Mönchszellen« bei den Redemptoristen. Zwischen Bett und Schrank kann man sich mit Mühe um die eigene Achse drehen. Aber ein Schreibtisch ist drin. So hauchdünn sind die Wände, dass ich nicht nur meine Nachbarin, sondern auch die unter und über mir gähnen und niesen hören kann.

Neben dem auf dem Flur installierten gemeinsamen Waschbecken entdecke ich ein sehr langes, sehr krauses, sehr schwarzes Haar und bin gespannt auf meine Zimmernachbarin. Als wir uns dann aber beide unvermutet auf dem Gang begegnen, aus den Zimmern tretend, erschrecke ich fast, so groß und so kohlpechrabenschwarz ist sie: Beatrice aus dem Kongo, schlanke Zweimeterfrau, gekrönt von gewaltiger Haarmähne. Zur Begrüßung drückt sie mich gleich an ihr kaum verhülltes Herz; sie will gerade duschen gehn.

Das Fehlen von Männern bewirkt in diesem Haus eine paradiesische Sorglosigkeit des Aufzugs: Mit nichts als einem Handtuch über der Schulter geht man ins Souterrain zu den Bädern, in Dessous und Morgenrock erscheint man beim Frühstück, mit nacktem Oberkörper, das Haar auf Wickeln, erledigt man in der Waschküche singend seine Waschmaschine voll Höschen und BHs. Ständig wird irgendwo gewaschen, gebügelt, gekocht (auch das darf man in einer großen schönen Küche), ständig ruft man sich was zu über die Etagen, lässt den Rekorder heiß laufen, singt und tanzt bei jeder Gelegenheit, und dazwischen tönt der Lautsprecher der Aufsichtshabenden durchs ganze Haus, der jemanden ans Telefon ruft oder einen Besuch ankündigt.

Für Liebhaber sanfter Stille und beschaulicher Kontemplation ist das Haus also nichts, und zum Arbeiten bevorzuge ich dann eine Bibliothek, nachdem sich herausgestellt hat, dass auch die Vormittage ihre Tücken haben: Zwar sind die meisten aus dem Haus, aber eine ehrgeizige junge Japanerin übt mit Vorliebe Geige, oder Fatme, die schöne alte Türkin, die das Haus sauber hält, macht sich im Gang zu schaffen, und da sie sich unbeobachtet fühlt, singt sie hingebungsvoll mit ihrer tiefen Stimme die melancholischen, halbtonschrittreichen Lieder ihrer Heimat. Wenn man sie überrascht, hört sie sofort auf, lächelt schuldbewusst, zieht ihr Kopftuch fester und tappt auf ihren Gummischuhen in einen anderen Teil des weitverzweigten Gangs. Aber ich hör sie gern und halte mich zurück, wenn’s geht.

Am Frühstückstisch lernt man sie dann nach und nach alle kennen, die schwarzen, braunen und olivenfarbenen Mädchen, die hier beisammen sind. Außer mir gibt es nur noch eine blasse kleine Engländerin und ein robustes Kind aus Belgien, innig befreundet mit einer schönen Inderin, die wir durch europäische Herkunft »auffallen«. Das Frühstück ist im Pensionspreis inbegriffen: Kaffee, Tee und Milch, verschiedene Brotsorten, Butter, Marmelade und Käse, und man langt schamlos zu. Die meisten Frauen machen sich noch in aller Seelenruhe so ihre zwei, drei Klappstullen, die sie für den Tag mitnehmen. Hinterher spült man sein Geschirr ab und stellt es für die nächste wieder auf den Tisch zurück.

