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Jakow Lenzman

Wie das Christentum entstand

 

ISBN 978-3-95655-795-8 (E-Book)

 

Die Arbeit des verstorbenen Religionswissenschaftlers Jakow Lenzman wurde 1958 im Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegeben. Die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Hans Bentzien erschien erstmals 1973 im Verlag Neues Leben, Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Die bisherigen Forschungsergebnisse

Die Frage nach dem Ursprung des Christentums, nach den Hauptabschnitten seiner Entwicklung bis zur Verwandlung in die Staatsreligion des zerfallenden Römischen Reiches, nach den Ursachen seines Sieges über viele mit ihm konkurrierende Religionen war niemals eine rein wissenschaftlich-theoretische Frage. Die Antwort darauf ist auch für die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Ideologie in der Periode des Niedergangs der Sklavenhalterordnung maßgeblich. Doch das Wesentlichste, die aktuelle politische Bedeutung dieser Frage besteht darin, dass ihre wissenschaftliche Beantwortung die wichtigste Grundlage der kirchlichen Ideologie untergräbt, indem sie den Mythos über die göttliche Herkunft des Christentums entlarvt und die materiellen Wurzeln des Entstehens und des Sieges der einflussreichsten unter den drei sogenannten Weltreligionen bloßlegt.

Die wissenschaftliche Untersuchung über den Ursprung des Christentums zeigt, dass es, wie jede andere Religion, unter bestimmten Bedingungen gesetzmäßig entstehen musste. Sie beweist weiter, dass es seinen Sieg über andere Religionen durchaus nicht irgendwelchen „höheren“ Prinzipien oder moralischen Qualitäten verdankt. Den Sieg des Christentums bewirkten eine Reihe von Umständen, unter denen die Abkehr der Kirche von der rebellischen Ideologie der frühchristlichen Gemeinden und die Aussöhnung der Kirchenführung mit den herrschenden Kreisen des Römischen Reiches durchaus nicht die geringste Rolle spielten. Schließlich zeigt die Erforschung der überlieferten Quellen aus der ältesten Geschichte des Christentums, dass die traditionelle Beschreibung des Lebens Jesu trotz der mehrfachen peinlich genauen Redaktion und Umarbeitung der Evangelien durch Diener der Kirche voller innerer Widersprüche steckt. Der Vergleich der Evangelienerzählung mit anderen frühchristlichen Quellen beweist, dass sie, historisch betrachtet, absolut haltlos ist.

Weil die wissenschaftliche Untersuchung dieses Problems das orthodoxe Dogma zerstört und den Dienern der Kirche die wichtigste Waffe ihrer Propaganda aus den Händen nimmt, erfolgte das Studium des frühen Christentums stets in einem scharfen politischen Kampf. Bereits das Prinzip des wissenschaftlichen Herangehens an die frühchristlichen Denkmäler sowie an die historischen Quellen und die bloße Anwendung wissenschaftlich anerkannter Untersuchungsmethoden auf sie stieß immer auf den heftigen Widerstand der Kirche, die selbstverständlich als ihren Gegenstand nicht die Forschung betrachtet, sondern den Glauben - die „Heilige Schrift“, in der jeder Buchstabe eine Offenbarung bedeutet. Noch im Jahre 1955 erklärte Papst Pius XII. (1876-1958), für die Katholiken sei die Frage nach der Existenz Jesu keine Angelegenheit der Wissenschaft, sondern des Glaubens.

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, solange die klerikale Weltanschauung ungeteilt herrschte, wurde die Entstehung des Christentums überhaupt nicht wissenschaftlich untersucht. Nicht nur die Vertreter der Kirche, sondern in der Regel auch ihre Gegner zweifelten nicht an der Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments. Sogar die revolutionären Volksbewegungen, die sich gegen die Macht der katholischen Kirche wandten, verliefen gewöhnlich unter den Losungen der Rückkehr zum evangelischen Christentum. So war es zur Zeit der großen Bauernaufstände in England (Aufstand unter der Führung von Wat Tyler 1381), in Böhmen (Hussitenbewegung 1419-1437), in Deutschland (Großer Deutscher Bauernkrieg 1524-1525/26) und während der Englischen Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts.

Erst am Ende des 17. Jahrhunderts und besonders im 18. Jahrhundert - im „Jahrhundert der Aufklärung“ - entwickelte sich eine neue, kritische Haltung zu den Denkmälern der frühchristlichen Literatur, besonders zu den Evangelien. Einer der Initiatoren des rationalistischen Herangehens an die Evangelientradition war der deutsche Gelehrte Hermann Samuel Reimarus (1694-1768). Er lehnte die evangelischen Wunder ab, hielt Jesus nicht für einen Gott, sondern für einen jüdischen Propheten, und bewies, dass die Jünger Jesu seinen Leichnam stahlen und die Geschichte von seiner Auferstehung erfanden. Reimarus, gefährdet durch die Verfolgungen der Kirche, fürchtete sich, seine Arbeit zu veröffentlichen, sodass sie erst nach seinem Tod von Gotthold Ephraim Lessing herausgegeben wurde. Auch die englischen Materialisten und Deisten (Die Gesetzmäßigkeit zu Deisten erkannten zwar einen Gott (lat. = deus) als Weltschöpfer an, sprachen ihm aber jede Einwirkung auf die Entwicklung der Welt ab und suchten diese wissenschaftlich aus der ihr eigenen erklären.) des 17. und des beginnenden Jahrhunderts übten Kritik an dem kirchlichen Dogma.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Bourgeoisie gegen den Feudalismus auftrat, schreckten eine Reihe anderer bürgerlicher Ideologen, vor allem Voltaire (1694 bis 1778) und der Kreis um Holbach (1723-1789) und Diderot (1713-1784), in ihrem Kampf gegen die Leibeigenschaft nicht vor der scharfen Kritik am kirchlichen Dunkelmännertum, dieser wichtigsten ideologischen Stütze der Feudalordnung, zurück. Die französischen Aufklärer klagten die Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit der katholischen Kirche leidenschaftlich an und riefen dazu auf, die Natter zu zertreten, wie Voltaire die katholische Kirche nannte. Sie wiesen auf eine Vielzahl von Widersprüchen in den Evangelien hin. Voltaire bemerkte richtig die Nähe der Ansichten und sogar der Terminologie im Evangelium nach Johannes und in den Werken des jüdisch-hellenistischen Philosophen Philon (um 25 v. u. Z. - 50 u. Z.), der im ägyptischen Alexandria lebte.

