Impressum

Joachim Behl

Der Ruf des toten Pfarrers

Mit Musik durch drei Generationen deutsche Geschichte

ISBN 978-3-95655-760-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Fotos: Joachim Behl

 

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Es geht mir gut

„Es geht mir gut!“ – Das ist der Anfang einer Geschichte, die zu schreiben ich mich genötigt sah. Sie ist so unglaublich und phantastisch, dass mir noch heute ein kalter Schauer über den Rücken läuft, wenn ich nur an sie denke. Vergesst für eine kurze Zeit all eure Vorbehalte gegen Wunder, die einfach so passieren und für die es keine vernünftige Erklärung gibt. Es ist nicht wichtig, wie sie zustande kommen. Wichtig ist, ob und was sie in uns bewirken. Ich habe ein Wunder erlebt, das mich so beeindruckt hat, dass ich es euch unbedingt erzählen muss. Dieses Wunder geschah an einem Wochenende mitten in Mecklenburg und hatte seinen Ausgang Samstag früh, kurz nach 10.00 Uhr. Ich beginne die Geschichte also mit den von mir abgegebenen, unglaublich bedeutungsvollen vier Worten: „Es geht mir gut!“

 

Gabi schaut mich erschrocken an. In ihrem Gesicht erkenne ich die Frage: Warum geht es ihm gut? Weil … Ja, warum eigentlich? Wie hat Westernhagen zum gleichen Thema gesungen: „Keine Ahnung, keine Meinung, kein Konzept, keine Lust, um aufzusteh’n.“ Das ist aber keine Antwort für Gabi, sondern die Beschreibung der eigenen Gemütsverfassung. Da will jemand in Ruhe gelassen werden. Lieber schweige ich. Aus dem Radio tönt stolz eine Stimme: „Mein Land – Mein Radio – Mein Lieblingsmix!“ Ich hasse diese Werbung nicht nur Samstag früh. So viele „mein“ auf einmal sind nur schwer zu verkraften. Wir hören diesen Sender nur, weil wir keinen besseren finden. Ist irgendwem schon mal aufgefallen, dass „Renft“ in Ostdeutschland nicht mehr verboten ist und eigentlich wieder öffentlich gespielt werden könnte? Mir auch nicht.

 

Der Wecker bestätigt mir, dass es nicht mehr Samstag früh ist! Es ist nach zehn, und ich liege noch im Bett. Gabi ist seit zwei Stunden am Wirken. Sie nimmt es mir nicht ab, dass es mir gut geht. Kann ein 55 Jahre alter Mann 12 Stunden durchschlafen und immer noch müde sein? Doch, er kann. Woody Allen offenbart in einem seiner Filme, dass er sogar 16 Stunden Schlaf am Tag benötigt, um die restlichen 8 Stunden einigermaßen zu überstehen. Ich bin aber nicht Woody Allen und nicht im Film. Außerdem übertreibt der Typ immer so mit seinen Egoanfällen. Habe ich überhaupt 12 Stunden richtig geschlafen? Immer wieder drängen sich mir Bilder aus einem Traum auf, der mich seit Tagen verfolgt. Ich muss unbedingt aufstehen, sonst werde ich noch komischer. Fenster auf! Huh! Ein kalter Wind dringt in die Schlafstube, der mir nach dem Leben trachtet. Ob das die berüchtigte Schneekönigin ist? Wenn sie mich küsst, wird mein Herz zu einem Eisklumpen. Sofort bin ich hellwach. Langsam verflüchtet sich der feuchte Beschlag vom Fenster. Draußen sieht es wieder ungemütlich aus, so ungemütlich, dass man lieber gleich wieder ins Bett springen will. Halt! Ich flüstere die berühmten Zauberworte zu mir: „Yes, You can!“ Wusstet ihr schon, dass man mit solch starken Sprüchen in den USA Präsidentenwahlen gewinnen kann? Für mich gilt jetzt: Raus aus dem Bett und rein in die Klamotten.