Einige sind nur für ein paar Tage hier im Haus, aber es gibt auch Stammgäste: mehrere Japanerinnen, darunter die angehende Violinvirtuosin, die Inderin mit ihrer belgischen Freundin und ein paar imponierende afrikanische Frauen. Eine davon, eine große, üppige Frau in herrlichen Batikgewändern, das geschlungene Kopftuch ums Haar, dicke goldne Ohrringe, wird von den anderen halb ehrfurchtsvoll, halb scherzhaft »die Fürstin« genannt. Sie ist eine Häuptlingstochter aus Mali, die hier Volkswirtschaft studiert. Ihre ausdrucksvollen Augen streifen mit unverhohlener Verachtung über mich weg, wenn ich mit meinem holprigen Französisch komme. Sie selbst spricht mit geschmeidiger Perfektion, ihre Stimme ist so tief wie die eines Mannes. »Ich kann alles lernen, alles begreifen«, sagt sie lässig. »Eine Sprache, pah! Was ist das schon. Mein Großvater, der lernt nichts mehr. Wenn ich nach Hause komme, werde ich die Regierung übernehmen.« Ihre ruhigen, beiläufigen Reden sind voll Sicherheit, fern jeder Prahlerei. Nicht nur ich bewundere sie. Solange sie da ist, tut man, was sie will.

Meine Nachbarin Beatrice ist da anders. Sie erzählt mir alles, von ihren sportlichen Erfolgen (natürlich spielt sie Basketball, bei der Länge!), von ihren Studien und ihren Amouren. Als sie nach einem Monat auszieht, um in London weiterzustudieren, liegen wir uns beim Abschied schluchzend in den Armen, und morgens zehn vor sieben wache ich unwillkürlich auf und erwarte, das Knarren ihres Betts von nebenan zu hören, wenn sie aufsteht, und das Wassergeplätscher vom Waschbecken und den Duft der Instantsuppe wahrzunehmen, die sie sich immer vorm Frühstück mit dem Tauchsieder auf ihrem Zimmer brüht, und, wenn ich leise an die Wand klopfte, ihre stereotype Frage: »Für dich auch ein Tässchen Bouillon, Truda?«, die ich immer verneine.

Man fühlt sich sehr jung in diesem Haus mit den jungen Frauen, und wenn man sich erst daran gewöhnt hat, dass man hier nicht arbeiten kann und schlafen muss, wenn es gerade nicht laut ist, und nicht, wenn man es gewohnt ist, lebt es sich hier vergnügt. Bereits am zweiten Tag nach meinem Einzug mache ich diesbezügliche Erfahrungen. Aus dem ersten Schlummer reißt mich ein so ohrenbetäubender Lärm, dass ich zuerst schlaftrunken denke, mein Bett sei in einen Tanzsaal verpflanzt worden. Ich habe das Gefühl, die Quelle des Krachs müsse unmittelbar neben mir sein.

Wie sich herausstellt, befindet sie sich aber im Aufenthaltsraum zwei Etagen unter mir, wo man einen Geburtstag feiert. Ein Band läuft auf voller Lautstärke und produziert eine Mischung von Pop-Musik und afrikanischer Folklore, wie ich sie noch niemals gehört habe. Dazu wird gesungen, mit stampfenden Füßen getanzt, in die Hände geklatscht, gelacht, gejauchzt. Nachdem ich es noch eine halbe Stunde vergeblich mit Ohropax versucht habe, ziehe ich mich an und gehe mitfeiern - das einzig mögliche, was auch mit der größten Selbstverständlichkeit aufgenommen wird. Ich werde genötigt, irgendwelche unglaublich scharfen Sachen zu essen und dazu eine dünne Bowle zu trinken, und dann gucke ich mir an, wie getanzt wird, denn da kann ich nicht mithalten.

Ein paar Minuten nach Mitternacht erscheint  Marie-Thérèse, die kleine, resolute Herbergsmutter, und gibt damit indirekt das Zeichen zum Schluss. Sie trinkt selbst noch ein Gläschen Saftbowle, verschluckt sich an einem Fleischspieß mit Chili, singt ein Lied mit, und dann räumen alle unter Gesang und Gelächter auf. Die Bacchantinnen verwandeln sich in brave, christlich angehauchte Studentinnen zurück und gehen diszipliniert zu Bett.