Der allgemeine Fortschritt, der in der Methodik der wissenschaftlichen Analyse historischer Quellen am Anfang des Jahrhunderts erzielt wurde, wirkte sich auch auf das Studium der Entstehung des Christentums aus. Die kritische Untersuchung der wichtigsten Denkmäler aus der frühesten Periode der griechischen Geschichte, so der Epen Homers, brachte eine Reihe innerer Widersprüche und Überlagerungen zutage, die aus verschiedenen Perioden stammen und manchmal voneinander durch ganze Jahrhunderte getrennt sind. Ähnliche Schlussfolgerungen wurden auch bei der Erforschung der Quellen zur ältesten Geschichte Roms gezogen.

Die Anwendung der neuen Methoden historischer Forschung auf die evangelische Literatur bewies sofort die absolute Haltlosigkeit des traditionellen kirchlichen Dogmas. Die ersten Schritte bei der systematischen Kritik an den Werken des Neuen Testaments wurden im ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts unternommen. Die Initiative dazu ergriff Ferdinand Christian Baur (1792-1860), Professor der Theologie an der Tübinger Universität. Als überzeugter Hegelianer versuchte Baur die dialektische Methode Hegels auf die Erforschung der frühchristlichen Literatur anzuwenden. Er und seine Anhänger, die sogenannte Tübinger Schule, machten darauf aufmerksam, dass im Neuen Testament zwei Tendenzen vorhanden sind, die sich feindlich zueinander verhalten. Die eine ist bedingt durch die jüdischen Wurzeln des Christentums und wird den Aposteln, den unmittelbaren Jüngern Jesu, vor allem Petrus, zugeschrieben. Die andere strebte nach dem Bruch mit dem Judentum und verband sich im Neuen Testament mit dem Namen des Apostels Paulus (Paulinismus). Nach Auffassung der Tübinger stellen die Evangelien die Synthese aus diesen beiden Gegensätzen dar und gehören zu den späteren Teilen des Neuen Testaments. Im Zusammenhang damit leisteten die Anhänger Baurs eine große Arbeit bei der Datierung der verschiedenen Werke des Neuen Testaments. Das Verdienst der Tübinger Schule besteht darin, dass sie erstmalig die neutestamentarischen Evangelien systematisch analysierte. Sie entdeckte vielfältige Unterschiede zwischen den drei ersten, den sogenannten synoptischen (Synopsis = Vergleichende Zusammenstellung, „Zusammenschau“ textähnlicher Schriften) Evangelien, und dem Evangelium nach Johannes, stellte fest, dass das älteste das Evangelium nach Markus ist, machte auf eine Menge Widersprüche in den Evangelien aufmerksam und bewies endlich, dass der größere Teil der Briefe, die dem Apostel Paulus zugeschrieben werden, nicht vor dem 2. Jahrhundert u. Z. verfasst worden sein kann. Somit erbrachte die Arbeit der Tübinger viel Wertvolles für die wissenschaftliche Kritik an den Texten der frühchristlichen Werke, doch wegen ihrer idealistischen Weltanschauung kümmerten sie sich überhaupt nicht um die sozialökonomischen Ursachen der Entstehung des Christentums.

Nach einer Formulierung von Friedrich Engels geht die Tübinger Schule „in der kritischen Untersuchung so weit, wie eine theologische Schule gehen kann. Sie gibt zu, dass die vier Evangelien ... spätere Überarbeitungen ... sind ... Sie streicht alle Wunder und alle Widersprüche als unzulässig aus der Geschichtserzählung aus; von dem übrigen aber sucht sie ‚zu retten, was noch zu retten ist‘... Jedenfalls aber kann alles, was die Tübinger Schule im Neuen Testament als ungeschichtlich oder untergeschoben verwirft, als endgültig für die Wissenschaft beseitigt gelten.“ (Friedrich Engels, Zur Geschichte des Urchristentums, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 22, Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 455.)

Den nächsten Schritt in der wissenschaftlichen Kritik an den Evangelien tat der Theologiedozent David Friedrich Strauß (1808-1874), der die vergleichende Methode bei der Untersuchung von Äußerungen der Evangelisten über Jesus anwandte. In seinem zweibändigen Werk „Das Leben Jesu“ (1835/1836) bewies er unwiderleglich, dass offenbar all diese Mitteilungen Mythen sind, übernommen aus anderen, vorchristlichen Religionen, und dass dem Glauben an die Göttlichkeit Jesu die unter den Juden verbreitete Erwartung der Ankunft des Erlösers, des Messias (griech. = Gesalbter), zugrunde lag. In der dritten Ausgabe seines Werks nahm Strauß allerdings eine Gruppe von Legenden aus, die angeblich einem historischen Jesus zugeschrieben werden müssten. Damit machte er der kirchlichen Tradition erhebliche Zugeständnisse, wahrscheinlich weil er hoffte, einen Lehrstuhl als Professor an der Züricher Universität zu erhalten. Doch als dieser Versuch fehlschlug, nahm er die Zugeständnisse wieder zurück.

Große Verdienste um die Erforschung der frühchristlichen Literatur erwarb sich Bruno Bauer (1809-1882), Professor der Theologie an der Universität in Bonn. In den Jahren 1840 bis 1842 veröffentlichte er seine Untersuchungen „Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes“ und „Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker“, in denen er darlegte, dass die Evangelisten als Quelle über das Leben Jesu kein Vertrauen verdienen und ihre Bedeutung im Wesentlichen darin besteht, dass sie die allgemeine Situation in den frühchristlichen Gemeinden ausdrücken. In seinen weiteren Arbeiten, besonders in „Christus und die Cäsaren“ (1877), betont Bauer im Gegensatz zu Strauß nicht die jüdischen, sondern die griechisch-römischen Quellen des Christentums. Nach seiner Auffassung stellt das Christentum eine eigene Synthese der griechisch-römischen philosophischen Strömung, des Stoizismus, und eines hellenisierten Judentums dar. Diese Schlussfolgerung führte Bauer logisch zur Verneinung der historischen Existenz Jesu. Seine kritischen Untersuchungen entfesselten gegen ihn einen wahren Sturm der Diener der Kirche. Er verlor das Recht, an der Universität zu lehren, seine kritischen Schlussfolgerungen wurden totgeschwiegen, er selbst wurde lange Zeit verfolgt.

Friedrich Engels schätzte die Bedeutung der Forschungen Bruno Bauers umfassend ein. In seinem Artikel „Bruno Bauer und das Urchristentum“ schrieb er: „Die offiziellen Theologen, unter ihnen auch Renan, schrieben ihn ab und schwiegen ihn deshalb einstimmig tot. Und doch war er mehr wert als sie alle und hat mehr geleistet als sie alle in einer Frage, die auch uns Sozialisten interessiert: in der Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Christentums.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 297.)