 

Dieser Tag verspricht, kein guter Tag zu werden. Überall bedrohliche, dicke schwarze Regenwolken am Himmel. Aber es regnet nicht. Der Garten sieht jämmerlich aus. Es ist Februar! Da hat er so auszusehen! Vom Aufstehen bis zum Fertigsein am Frühstückstisch benötige ich am Wochenende wie immer 90 Minuten: davon 35 Minuten Laufsport und 20 Minuten Duschen. Vor dem Laufen diktiere ich Petrus noch meinen Wunsch in den Himmel, seine Finger vom roten Regenknopf zu lassen. Sein Respekt gibt mir besondere Kraft. Ob der Sport mein Lebensalter erhöhen wird, kann ich nicht sagen. Auf alle Fälle steigert er meine Lebensgeister und Lebensenergie. Für die Pharma-, Gesundheits-, Fitness- und Sportartikelindustrie gelte ich aber als Saboteur unseres Wirtschaftswachstums, da ich zu Hause ganz normalen Sport mit ganz profanen Sportsachen treibe.

 

Unser Sozialsystem funktioniert nur, wenn wir Menschen viel konsumieren. Papst Franziskus musste sogar feststellen, dass selbst der Mensch zum Konsumgut geworden ist, den man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir sind eine Rabatte-Gesellschaft, die den Menschen mit der Suche nach Rabatten und Billigangeboten neuen Lebenssinn und tägliche Erfolgserlebnisse beschert. Weihnachtsmann und Osterhase verkommen zu Konsumgötzen. Kapitalismus ist wirklich eine bescheuerte Erfindung von uns Menschen. Es gibt einfach zu viele Fans, die für diesen Ismus sogar ihre Seele verkaufen. Nur weiter so, und wir zerstören auch unser Himmelreich.

 

Gabi und ich frühstücken immer am dänischen Holztisch in der großen Stube, an dem bis zu 10 Personen Platz finden. Es war Gabis Idee, uns diesen großen Tisch anzuschaffen Wir leben aber allein in unserem kleinen Schwedenheim. Allein? Ja, wir sind allein, allein, allein, allein! Soll ich euch was sagen: Eigentlich mag ich diesen Titel „Allein Allein“ von „Polarkreis 18“ gar nicht. Trotzdem geht er mir manchmal einfach nicht aus dem Kopf. Gabi und ich zelebrieren keine Einsamkeit. Unsere Kinder sind seit Jahren außer Haus: Julchen hat mit ihrem Wolfi irgendwo bei Segeberg eine eigene Wohnung – im tiefsten Westen Deutschlands! Ich sehe es als notwendige Entwicklungshilfe von uns Ossis für die Wessis. Regt euch nicht auf: Das ist wirklich nur Spaß! Basti studiert und wohnt im kalten Rostock. Das Klima ist dort immer etwas rauer als bei uns in Gallentin. Wenn die Kinder uns besuchen kommen, hat unser 10-Personen-Tisch zumindest eine halbe Berechtigung.

 

Heute sitzen Gabi und ich uns beim Frühstück an unserem Tisch wieder meilenweit entfernt gegenüber und winken uns mit Messer und Gabel zu, wie der Earl of Dorincourt und der Lord Fauntleroy bei ihrem ersten gemeinsamen Essen im Weihnachtsfilm „Der kleine Lord“. Ach Quatsch! Noch dichter wie Gabi und ich kann man gar nicht zusammen sitzen. Unsere Füße berühren sich zärtlich. Gabi backt auch heute für uns beide zum Wochenendfrühstück vier Brötchen auf. Seit einiger Zeit kaufen wir Brötchen aus der Tiefkühltruhe. Die sind zwar teurer als die folienverpackten Brötchen im Brotregal, haben dafür aber auch weniger Chemie im Teig. Das hoffen wir wenigstens. Zu den aufgewärmten Brötchen bekommt jeder von uns ein Frühstücksei, Gabi Kaffee, ich Milch. Besser könnte ein Wochenende eigentlich nicht beginnen. Heute liegt aber spürbar dicke Luft in der Stube, so dick, dass man sie in Scheiben schneiden kann. Und Schuld habe ich, obwohl ich mich nicht schuldig fühle. Auf Gabis ständige Fragen, was los mit mir ist, antworte ich wie immer: „Ich weiß es nicht!“ Weiß ich es wirklich nicht, oder will ich darüber nicht reden? Ich muss aber mit ihr reden. Seit fast einer Woche schweigen wir uns an, besprechen nur noch das Nötigste. Ich fühle mich wie im Tran. Nicht, was ihr gleich denkt: Mein Tran hat nichts mit Alkohol zu tun. Ich bin nicht dauerbetrunken, aber die ganze Zeit irgendwie gedanklich völlig abwesend, kaum ansprechbar, gefangen in einer Traumwelt. Das ist es: gefangen in einer Traumwelt!

