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Rudi Czerwenka

Abschied von Rostock

 

ISBN 978-3-95655-793-4 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-792-7 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: privat

 

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Abschied

Alles, was bei einem solchen Umzug zu erledigen ist, war getan. Die Kündigung des alten und der Abschluss des neuen Mietvertrages waren erfolgt, mit allem dazu erforderlichen behördlichen Drum und Dran. Der Schwiegersohn hatte einen Kleintransporter organisiert und die Teile des künftig verwendbaren Mobiliars zu Emils neuer Wohnstätte gefahren. Seine Nachmieterin saß in den Startlöchern, im Frauenhaus, hatte also nichts und freute sich über alles, was sie übernehmen durfte, Emils alte Couch, den Kleiderschrank im Flur, die komplette Küchenzeile mit all dem Kleinzeug bis hin zu den Essbestecken. Das Sozialkaufhaus hatte sogar einen Lastwagen geschickt und Wäsche und Schuhwerk und Bücher und Regale und anderes noch Verwertbare abgeholt. Nur Emil persönlich war noch übriggeblieben als Umzugsgut, hatte die letzte Nacht fast schlaflos in seiner ziemlich ausgeräumten bisherigen Wohnung verbracht und dachte an sein neues Zuhause auf dieser fernen Insel, das er nur von ein paar Fotos her kannte.

Die Kinder hatten einen weiteren Tag freigenommen, kamen mit dem eigenen Auto, schon am frühen Vormittag. Sie wollten noch ein bisschen shoppen gehen, sagte die Tochter, und würden Opa erst nach einem gemeinsamen Abschiedsessen abholen. Bis dahin hätte er Zeit, um von seiner Stadt Abschied zu nehmen, in der er mehr als dreißig Jahre Wurzeln geschlagen hatte.

Das vorherige Lebewohl nach etwa zwei Jahrzehnten von dem beschaulichen Bad Sülze war ihm nicht so schwergefallen. Mausi, seine Frau, war gestorben, die Tochter erwachsen und außer Haus, den Lehrerberuf wollte er aufgeben. Er saß allein, abgesehen von dem vielen Freunden und seinem Hund. Aber Rostock war schon damals Zentrum seiner Gedankenwelt, seines Schaffens.

Ein paar Stunden Zeit hatte er also. Seinen damals ersten Wohnsitz im Stadtteil Schmarl aufzusuchen, hielt er für überflüssig.

Erst vor wenigen Jahren hatte man ihn eingeladen, zur Präsentation der Chronik dieser fast letzten im Aufbaufieber errichteten Neubausiedlung der auflebenden Hansestadt, konzipiert für die Zuwanderer im Hafenbereich und in der Seefahrt. Nach der Vorstellung besagter Chronik war er noch ein wenig herumspaziert, auch zu seinem früheren Wohnsitz. Von den damals fünfzehn Mietparteien in seinem Wohnblock waren noch drei am Hauszugang ausgeschildert. Wie das inzwischen aussah, interessierte ihn nur wenig. Außerdem würde dieser Ausflug nach Schmarl Zeit kosten.

Seine Dauerkarte für die Nutzung von Bussen und S-Bahn hatte er schon abgegeben. Er kannte zwar einen der Kartenkontrolleure und somit auch seine Kollegen, brauchte sich nicht auszuweisen, wenn sie durch die Sitzreihen gingen, aber die Tour würde Zeit kosten.

Da lag die Südstadt, der erste nach dem Krieg und dem Bombeninferno wieder aufgebaute Stadtteil, direkt vor seiner Haustür bzw. in Sichtweite des Balkons seines Hochhauses. Hierher war er gezogen, als er Conny kennengelernt hatte, die hier lebte. Hier gab es zuerst noch keine Bahnanbindung, hier war man auf das Fahrrad angewiesen. Man konnte auf den verschneiten Feldern auf Skiern mit dem Cockerspaniel stundenlang unterwegs sein. Inzwischen hatte sich vieles geändert. Einkaufszentren sind emporgewachsen, Wohnsiedlungen entstanden, Ärzte und andere wichtigen Leute haben sich angesiedelt. Besonders der Broilerstand auf dem Hof und das von den Spatzen begehrte Café auf dem Centerhof waren oft Ziel von Emils Rundgängen gewesen. Und dann die Stadthalle, Rostocks ehemaliger Schwarzbau! Inzwischen tobt der Verkehr Richtung Autobahn, die verschneiten Wiesen existieren nicht mehr, sind mit Häusern gepflastert, Einfamilienhäuser für jene, die es sich leisten können. Aber die grünen Erholungsoasen in der Südstadt gibt es noch.