Nach den Arbeiten der Tübinger Schule sowie von Strauß und Bauer war es sogar für einige Vertreter der katholischen und der rechtgläubigen Kirche offensichtlich unmöglich geworden, ihre früheren Positionen beizubehalten. Hierfür war die Wandlung der Ansichten des französischen Schriftstellers Joseph-Ernest Renan (1823-1892) typisch, der trotz seiner theologischen Bildung als katholischer Priester in den seinerzeit aufsehenerregenden Werken „Das Leben Jesu“, „Die Apostel“ und anderen unter dem Einfluss der oben erwähnten Lehren Jesus als Menschen, nicht als Gott darzustellen versuchte.

Das Wichtigste in den Arbeiten der genannten Gelehrten waren die unwiderleglichen Argumente dafür, dass alle vier Evangelien des Neuen Testaments nicht vor dem 2. Jahrhundert geschaffen wurden und somit zu den späteren kanonischen Werken gehören (Kanonische Bücher = Von der Kirche anerkannte und für verbindlich erklärte Schriften der Bibel). Das Aufstellen einer relativen und teilweise auch absoluten Datierung der einzelnen neutestamentarischen Briefe lieferte den Beweis, dass sie fast alle vor den Evangelien vorhanden waren. Außerdem enthält das Bild Jesu Christi in den Evangelien eine Vielzahl pseudokonkreter Einzelheiten, von denen in den früheren christlichen Werken keine Rede war. Diese Umstände führten die objektiven Forscher unvermeidlich zu dem Schluss, dass die Evangelien nicht als Dokumente dienen können, um die Existenz Jesu zu belegen.

Als ein ernster Mangel der Tübinger Schule und auch ihrer Gegner erwies sich, dass sie, da sie Idealisten waren, das Christentum nicht als eine historisch bedingte Erscheinung betrachteten, die sich unter bestimmten Umständen herausgebildet und verbreitet hatte und folglich den ideologischen Ausdruck innerer Widersprüche in der römischen Sklavenhaltergesellschaft darstellte. Für alle genannten Wissenschaftler war es die Äußerung irgendeiner absoluten Wahrheit. Die Tübinger fragten überhaupt nicht nach der sozialen Basis des frühen Christentums und seinem gesellschaftspolitischen Programm.

Die Klassiker des Marxismus, vor allem Friedrich Engels, schenkten gerade diesen Fragen große Aufmerksamkeit. Engels interessierte sich ständig für diese Probleme und beschäftigte sich in seinen Schriften damit, so in den Werken „Ludwig Feuerbach“, „Anti-Dühring“, „Die Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ und anderen. In seinem literarischen Nachlass finden sich drei Arbeiten, die speziell der Geschichte des Urchristentums gewidmet sind: ein Nachruf zum Gedenken an Bruno Bauer „Bruno Bauer und das Urchristentum“ (1882), „Das Buch der Offenbarung“ (1883) und „Zur Geschichte des Urchristentums“ (1894). In diesen Schriften gab Engels nicht nur eine Einschätzung der grundlegenden Errungenschaften in der Kritik des Neuen Testaments, sondern schuf eine neue Theorie der Entstehung des Christentums vom Standpunkt des wissenschaftlichen Materialismus.

Engels erforschte besonders die ideologischen Wurzeln und das soziale Wesen des Urchristentums. Er charakterisierte es als Religion der Sklaven und der Unterdrückten und hob hervor, dass das frühe Christentum aus einer Unzahl von Sekten bestand, die untereinander einen darwinistischen Kampf um ihre Existenz führten. (Vgl. Friedrich Engels, Bruno Bauer und das Urchristentum, a. a. O., S. 305.) Die Ideologie all dieser Sekten steckte voller Vorurteile und Aberglauben. Doch das Christentum konnte die Massen um sich vereinen und den Sieg erringen, weil es den Mühseligen und Beladenen einen, wenn auch illusorischen, Ausweg aus ihrer hoffnungslosen Armut und Verzweiflung wies. Es versprach ihn nicht für die Wirklichkeit, sondern für die jenseitige Welt. Zu den Faktoren, welche die Verbreitung des Christentums förderten, rechnete Engels das Fehlen eines Zeremoniells in der Anfangsperiode. Das Christentum hob alle ethnischen und sozialen Abgrenzungen auf und verkündete die Idee der Gleichheit, wenn es sie auch negativ verstand, das heißt als eine Gleichheit in der Ursünde und vor Gott. Schließlich betonte Engels, dass sich das Urchristentum durch Kampfeslust auszeichnete und gesunde Rache an den römischen Machthabern predigte. (Vgl. Friedrich Engels, Zur Geschichte des Urchristentums, a. a. O., S. 460 u. 465.)

Die Klassiker des Marxismus unterstrichen, dass man mit einer Religion wie dem Christentum nicht nur mit Hilfe von Spott und Angriffen fertig werden kann, sondern sie auch wissenschaftlich, das heißt mittels historischer Erklärung, überwinden muss. Die Ideen von Marx und Engels wurden danach in vielen Arbeiten marxistischer Historiker entwickelt und konkretisiert, vor allem von sowjetischen Wissenschaftlern.

Ein wichtiger Schritt in der weiteren Erforschung der ideologischen Wurzeln des Christentums wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts getan. Eine große Gruppe bürgerlicher Gelehrter, darunter gläubige Christen, die man allgemein unter der Bezeichnung Mythologische Schule zusammenfasst, gingen in der Kritik an der neutestamentarischen Literatur entschieden weiter als die Tübinger. Die Vertreter der Mythologischen Schule kamen zu der Schlussfolgerung, dass die Wissenschaft über keinerlei beglaubigte Zeugnisse für die historische Existenz Jesu verfügt. Diese Überzeugung treffen wir zum ersten Mal in den Arbeiten der französischen Denker am Ende des 18. Jahrhunderts, doch eine ganze Schule vermochte erst auf der Grundlage der Schlussfolgerungen aus den kritischen Arbeiten der Tübinger zu entstehen, und faktisch war sie auch eine Weiterentwicklung ihrer Ansichten. Gesetzmäßig erhoben sich Zweifel an der Existenz des angenommenen Begründers des Christentums, als bewiesen war, dass die Evangelien in der Mitte des 2. Jahrhunderts verfasst wurden. Zu den Wissenschaftlern, welche die historische Existenz Jesu verneinten, gehörten John Mackinnon Robertson, William Benjamin Smith, Andrzej Niemojewski, Arthur Drews, Paul-Louis Couchoud und viele andere.