 

Was ist passiert? Es begann alles am letzten Sonntag. Oder doch schon früher? Ja, früher! Es gibt Tage, an denen ich mich verloren fühle, einfach so. Ich glaube, jeder kennt diese Tage. Irgendetwas passiert, das dich in Selbstzweifel fallen lässt. „Das kommt, weil deine Seele brennt“, könnte mir „Electra“ entgegenhalten. Vielleicht?! Man darf auf alle Fälle keine Angst vor diesen „brennenden“ Tagen haben. Die habe ich auch nicht. Ich stelle mich diesen Tagen und nenne das Aufräumen in meiner Gehirnzentrale. Es bringt nichts, die Selbstzweifel negieren zu wollen. Sie werden dann immer stärker und drohen, mich zu verschlingen. Während ich innerlich lautstark mit ihnen kämpfe, werde ich nach außen immer ruhiger. In solchen Augenblicken kann mir niemand helfen. Da muss ich alleine durch, für Gabi jedes Mal eine Zumutung. Ich bin erst wieder ansprechbar, wenn mein Gehirn den Anschluss zu der Quelle gefunden hat, aus der sich positive Energie ergießt. Kennt ihr Holger Bieges Titel „Nimm mich so“? Also dieses Lied passt auf meine Eigentherapie gegen Selbstzweifel wie die Faust aufs Auge: „Bin ich down, dann lass mich sein. Ab und zu ist jeder Mensch mal ganz gern allein. Dann zieh’ ich mich mal zurück und bin ganz still, weil ich wieder zu mir selber finden will.“ Wie liebe ich diesen Titel.

 

Hauptgrund meiner Selbstzweifel ist meistens ein Defekt, der mein „Ich“ einfach überbewertet. OK, sich unterzubewerten, ist auch nicht gut. Man muss versuchen, irgendwie die Bewertungsmitte zu finden. Dazu überlege ich immer, wie ich die Erde zum Stehen bringe, und komme zum Ergebnis, dass mir das auch heute nicht gelingen wird. Wozu auch? Lieber versuche ich, in ihrem Rhythmus mitzuschwingen.

 

Vor etwa zwei Wochen packten mich wieder diese Selbstzweifel. Ich stöberte in den Heften meiner Mutter, in denen sie ihre Lebenserinnerungen festgehalten hat. Sie ist vor genau zehn Jahren 72-jährig verstorben. Ihr Tod war für mich eine der größten bewusst wahrgenommenen Zäsuren in meinem Leben. Ob das „normal“ ist für einen Sohn, der nicht mehr Kind ist, interessiert mich nicht, da für mich „normales Verhalten“ von Menschen nicht existiert. Es soll tatsächlich noch Menschen in unserem Universum geben, die sich als Normal-Maßstab aller Menschen werten. Euch Maßstäbler gilt jetzt mein besonderer Gruß. Hallo, falls euch das noch nicht aufgefallen ist: Menschen sehen nicht nur verschieden aus, sondern ticken im Gehirn auch unterschiedlich. Und das liegt einfach daran, dass ihr Gehirn durch unterschiedliche Informationen von außen und unterschiedliche Erbanlagen von innen programmiert ist. Typisch menschlich ist leider, Nichtwissen mit Falschwissen zu kompensieren. Die Erkenntnis des alten Sokrates, „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“, galt schon immer nicht für allwissende Maßstäbler. Eine Welt voller Normalos wäre wirklich eine Katastrophe.

 

Aber zurück zu Mutters Lebenserinnerungen! Beim Lesen wurde mir wieder klar, dass mit ihrem Tod auch eine meiner Hauptlebensadern gekappt wurde. Es kommen immer wieder neue Lebensadern hinzu, trotzdem können sie meine Mutter nicht ersetzen. Da will ich mir auch nichts vormachen. Hört euch mal den Titel „Mütter gehn fort ohne Laut“ von „Stern Meißen“ an, gesungen von Reinhard Fißler! Der Text stammt von Kurt Demmler. Wenn das nicht ein Schrei nach Mutterliebe ist! Zu oft erkennen wir Kinder die wahre Bedeutung der Mutter für uns erst mit ihrem Verlust. Das ist dann doppelt traurig. Mir war immer bewusst, wie wichtig Mutter in meinem Leben ist. Da habe ich mir nichts vorzuwerfen. Ich hoffe, dass sie das auch immer so verstanden hat.