Und schließlich waren Emil und seine neue Ehefrau in der Kröpeliner Vorstadt gelandet. Von dort hat er doch noch persönlich Abschied genommen, per Straßenhahn, ohne Fahrausweis, unkontrolliert. Mit diesem Wohngebiet waren viele Erinnerungen verknüpft, nicht nur mit der alljährlichen Hanse-Sail, an der sie von der Eröffnungsveranstaltung bis zum abschließenden Feuerwerk teilgenommen hatten. Die Mietstreitigkeiten mit dem Immobilienhai aus Frankfurt waren zwar längst vergessen, aber der Verlust der Museumsschiffe im sogenannten Stadthafen wirkten nach. Die lukrativen Angebote auf dieser Flaniermeile vom Italiener bis zum Chinesen konnten diese Verluste nicht wettmachen.

Die vereinbarte Zeit war verstrichen, als Emil sich mit den Kindern zum verspäteten Essen im Marktrestaurant traf. Er hielt sich an seine Kinderportion. „Schweinchen babe mit; Pommes.“ Die Serviererin wusste Bescheid: „Aber zweimal Ketchup?“ Es schmeckte wie immer. „Bis zum nächsten Mal“, verabschiedete sie sich von ihren Gästen und wusste nicht, dass es dieses nächste Mal nicht geben würde.

Als sie schließlich das Auto bestiegen, entschied sich Emil ausnahmsweise für den Platz auf der Rückbank. Dort konnte er sich recht frei bewegen, durch die seitlichen Scheiben und durch die Heckscheibe beobachten, wo sie entlangfuhren. So bald würde er diese vertraute Gegend nicht wiedersehen.

Ade, Rostock! Guten Tag, Pommerland!

Ausnahmsweise vis-à-vis

Die Schriftsteller und ihre späteren Leser leben in verschiedenen Welten. Wenn der Autor an einem neuen literarischen Werk brütet, möchte er dies möglichst ungestört tun. Der Leser nimmt erst Kontakt zu dem Buch auf, wenn es auf dem Markt ist, wenn er es erworben und mit nach Hause geschleppt hat. Um diesen Trennungsschaden zu beheben, hat man die Buchlesungen erfunden, lange vor Gutenbergs Erfindung, vermutlich irgendwo im Orient.

Auch in der Buchstadt Rostock fanden die Lesungen zuerst unter freiem Himmel statt, in der Kröpeliner Straße, auf dem Boulevard.

Es war zu den Zeiten der frühen Ostseewochen. Leute mit Spürsinn waren ausgeschickt werden, um irgendwo im Ostland verkaufsfähige Bücher aufzutreiben und deren Autoren nach Rostock einzuladen. Die Straße wurde abgesperrt, Tische und Stühle und Sonnenschirme wurden aufgestellt. Wenn die Bücher auf den Tischen lagen und die Autoren davor auf den Stühlen saßen, ertönte der Glockenschlag von St. Marien, die Straßensperren fielen und das Volk rannte drauflos, zum „Lebensmittel Buch“.

Ein paarmal hatte Emil das miterlebt, auch die etwas bescheidenere Lesung in dem pommerschen Dörflein mit seiner ihm übertragenen einklassigen Dorfschule. Die Gemeindesekretärin hatte die Lesung organisiert. Neben ihr und Emil waren noch zwei weitere Personen anwesend. Der Bürgermeister hockte auf seinem ziemlich alten Bürostuhl und war eingeschlafen. Und ein Bauer war gekommen, Emils Nachbar, der sich täglich aus Emils Hofbrunnen mit Trinkwasser versorgen musste. Aber er blieb nur kurze Zeit, denn seine Frau holte ihn nach Hause, weil seine Privatkuh zum Kalben ansetzte.

Ähnliches erduldete Emil Jahrzehnte später bei einer Lesung in seinem neuen Seniorenheim. Bei den Anmeldeprozeduren traf er auf eine Mitarbeiterin, die mal bei einer brandenburgischen Zeitung gearbeitet hatte und den Ankömmling vom Namen her kannte. Sie überredete Emil zu jener Lesung. Es waren etwa ein Dutzend Rentner, die nach dem Mittagsmahl im Speisesaal geblieben waren und gewohnheitsmäßig zum Mittagsschläfchen ansetzten. Sie schliefen weiter, als er vorgestellt wurde, als nach einer halben Stunde die Dame des Hauses das Schluss- und Dankeswort sprach. Es war das erste und das letzte Mal, dass Emil in seiner Seniorenresidenz eine Buchlesung wagte.

Im dritten und damit letzten DDR-Jahrzehnt hatte sich Emil ohnehin mehr und mehr der Dramatik zugewandt. Das sparte nicht nur Druckpapier, auch als Autor genoss man Vorteile. Bei den Premieren hatte man nichts mehr zu tun. Man wurde eingeladen, manchmal leider auch vergessen. Andere spielten, standen auf den Bühnen, steckten allerdings auch den Beifall ein. Wegen der manchmal weiten Anreisen verzichtete Emil auch auf seine Teilnahme und ließ seinen Trabant in der Garage, schaute sich sein Stück lieber später im Fernsehen an. Bei der Aufzeichnung des Schwanks „Antons liebe Gäste“ in Zinnowitz verwehrte man ihm sogar den Zutritt, bis sein Adlershofer Dramaturg ihn erkannte und hineinschleuste. Bei einer anderen Premiere in Wismar war keine Sitzgelegenheit mehr frei. Emil kriegte einen Liegestuhl angeboten, aus der Requisite herbeigeholt.