Wir müssen hier darauf hinweisen, dass die übergroße Mehrheit der Vertreter der Mythologischen Schule sowie ihre Vorgänger, die Tübinger, nicht nur vom Marxismus, sondern auch vom Atheismus weit entfernt waren. Im Gegenteil, viele von ihnen strebten nur danach, das Christentum zu rechtfertigen, zu säubern und ihm den Glanz der moralischen Überlegenheit über andere Religionen zu erhalten. Die alten Vorurteile, so schrieb Lenin, ersetzten sie durch „noch widerlichere und niederträchtigere Vorurteile“ (W. I. Lenin, Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus, in: Werke, Bd. 33, Dietz Verlag, Berlin 1971, S. 217). Obwohl sich die Vertreter der Mythologischen Schule über den Mythos von Christus einig waren, gab es doch zwischen ihnen ernste Meinungsverschiedenheiten darüber, wo dieser Mythos herrührte, auf welchem Weg und aus welchen Quellen das Jesusbild der Evangelien entstand. Mit anderen Worten, die starke Seite dieser Schule war die Vertiefung der Kritik an der neutestamentarischen Literatur, doch aus verschiedenen Gründen, vor allem wegen der Dürftigkeit der Quellen, konnten diese Wissenschaftler nicht ausreichend bestimmen, welcher Art die wirklichen historischen Quellen des Evangelienmythos waren.

Unter diesen Versuchen, die Quellen der Evangelien zu entdecken, sind die Arbeiten des englischen Gelehrten John Mackinnon Robertson (1856-1933) am Anfang unseres Jahrhunderts von größtem Interesse. Er setzte die Suche des englischen Ethnografen James Frazer (1854-1941) fort, der in seiner bekannten Arbeit „Der goldene Zweig“ mithilfe der vergleichenden Methode Parallelen in den Bräuchen und der geistigen Entwicklung verschiedener Völker feststellen wollte. Nach Meinung Frazers wurzelt die Religion in den magischen Riten der Stämme der Urgesellschaft. Er machte darauf aufmerksam, dass bei vielen Stämmen, besonders in Vorderasien, der Kult des sterbenden und auferstehenden Gottes und teilweise auch der Brauch, den Stammesgott oder seinen Sohn zu töten, um fruchtbaren Boden zu gewinnen, verbreitet war. Robertson verband diese Ideen Frazers mit der Entstehung des Christentums und kam zu der Schlussfolgerung, dass wir es dem Wesen nach mit dem gleichen Prozess zu tun haben und dass folglich der evangelische Mythos aus vorchristlichen religiösen Vorstellungen über die Göttlichkeit Jesu erwachsen ist. Es gelang ihm, Spuren eines vorchristlichen Jesuskults zu entdecken. Interessant ist seine Feststellung, dass einige Teile des Evangeliums nach Markus und anderer Synoptiker lediglich eine Nacherzählung von Szenen eines Rituals sind, dessen Thema die vorchristlichen „Leiden des Herrn“ waren.

John Robertsons Idee, die vorchristlichen Wurzeln des Jesuskults zu erforschen, griffen eine Reihe anderer Vertreter der Mythologischen Schule auf, darunter Thomas Whittaker (1856-1935) und William Benjamin Smith (1850-1934). Whittaker vertrat die Ansicht, dass der Kult des neutestamentarischen Jesus unmittelbar auf den vormonotheistischen (Monotheismus = Glaube an einen einzigen Gott) jüdischen Josuakult zurückgeht, der im Alten Testament durch den Nachfolger von Moses personifiziert ist. Davon, dass der alttestamentarische Josua, der Sohn Nuns, wirklich ein Urgott war, zeugt die bekannte Bibelepisode, in der er der Sonne gebot stillzustehen (Josua 10,13). Der amerikanische Gelehrte W. B. Smith bemühte sich nachzuweisen, dass Jesus bereits lange vor der Entstehung des Christentums ein Beiname des jüdischen Gottes Jahwe war, wobei die Anbeter Jahwes - Jesu sich selbst Nazaräer nannten. Smith legte den gesamten evangelischen Mythos allegorisch aus.

Einer der bekanntesten Vertreter der Mythologischen Schule ist Arthur Drews (1865-1935), doch sein Verdienst besteht lediglich darin, dass er die Konzeptionen und die Argumentation seiner Mitstreiter verbreitet hat. Wie Smith meinte er, dass das Christentum aus dem Gnostizismus (Gnostizismus = Mystische Lehre von der Gnosis (griech. = Erkenntnis) als einem besonderen Wissen, das sich einem auf dem Weg der Erkenntnis des Wesens Gottes eröffnet. Der Gnostizismus war in den östlichen Gebieten des Römischen Reiches in den ersten Jahrhunderten u. Z. verbreitet) hervorgegangen ist.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts versuchte der polnische Publizist Andrzej Niemojewski (1864-1921) den evangelischen Mythos unmittelbar aus Astralmotiven (Astralkult = Verehrung der Gestirne als göttliche Wesen, mehr oder weniger ausgeprägt bei vielen Völkern, besonders in der babylonisch-assyrischen Religion, im alten Mexiko, im vorislamischen Arabien und in der Spätantike) herzuleiten, indem er sich auf eine Reihe meist oberflächlicher Analogien stützte.

Einen neuen Impuls für das Studium der historischen Wurzeln der Evangelienerzählung gab Paul-Louis Couchoud, einer der engsten Freunde des berühmten französischen Schriftstellers Anatole France. Er betonte, dass die Existenz des Menschen Jesus hauptsächlich durch die Darstellung Jesu als Gott in den ältesten christlichen Quellen (in der Offenbarung des Johannes und den Paulusbriefen) widerlegt wird. Für die ersten Christen war Jesus kein Mensch, sondern „ein Lamm, das erwürget ist“. Nach Meinung Couchuds wurde erst im 2. Jahrhundert, als die Zahl der Christen, die früher Heiden waren, wuchs, nach und nach eine irdische Biografie Christi geschaffen und durch Einzelheiten angereichert. Nach Couchud kann als Autor des ersten Evangeliums der Ketzer (Ketzer oder Häretiker = Vertreter einer von der offiziellen kirchlichen Lehre abweichenden Auffassung) Marcion in der Mitte des 2. Jahrhunderts gelten. Die kanonischen Evangelien entstanden lediglich als Gegengewicht zum Evangelium des Marcion.