Sie haben erstaunlich wenig Probleme mit dieser kalten nördlichen Welt. Gewohnt an Kontraste und heimisch im Nebeneinander der Kulturen, ihrer alten und der neuen, mit der sie sich auseinandersetzen müssen, verkraften sie vieles. Als man mich beim ersten Frühstück ausfragt, woher ich komme, nenne ich Berlin, und die Hausdame  Marie-Thérèse interpretiert gleich: »Natürlich Westberlin, das andere ist ja hinterm Eisernen Vorhang.« Als ich protestiere und erkläre, mustern sie mich erstaunt, lächelnd, aber kein bisschen befremdet, und die malinesische Fürstentochter sagt in ihrer herablassenden Grandezza: »Eiserner Vorhang,  Marie-Thérèse! Was hast du für Unsinn im Kopf! Außerdem, mir sind die Kommunisten sympathisch.« Damit ist diese Frage ein für alle Mal geklärt.

Viel weniger als mit den politischen Fragen kommen sie mit den klimatischen zurecht. Überall in Küche, Aufenthaltsräumen und auf den Fluren hängen Hinweise, wie man sich ernähren soll («Das veränderte Klima fordert deinem Körper viel ab, darum denke daran, dich ausreichend und entsprechend zu verköstigen«), wann man wo was einkauft (Beatrice sagt mir, bei ihnen gäbe es so was wie Ladenschluss überhaupt nicht, wer etwas wolle, gehe hin und klopfe am Laden, nur die Höflichkeit erfordere, dass man vor Sonnenuntergang alles beisammenhabe und den Shopkeeper nicht belästige) und wie man sich anziehen soll. Besonders letzteres ist schwer. Ein paarmal halte ich Beatrice davon ab, bei Temperaturen von maximal sieben Grad barfuß in Sandalen aus dem Haus zu gehen. Andererseits trennt sie sich vom Wollsweater ihrer Sportgemeinschaft auch nicht, als uns die Frühlingssonne fast sommerliche Temperaturen beschert. Ich hoffe sehr, sie hat in London jemanden gefunden, der ihr sagt, was sie wann anziehen muss.

Meine schönen Frauenzimmer aus der Pension fliegen meist am Freitagabend aus, zu ihren Landsleuten, Bekannten und vor allem zu ihren Freunden, und kehren erst am Sonntagabend zurück, müde, glücklich und ein bisschen derangiert. Nur die ehrgeizige kleine Japanerin übt auch am Wochenende Geige. Das einzige, was sie sich gestattet, ist, Sonnabend und Sonntag erst um acht Uhr aufzustehen, sodass ich, notorische Frühaufsteherin, dann fast immer in einem stillen, leeren Speisesaal allein frühstücke, in die Zeitungen vom Vortag sehe und auf einmal bemerke, wie schäbig die Tapeten und wie abgewetzt die Möbel sind. Das fällt alles gar nicht ins Gewicht, wenn die Mädchen da sind.

Immerhin enträtsele ich an solchem Wochenende das Geheimnis des »Glockenspiels von Saint Gilles«, das man zu bestimmten Stunden des Tages mal näher, mal ferner hören kann. Die lieblich-durchdringende Folkloreweise ist das Signal des mobilen Eisverkäufers, der mit seinem Caravan die Straßenzüge des Viertels abfährt, damit die Leute sich ihre Portion Vanille oder Erdbeer gleich vorm Haus kaufen können, auch am Sonnabend oder Sonntag.

Da unterbricht sogar die angehende Virtuosin ihre Exerzitien, klapp-klapp, kommt sie auf hochhackigen Pantöffelchen die Treppen herunter, läuft zum Wagen auf der Straße und holt sich eine große Eiswaffel. Als sie mich am Fenster sieht, winkt sie mir zu und bedeutet mir pantomimisch, ich solle doch auch herunterkommen und kaufen, es schmecke sehr gut. Aber ich winke ab. Das belgische Wetter hat bewirkt, dass mir die meiste Zeit der Hals wehtut, und da ist es vielleicht mit dem Eis doch nicht das Richtige.

 

Über einen Freund Beatrices lerne ich Ahmed kennen, einen jungen Medizinstudenten aus Pakistan, der sich einsam fühlt und von Zeit zu Zeit mit jemandem englisch sprechen muss, denn seine Kenntnisse in Französisch sind noch sehr gering. Er macht erst einen Intensivkurs zum Erlernen der Sprache, bevor er mit den eigentlichen Fachstudien beginnt.