Eines seiner plattdeutschen Stücke sollte im Kleinen Haus des Rostocker Volkstheaters aufgeführt werden. Emil wollte seine damalige Bekannte mit in die Stadt nehmen, aber die Lady brauchte viel Zeit für die Dekorierung ihres Outfits. So kamen sie reichlich spät zum Ort des Geschehens. Die Garderobe war menschenleer, bis auf die Frau, die ihnen hastig die Oberbekleidung abnahm und sie erneut zur Eile drängte. Sie stürmten in den Saal zu den letzten beiden freien Stühlen in der ersten Reihe, ohne die rechts und links davon Sitzenden zu beachten. Das Licht verlöschte, und Ruhe trat ein. Von nebenan ertönte das Gemurmel der Gattin des Generalintendanten, mit einer Frage an ihren Mann. „Na, wer soll schon zu spät kommen?“, antwortete Perten laut und deutlich. „Natürlich der Autor!“ Ein Scheinwerferstrahl erfasste Emil. Die Menschen im Saal applaudierten. Er zog sich die Krawatte zurecht, erhob sich und verbeugte sich in Richtung des Publikums. Dann konnte das Spiel beginnen.

Schließlich kam die Wende. Nicht alles, aber vieles wurde anders. Emils ehemalige Arbeitgeber waren vom Strudel der politischen Ereignisse mitgerissen worden und versunken. Die Presseorgane hatten neue Leithammel bekommen, die bestimmten, wo es künftig entlanggehen sollte. Das Adlershofer Fernsehen wurde zum Archivverwalter und zum Bildschirmmuseum. Auch das Ostseestudio packte seine Koffer. In den Theatern herrschte Windstille oder Westwind. Aber die Zeiten des Papiermangels waren vorbei. Der Buchmarkt quoll über. Nicht nur Banken und Versicherungen, Schuhgeschäfte und Bordelle machten sich in Rostock breit, auch Buchhandlungen, Buchkonzerne, Großbüchereien. Die auch vor Ort entstandenen Buchverlage hatten sehr bald ihre Heimstätten in der City, wo sie ihre Neuerscheinungen vorstellen und anbieten konnten. Emil war gezwungenermaßen von der Dramatik zur epischen Literatur zurückgewechselt.

Nach dem Ausfall seiner Tätigkeit für die Presse hatte er in dem Rostocker Almanach eine neue Heimstatt für seine Feuilletons, Glossen und Parodien gefunden. Auch seine Erzählungen aus der Nachwendeperiode erschienen in einem der neu gegründeten Rostocker Verlage. Letztere präsentierte er allerdings nicht in besagten Großbuchhandlungen, sondern in dem kleinen, zuerst von einer Schweizerin betriebenen Café am Doberaner Platz.

Hier hatte sich ein Stammpublikum etabliert, Leute aus verschiedenen Berufsgruppen, aus der Universität und aus Kirchenkreisen. Rentner und Juristen, die sich hier verabredeten, über Gott und die Welt diskutierten und ihren Kaffee tranken oder ihren Eisbecher genossen. Und wenn dann eine Buchlesung dazwischenkam, waren sie auch da, ergänzt durch die jeweiligen Literaturfans.

Diesmal, an einem hochsommerlichen Nachmittag, war Emil mit seinem neuen Buch an der Reihe. Zwanzig bis dreißig Leute füllten das Café. Emil hatte seine etwas erhöhte Sitzposition mitten im Restaurant, sein Getränk und sein Buch vor sich und eine Journalistin mit Mikrofon neben sich und schwitzte mörderisch. Den anderen ging es ebenso. Da unterbreitete einer aus der Runde den Vorschlag, nach draußen umzusiedeln, wo auch einige Tische standen, und die Veranstaltung dort fortzusetzen, unter den großen Sonnenschirmen. Man zog also um, mit dem Getränkeglas in der einen und dem Sitzpolster in der anderen Hand, trotz der vielen Kunden, die zwischen den Einkaufsquellen im Doberaner Hof und dem Friedhofsweg auf der Passage umherliefen. Und mancher blieb stehen und schaute zu, was hier ablief, und blieb schließlich vor Ort, suchte einen Sitzplatz auf der Brüstung und bestellte sein Bier. Und nach Emils Schlusswort verzichtete mancher auf den geplanten Einkauf und bezahlte lieber das von Emil signierte Buch, solange der von der Verlegerin mitgeführte Vorrat reichte.