Die Ideen Couchuds wurden von dem französischen Schriftsteller Edouard Dujardin (1861-1949) aufgegriffen, der, ausgehend von allgemeinsoziologischen Erwägungen darauf hinwies, dass in der Geschichte niemals Fälle der Vergötterung von Propheten beobachtet wurden, dagegen aber im Altertum die Vermenschlichung von Göttern häufig war. In allen frühen christlichen Werken wird Jesus nie als ein Mensch mit prophetischer Gabe dargestellt, sondern als Gott. Den Anfang des Christentums datiert Dujardin um das Jahr 27 u. Z., als nach der Aufführung eines Ritus, in dem Szenen vom Tod und von der Auferstehung der vorchristlichen Gottheit Jesus dargestellt wurden, einige Gläubige, Apostel genannt, zu behaupten begannen, dass sie die Auferstehung des Dramenhelden von den Toten gesehen hätten. Die Evangelienerzählung wurde nach Meinung Dujardins erst nach dem Jüdischen Krieg (66-70) geschaffen, als sich das Christentum als Nachfolger des Judentums zu betrachten begann.

Das sind in den Grundzügen die Ideen der bekanntesten Vertreter der Mythologischen Schule, soweit sie versuchten, die wirklichen Quellen des Evangelienmythos zu bestimmen. Einige dieser Versuche können wir schwerlich anerkennen. Dazu gehören nach unserer Meinung die Konzeptionen Niemojewskis und Dujardins. Stattdessen scheint nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse die Idee von dem vorchristlichen Kult des Gottes Jesus, der im 2. Jahrhundert u. Z. vermenschlicht wurde, sehr fruchtbar zu sein. Ihr neigen, wie wir gesehen haben, viele Forscher zu. Alles in allem ist die wichtigste Errungenschaft der Mythologischen Schule folglich die Entlarvung des evangelischen Mythos vom Gottmenschen Jesus.

Nicht weniger aufschlussreich als das Wirken der Mythologischen Schule ist die bezeichnende Wandlung, die sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts in den Ansichten der sogenannten Historischen Schule vollzog, bei den Anhängern der Hypothese von der irdischen Existenz Jesu. Ein Beispiel mag zeigen, wie weit der Abbau des Nimbus um den Evangelienmythos selbst in katholischen Kreisen ging. Im dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts machten die Bücher des bereits erwähnten französischen Schriftstellers Renan auf bestimmte Kreise gläubiger Christen einen großen Eindruck. Renan hielt offenbar die ganze Erzählung der synoptischen Evangelien über Jesus für echt und bemühte sich lediglich, den Jesus der Evangelien als Menschen, nicht aber als Gott zu charakterisieren. Im Jahre 1908 wurde der französische katholische Priester Alfred Loisy (1857-1940) aus der Kirche ausgeschlossen, weil er die Meinung vertrat, dass die uns bekannten Quellen nichts Konkretes über das Leben Jesu und die Ideologie der ältesten christlichen Gemeinden überhaupt mitteilen. Nach Loisy ist aus der gesamten Evangelienerzählung nur das annehmbar - und selbst das nur als Hypothese -, was auf die Existenz irgendeines entfernten Urbilds hinweist, aus dem diese Erzählung später hervorgegangen ist. Er hält nicht nur die Göttlichkeit Jesu, sondern auch die gesamte ihm zugeschriebene Predigt, das Abendmahl usw. für unglaubwürdig.

Wie Archibald Robertson (1886-1961) in seiner Arbeit „Jesus: Mythos oder Geschichte?“ schrieb, ist für solche Kritiker wie Albert Schweitzer (1875-1965), Charles Guignebert (1867-1939) und Rudolf Bultmann das einzig Feststehende unter den Bruchstücken einer in Verruf gekommenen Legende, dass ein Mensch, über dessen Leben wir nur wenig oder überhaupt nichts wissen, ein Mensch, der nach Schweitzer nicht öffentlich erklärt hat, er sei der Messias, der nach Bultmann nicht einmal selbst den Anspruch erhoben hat, für einen Messias zu gelten, und der sich nach Guignebert vielleicht niemals Jesus genannt hat - dass dieser Mensch von Pilatus gekreuzigt und zum Helden eines theologischen Romans wurde, den die nächsten und spätere Generationen wegen ihrer eigenen Interessen schufen.

So ist für viele Gelehrte der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, selbst für die Anhänger der realen Existenz Jesu, die Ablehnung aller Einzelheiten des Evangelienmythos charakteristisch. Die Schlussfolgerungen eines Jahrhunderts wissenschaftlicher Kritik an der frühchristlichen Literatur führten dazu, dass sich viele Anhänger der sogenannten Historischen Schule gezwungen sahen, von allen Einzelheiten der Evangelienerzählung lediglich als Arbeitshypothese die Annahme aufrechtzuerhalten, dass zu Beginn unserer Zeitrechnung ein jüdischer Prediger gelebt hat, der von Pilatus gekreuzigt wurde. Jesus ist in ihren Vorstellungen bei Weitem nicht der Gottmensch der Evangelien, nicht einmal der seiner göttlichen, übernatürlichen Attribute entkleidete Jesus der Tübinger. Meist verstehen die gegenwärtigen objektiven Kritiker unter diesem Namen eine Abstraktion, die ihrer Meinung nach besser als andere Hypothesen die Entstehung des Evangelienbildes erklärt.

Zu dieser Schule gehört der fortschrittliche englische Forscher Archibald Robertson, der Verfasser des Buches „Die Ursprünge des Christentums“. Archibald Robertson, nicht zu verwechseln mit einem der Begründer der Mythologischen Schule, John Robertson, bemüht sich, die Probleme vom marxistischen Standpunkt aus zu betrachten. Er sucht die sozialökonomischen Wurzeln des Christentums in den realen Verhältnissen Palästinas und überhaupt des Römischen Reiches um die Zeitenwende. Für ihn ist das Urchristentum die Religion der Mühseligen und Beladenen, doch er bleibt trotz allem ein überzeugter Anhänger der Historischen Schule. Sein Buch ruft sowohl in der Grundkonzeption als auch in den Einzelheiten viel Widerspruch hervor. Wir müssen jedoch die Lauterkeit seiner Überzeugungen anerkennen, die nicht das geringste mit Pfaffentum gemein haben.

Selbstverständlich gehören durchaus nicht alle und nicht einmal die meisten Anhänger der Historischen Schule zu der von uns charakterisierten Kategorie von Wissenschaftlern, welche die Möglichkeit der Existenz irgendeines entfernten Vorbilds für den Jesus der Evangelien nur als Hypothese zulassen, um die Entstehung des Evangelienmythos zu erklären. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Entstehung des Christentums niemals ein rein wissenschaftliches Problem war. Bei der überwiegenden Mehrheit der Versuche, die Existenz Jesu zu erklären, kommt immer das Bestreben hinzu, Wissenschaft und Pfaffentum in Übereinstimmung zu bringen oder die Wissenschaft dem Pfaffentum unterzuordnen.