Ahmed ist der schönste Mensch, den ich kenne. Wenn er einen mit seinen weißen Zähnen im dunklen Gesicht anlacht und dabei seine blau schimmernde Haarmähne zurückwirft, wird der trübste Tag hell und sogar sein entsetzlich ärmliches Studentenzimmer erträglich.

Die Preise der Einzelzimmer für Studenten aus Entwicklungsländern sind schamlos überhöht, und man vermietet sie ohne jeden Komfort, spekulierend auf die Unkenntnis der asiatischen oder afrikanischen Mieter, was europäische Lebensweise angeht. Für ein Sündengeld wohnt Ahmed in einer fensterlosen Kammer, die er sich notdürftig mit einer Kochplatte erwärmt, das Waschbecken ist ein altväterlicher gusseiserner Ausguss, neben Schrank, Tisch und Stuhl liegen ein paar nackte, schmuddlige Matratzen als Bett an der Erde. Es ist wie eine Gefängniszelle. Ich hetze ihn auf: er solle sich ein besseres Quartier suchen oder dem Vermieter die studentische Preisprüfung (so was gibt’s da) auf den Hals schicken. Aber er winkt ab. Seine Kumpels würden alle nicht besser und genauso teuer wohnen.

Ahmed ist ein Bauernsohn, seine Familie kinderreich. Irgendeine wohltätige Stiftung hat ihm das Studium ermöglicht. Er fühlt sich unwohl in dem fremden Land, verlassen, aber er will die Chance nutzen. Wenn er als Arzt zurückkommt, haben er und seine Familie ausgesorgt. »Erzähl mir, wie ist es in deinem Land? Würde ich ein Stipendium bekommen, wenn ich dort studieren würde?«, fragt er mich.

Manchmal nimmt er mich mit zu seinen Freunden, die fast alle europäische Freundinnen haben. Wir trinken Tee und tanzen, und ich komme mir wie ein seltsamer Vogel vor unter diesen vielen Jungen, die mich so selbstverständlich als »Ahmed’s Girl« akzeptieren, obgleich ich seine Mutter sein könnte. Wärme und Freundlichkeit fand ich bei ihnen.

Moncafé

So heißt mein Café in der riesigen, glasüberdachten Saint-Hubertus-Passage, wo man auch bei Regen draußen sitzen kann oder drin in zwei Abteilungen, um entweder aus dem Fenster in die Passage zu schauen oder von der Galerie auf die, die aus dem Fenster auf die Passage schauen, wo der Kaffee nur dreißig Franc kostet und das Weißbrot mit Käse auch, und wo man den Kuchen mit Messer und Gabel isst.

Die kleine, freundliche und dunkel getäfelte Gaststätte ist offenbar eine Goldgrube und in belgisch-italienischem Familienbesitz. Die italienische Art der Geschäftsführung hat sich gleich ausgebreitet. Alle arbeiten mit. Sie steht hinterm Tresen, ihr Vater leitet die kleine Küche (es gibt nur ein begrenztes Speisenangebot), Schwester und Bruder arbeiten ebenfalls im Hintergrund. Der dunkellockige Ehemann und sein ebenfalls angenehm aussehender Bruder servieren mit Schnelligkeit, Eleganz und höflichem Charme.

Mir hat es besonders der Mann der Chefin angetan. Ich setzte mich immer in seinen Tischbereich, und er weiß bereits, dass ich den Kaffee mit zwei Stück Zucker trinke. Diensteifrig klärt er mich auf über die Veranstaltungen des Marionettentheaters, dessen Plakate sein Café schmücken, und Madame hinterm Tresen macht schon einen langen Hals - aber Gnädigste, ich bin doch bloß Kundschaft, zu der man höflich ist!

Von allen Spielarten belgischen Seins sagt mir diese am meisten zu: die hierorts so ohne Aggressionen und Verkrampfungen getätigte Symbiose von Alteingesessenen und Neuankömmlingen, von Blond und Dunkel, und ich freue mich immer wieder, wie gern sich die Leute von hier belehren lassen über andere Lebensformen, ohne sich von den ihren zu trennen. In der Toleranz des gemeinsamen Weges hat dies Land eine Chance für alle.