Die wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach den Quellen des Evangelienmythos wird auch dadurch erheblich erschwert, dass ein großer Teil der Denkmäler zur Geschichte des frühen Christentums durch die siegreiche Kirche vernichtet und die erhaltenen überarbeitet und verfälscht wurden. Heute noch befinden sich in den kapitalistischen Ländern die Herausgabe, die Kommentierung und die Zusammenstellung des wissenschaftlichen Apparats für die Publizierung der Quellen zur Geschichte des frühen Christentums in den Händen der „diplomierten Lakaien des Pfaffentums“. Selbst in unserer Zeit ist es unmöglich, bei der Untersuchung von Problemen des frühen Christentums auf den wissenschaftlichen Apparat zu verzichten, den die Theologen bearbeitet haben. Das alles müssen wir berücksichtigen, um uns die Schwierigkeiten vorstellen zu können, denen ein objektiver Wissenschaftler begegnet.

Der Forscher, der sich mit der Entstehung des Christentums beschäftigt, muss nicht nur mit den Arbeiten der Mythologischen und der Historischen Schule vertraut sein, sondern auch die verschiedenen Untersuchungen über den Text der neutestamentarischen Schriften auswerten. Die wissenschaftlich gesicherten Schlussfolgerungen der Tübinger Schule, wonach die Evangelien später zu datieren sind, veranlassten die Theologen verschiedener Glaubensrichtungen zu versuchen, eine Art Brücke über die hundertfünfzigjährige Kluft zwischen der traditionellen Festlegung der Lebensdaten Jesu (erstes Drittel des x. Jahrhunderts) und dem Zeitpunkt der Entstehung der Evangelien (Mitte des 2. Jahrhunderts) zu schlagen. Um die Autorität der Evangelien zu stützen, wurden um die letzte Jahrhundertwende mehrere Theorien und Schulen geschaffen, die sich speziell mit den Quellen der Evangelien beschäftigen.

Die wichtigsten dieser Theorien sind: 1. die Traditionshypothese, der zufolge die Evangelisten ihre Schriften unabhängig voneinander verfasst haben, lediglich die mündliche Überlieferung benutzend, die in den frühchristlichen Gemeinden vorhanden war; 2. die Quellenhypothese, deren Anhänger beweisen wollen, dass alle Evangelisten ungefähr ein und dieselben schriftlichen Dokumente zur Verfügung hatten, die jeder nach seinem Belieben verwertete; 3. die Benutzungshypothese, nach der die späteren Evangelisten in ihren Berichten die vorher geschriebenen Evangelien verwendeten. Die Polemik unter diesen und dazwischenliegenden Schulen brachte im ersten Drittel unseres Jahrhunderts eine unübersehbare Literatur, aber keinerlei allgemein anerkannte Schlussfolgerungen hervor.

Das Positive in der Tätigkeit dieser Schulen war, dass sich die Untersuchung der sogenannten synoptischen Probleme voranbewegte. So wurde festgestellt, dass das älteste der kanonischen Evangelien das zweite (Markus) ist, nicht das erste (Matthäus), wie einige Tübinger angenommen hatten. Der gemeinsame Teil der Evangelien nach Matthäus und nach Lukas, der im zweiten Evangelium nicht vorhanden ist, wurde gründlicher untersucht. Dadurch gelang es, genauer die Tendenzen zu erfassen, nach denen die Überarbeitung und die Formung der kanonischen Evangelien vor sich ging. Außerdem konnten einige Teilerfolge beim Studium der Synoptikertexte erzielt werden. Allein, die Brücke hing auch weiterhin in der Luft. Die von den verschiedenen Theorien und Schulen vorausgesetzten Urquellen und Protevangelien (griech. prot... = vor ...) blieben nur fromme Hypothesen. All diese Versuche waren ergebnislos, weil sich ihre Autoren eine unlösbare Aufgabe stellten: Sie suchten Beweise für die Existenz des Menschen Jesus, während die vorhandenen Quellen zeigen, dass die Entwicklung in der entgegengesetzten Richtung verlief: von der Göttlichkeit Jesu zum Gottmenschen der Evangelien.

In dem uferlosen Meer von Büchern über die frühchristliche Literatur, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erschienen, gibt es auch Werke, die trotz der idealistischen Weltanschauung ihrer Autoren unser Wissen um einiges bereicherten. Zu diesen Arbeiten ist beispielsweise das Buch von Walter Bauer (1877-1960) „Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum“ (1934) zu zählen. Bauer kam beim Studium der Entstehung der Ketzerei zu der richtigen Schlussfolgerung, dass der Begriff einer orthodoxen Glaubenslehre im frühen Christentum bis zur Herausbildung des Episkopats (Episkopat = Gesamtheit der Bischöfe) gar nicht vorhanden war. Wichtig für die Datierung der Evangelien ist auch das Buch des amerikanischen Gelehrten John Knox „Marcion und das Neue Testament“ (1942), der die Herstellung des Kanons mit dem wachsenden Einfluss der römischen Bischöfe verbindet.

Die neueste Literatur, soweit der Autor dieses Buches sie überblickt, charakterisiert ein spürbarer ideologischer Rückschritt bei der Untersuchung des frühen Christentums. Sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Literatur bemerkt man deutlich ein Abrücken von den kritischen Schlussfolgerungen nicht nur der Mythologischen, sondern auch der Tübinger Schule. Praktisch ist es immer schwerer geworden, irgendeinen Unterschied zwischen orthodoxen katholischen und protestantischen Theologen festzustellen, zumal die letzteren sich mehr und mehr dogmatisch zu den neutestamentarischen Texten verhalten. Wir müssen betonen, dass diese Erscheinung nicht etwa durch irgendwelche neuen Errungenschaften der Wissenschaft hervorgerufen wurde, sondern mit der allgemeinen Absage der bürgerlichen Wissenschaft an die liberalen Traditionen ihrer Vergangenheit zusammenhängt. Es gibt gegenwärtig im Westen keine Fortsetzer der Mythologischen Schule, obwohl die kritischen Bemerkungen ihrer Vertreter auch heute noch voll zutreffen.

Vor dem allgemeinen Hintergrund der ideologischen Stagnation und des Rückschritts der bürgerlichen Nachkriegsliteratur sollten wir doch die große Aufmerksamkeit registrieren, die sie den unlängst entdeckten Papyrusquellen und archäologischen Quellen schenkt. Die Zahl der Bücher und Artikel, die sich beispielsweise mit den 1947 bei Qumrän (am Toten Meer) gefundenen Schriftrollen beschäftigen, welche große Bedeutung für die Vorgeschichte des Christentums haben, geht in die Hunderte. Auch andere neue Dokumente, die ein Licht auf das frühe Christentum werfen können, werden intensiv untersucht.

 

Die sowjetischen Wissenschaftler lieferten bedeutende Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung der Entstehung des Christentums. Neben einer großen Zahl von populärwissenschaftlichen Artikeln und Broschüren und der Übersetzung fast aller ernst zu nehmenden Arbeiten ausländischer Gelehrter in die russische Sprache leisteten die sowjetischen Historiker eine umfangreiche Forschungsarbeit auf diesem Gebiet. Dank der Trennung von Kirche und Staat nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wurde es in unserem Land erstmalig auf der Welt möglich, alle Fragen, die mit der Geschichte der Religion im Allgemeinen und der christlichen Kirche im Besonderen verbunden sind, völlig frei wissenschaftlich zu untersuchen.

Die Gründung einer Reihe von antireligiösen Zeitschriften und von Spezialmuseen zur Religionsgeschichte erlaubte eine ausgedehnte wissenschaftliche Forschungsarbeit zur Geschichte des frühen Christentums. Die von den sowjetischen Wissenschaftlern angewandte wahrhaft wissenschaftliche Methodologie des Marxismus-Leninismus eröffnete für die Arbeit auf diesem Gebiet neue Horizonte. Dank all dieser Umstände wurden in unserem Land viele gewichtige Arbeiten zu den uns interessierenden Problemen herausgegeben. Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren erschienen: „Wie Götter und Götzen geboren werden, leben und sterben“ von J. M. Jaroslawski und einige Bücher von N. W. Rumjanzew, darunter „Tod und Auferstehung des Erlösers (Forschungen auf dem Gebiet der vergleichenden Mythologie“), „Der vorchristliche Christus“, „Die Apokalypse - die Offenbarung des Johannes“. Die wichtigsten Untersuchungen auf diesem Gebiet stammen von A. B. Ranowitsch und Akademiemitglied R. J. Wipper.

Nicht gerechnet die vielen Artikel zu einzelnen Problemen, die mit der Entstehung des Christentums zusammenhängen, veröffentlichte Ranowitsch drei große Arbeiten: „Primäre Quellen zur Geschichte des Urchristentums. Materialien und Dokumente“, „Die antiken Kritiker des Christentums (Fragmente aus Lukian, Celsus, Porphyrius)“ und schließlich „Überblick über die Geschichte der frühchristlichen Kirche“. Die ersten beiden Bücher könnte man, wenn man nur nach den Titeln urteilte, für Materialsammlungen in der Art von Lesebüchern zur Geschichte des frühen Christentums halten. Doch bereits auf den ersten Blick sieht man diesen Werken die umfangreiche Forschungsarbeit an, die Ranowitsch leistete, nicht nur bei der Auswahl und Übersetzung, was, für sich allein genommen, schon bemerkenswert wäre, sondern auch bei der wissenschaftlichen Kommentierung der Quellen. Das letzte der erwähnten Bücher von Ranowitsch ist gleichsam die Quintessenz seiner vieljährigen Arbeit an der Erforschung des frühen Christentums und zugleich die beste sowjetische Monografie zur Geschichte des Christentums in seiner Anfangsperiode. Die vorliegende Arbeit gibt in vielem die Schlussfolgerungen von Ranowitsch wieder. Doch die Entdeckungen der letzten Jahre, die eine ganze Anzahl neuer, wichtiger Quellen zutage brachten, veranlassen uns, auf dieses Thema zurückzukommen und einige Auffassungen Ranowitschs zu präzisieren oder zu ergänzen.

Akademiemitglied R. J. Wipper veröffentlichte in den Nachkriegsjahren zwei Bücher zur Geschichte des Urchristentums: „Die Entstehung der christlichen Literatur“ und „Rom und das frühe Christentum“. Die erste Arbeit analysiert hauptsächlich verschiedene frühchristliche Denkmäler, die in das Neue Testament eingegangen sind, aber auch solche, die nicht aufgenommen wurden. Diese Arbeit hat Ranowitsch gründlich besprochen, mit Schlussfolgerungen, denen man nur zustimmen kann. In seiner zweiten Arbeit entwickelt Wipper die Ideen Bruno Bauers über die engen Beziehungen zwischen der Ideologie der griechisch-römischen Weit und dem Christentum weiter und betrachtet bestimmte frühchristliche Werke, ausgehend von seiner eigenen Datierung, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Ideologie der herrschenden Kreise des Römischen Reiches, soweit sie uns durch Arbeiten lateinischer und griechischer Autoren jener Zeit bekannt sind.

Wipper beweist überzeugend, wenn auch mit gewisser Überbewertung, dass der Text der kanonischen Evangelien und die Entstehung der christlichen Kirche nicht vor der Mitte des 2. Jahrhunderts angesetzt werden darf und dass die christliche Ideologie seit dieser Zeit bereits weitgehend die Weltanschauung der besitzenden Schichten der römischen Gesellschaft widerspiegelte. Wippers Verneinung der Existenz des Christentums in der zweiten Hälfte des 1. und der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts erweckt jedoch starke Zweifel. Eine solche hyperkritische Auffassung verträgt sich nicht mit dem Vorhandensein von Papyrus- und anderen christlichen Denkmälern aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Faktisch leugnet Wipper, dass das frühe Christentum die Religion der sozial Unterdrückten gewesen ist, weil das Christentum seiner Meinung nach sofort nach der Entstehung die Interessen der besitzenden Kreise vertrat. Er erklärt nicht, wie es kommt, dass die christliche Ideologie in der Mitte des 2. Jahrhunderts plötzlich fast vollständig ausgearbeitet auftauchte.

Große Bedeutung für die weitere Erforschung der Voraussetzungen und des Verlaufs der Entwicklung der christlichen Ideologie in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung besitzen die Arbeiten der sowjetischen Historiker, die sich mit dem Römischen Reich und seinen verschiedenen, besonders den östlichen Provinzen beschäftigen. Dazu gehören: das Buch von Ranowitsch „Die östlichen Provinzen des Römischen Reiches vom 1. bis 3. Jahrhundert“, einige Artikel von J, M. Stajerman, in denen die Ideologie der arbeitenden Bevölkerung der römischen Provinzen untersucht wird, und eine Reihe von Artikeln anderer Autoren, darunter die Arbeit von J. P. Franzew „Zur Geschichte der Entstehung des Christentums in Ägypten“. In den allgemeinen Überblicken über die Geschichte des alten Roms von N. A. Maschkin, S. I. Kowaljow und W. N. Djakow wird die Entstehung des Christentums und seine anfängliche Entwicklung von marxistischen Positionen aus betrachtet, leider nur in allgemeinsten Zügen und im Rahmen der römischen Geschichte. In den letzten Jahren beschäftigt sich S. I. Kowaljow intensiv mit der Geschichte des Christentums.

 

Die wichtigsten Schlussfolgerungen aus einer mehr als anderthalb Jahrhunderte andauernden Forschungsarbeit über die Entstehung des Christentums lassen sich in einigen Punkten zusammenfassen:

1. Die objektive, von religiösem Einfluss freie Erforschung dieses Problems konnte in jedem Fall nur von den Vertretern der fortschrittlichen Gesellschaftsklasse vorgenommen werden. Im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schufen die damals noch fortschrittlichen bürgerlichen Wissenschaftler die Grundlagen für eine Kritik an der kirchlichen Überlieferung. Sie verwiesen auf die Widersprüche in den Evangelien und bemühten sich, die Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung historischer Denkmäler auf die Dokumente der frühchristlichen Literatur anzuwenden. Als die Bourgeoisie ihre fortschrittliche Rolle aufgab und sich in eine reaktionäre Kraft verwandelte, bestand das Ziel ihrer Ideologen, die sich mit der Entstehung des Christentums beschäftigten, nicht mehr im Aufdecken des wirklichen Verlaufs der historischen Entwicklung. Die objektive, wahrhaft wissenschaftliche Erforschung des frühen Christentums wurde von den Ideologen der neuen fortschrittlichen Klasse, des Proletariats, übernommen. Sie benutzen die besten Errungenschaften ihrer Vorgänger, beziehen in ihre Untersuchungen neue Quellen ein und bemühen sich nachzuweisen, aus welchen historischen Bedingungen das Christentum hervorging, sich entwickelte und zur Herrschaft gelangte.

2. Die Untersuchungen der Denkmäler der frühchristlichen Literatur bewiesen, dass die kanonischen Evangelien in der Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden, dass sie mehrmals von den Dienern der Kirche umgearbeitet wurden und dass die Anordnung der Schriften im Kanon der Reihenfolge ihres Entstehens direkt entgegengesetzt ist.

3. Was den heftigen Streit und die verschiedenen Auffassungen über die historische Existenz Jesu Christi angeht, so wurde klar, dass die wissenschaftlichen Beweise durchaus nicht zu seinen Gunsten sprechen.

4. Mit der Widerlegung der These von der historischen Existenz Christi fällt auch die von den Theologen unterstützte Konzeption einer seit Anbeginn einheitlichen christlichen Kirche, die unmittelbar aus einer Gruppe von Aposteln hervorgegangen und berufen ist, „das Vermächtnis des Gekreuzigten in Reinheit zu bewahren“. Die kirchliche Organisation bildete sich aus einer Vielzahl selbstständiger, häufig einander feindlich gesonnener und miteinander konkurrierender Gemeinden von Gläubigen. Die Kirche entstand in der Mitte des 2. Jahrhunderts.

Nachdem die Haltlosigkeit des evangelischen Mythos offenbar wurde, erwächst den marxistischen Historikern eine außerordentlich wichtige Aufgabe: Sie haben zu untersuchen, aus welchen Quellen und wie dieser Mythos entstand und sich bis zu seiner Formung in den neutestamentarischen Evangelien entwickelte.

Beim weiteren Studium des frühen Christentums wird vermutlich die Geschichte der christlichen Gemeinden in den einzelnen Zentren und Provinzen des Römischen Reiches erforscht werden. Besondere Aufmerksamkeit wird man wahrscheinlich den frühen Ketzern und dem Kampf zwischen ihnen und der sich herausbildenden Kirche zuwenden.

 

Der Autor dieses Buches stellte sich nicht die Aufgabe, mit ihm der Forschung zu dienen. Ich will vor allem berichten, welche Bedingungen das Christentum entstehen ließen, die Hauptlinien der Entwicklung der christlichen Ideologie in ihrer Anfangsperiode zeigen und schließlich nachweisen, „wie es kam, dass die Volksmassen des römischen Reiches diesen noch dazu von Sklaven und Unterdrückten gepredigten Unsinn allen andern Religionen vorzogen“ (Friedrich Engels, Bruno Bauer und das Urchristentum, a. a. O., S. 298). Dabei beschränke ich mich nicht auf die Benutzung längst bekannter Dokumente, sondern ziehe neue Quellen heran.

Im Unterschied zu den Autoren, die es für unumgänglich halten, die Geschichte des Urchristentums bis zur Zeit Konstantins (280-337) darzulegen, erbitte ich die Aufmerksamkeit des Lesers für die Analyse des frühen Christentums lediglich bis zur Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert. Der Grund für diese Begrenzung ist, dass ich nur über die Entstehung des Christentums schreibe. Im 3. Jahrhundert ist das Christentum eine bereits vollkommen formierte Religion, es verfügt über die Sammlung seiner Schriften, das Neue Testament, und besitzt einen Verwaltungsapparat, die Kirche. Folglich besteht der Hauptinhalt der nachfolgenden Geschichte des Christentums nicht in der Formierung der Religion, sondern im schonungslosen Kampf mit allen Rivalen um Einfluss und Macht im Römischen Reich. Natürlich schließt das die Weiterentwicklung der christlichen Ideologie und ihre Anpassung an die herrschende Klasse des Imperiums nicht aus, sondern setzt sie im Gegenteil voraus.

Im Buch wurde der Datierung und der Analyse des Textes verschiedener neutestamentarischer und anderer christlicher Schriften viel Platz eingeräumt. Das erschien unerlässlich, um ein historisch wahres Bild der Entwicklung des Christentums zu zeichnen und die Veränderungen zu verfolgen, die sich in ihm mit der Zeit vollzogen. Die Aufmerksamkeit des Autors gilt vor allem den Fragen, wie das Bild des evangelischen Jesus entstand, wie sich die christliche Dogmatik herausbildete, wie sich die Ideologen der neuen Religion zur Sklaverei und zur weltlichen Macht verhielten, wie die soziale Zusammensetzung der frühchristlichen Gemeinden war, wie der Klerus entstand und wer die frühen Ketzer waren.