Mit Stern Meißen verbinde ich besondere Erinnerungen: Ich habe die Band im Sommer 1976 in Boltenhagen im Kurpark erleben dürfen, als Jungs aus meiner Abiklasse dort als Rettungsschwimmer und Ordner tätig waren. Bei einem Auftritt 2002 im Theater Güstrow war Reinhard Fißler bereits von seiner unheilbaren Krankheit gezeichnet. 2015 organisierte ich ein Konzert für Holger Biege in Bad Kleinen, wo Fißler letztmalig öffentlich sang – von einem transportablen Krankenbett aus. Ein halbes Jahr später starb er.

 

Seit ich Mutters Lebenserinnerungen wieder herausgeholt habe, überkommt mich jede Nacht immer ein gleicher Traum. Und der ist alles andere als normal, wobei normal ist, dass jedes Gehirn immer seinen ureigenen, unnormalen und unverwechselbaren Traum träumt. Mein immer gleicher Traum ist nicht einmal ein Albtraum, einfach nur ein sonderbarer Traum: Ich stehe vor der alten Kirche in Retschow, einem kleinen Mecklenburger Dorf, das Tor öffnet sich, und der alte Propst Ehlers winkt mir vom Kircheingang zu. Er spricht die Worte: „Du musst kommen!“ Ja, er spricht die Worte: „Du musst kommen!“ Warum ich mich wiederhole? Das tut man so in einem Blues. Denn ich habe den Blues, denke ich nur an meinen Traum. Bessie Smith hatte auch den Blues, als sie sang „Baby, kannst du nicht bitte zurück nach Hause kommen?“ Ich soll aber nicht nach Hause, sondern zu Propst Ehlers nach Retschow kommen.

 

Ich habe Propst Ehlers nur einmal in meinem Leben gesehen. Und das war vor mehr als 25 Jahren zur Trauerfeier für meine verstorbene Oma Pehlke. Ihr müsst wissen: Meine Mutter war eine geborene Pehlke! Propst Ehlers war bei unserer einzigen Begegnung bereits 80 Jahre alt und im Ruhestand. Nein! Ruhestand bedeutet nicht ruhig gestellt. Der Mann bezog Einkommen, obwohl er nicht mehr arbeitete. Nochmals nein! Das war nicht Kommunismus pur. Im Kommunismus verwirklichen die Menschen ihre Fähigkeiten zum Nutzen der ganzen Gesellschaft und haben dafür Anspruch auf Befriedigung all ihrer Bedürfnisse. Tut mir leid, Karl, für eine solche Vision fehlt mir die Fantasie. Eine Menschenwelt ohne die drei großen G’s (Geld, Geiz, Gier) kann ich mir bisher kaum vorstellen. Ob ihr’s glaubt oder nicht: Es war nicht Karl Marx, sondern der Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper, der vor ein paar Jahren in einem großen Zeitungsinterview feststellte, dass nicht Liebe, sondern die drei großen G’s unsere Welt prägen. Statt sich aber gegen diese unliebsame Drei-G-Gesellschaft zu stemmen, entschied sich Kopper dafür, mit seiner ganzen Kraft diesem zerstörerischen System treu zu dienen.

 

Als Familienpfarrer meiner Großeltern wurde Propst Ehlers zur Beerdigung von Oma Pehlke eingeladen. Er gehörte zu den wenigen in der Trauerhalle, die die für mich nur schwer zu ertragenden Kirchenlieder textsicher mitsingen konnten. Ja, ich gebe zu, ich finde diese Lieder einfach lähmend und unmusikalisch. Kein Vergleich mit der Stimmung in den Schwarzenkirchen Amerikas. Denkt nur an die Predigt von Reverend Cleophus James alias James Brown in dem Film „Blues Brothers“! In den Schwarzengemeinden herrscht Hochstimmung, wenn hinter den Kanzeln die Gospelchöre zu rocken anfangen. Der schwarze Baptistenpastor Martin Luther King war für mich nicht nur ein fantastischer Redner und Bürgerrechtler. Der Mann war ein Rockstar, seine Predigten purer Rock ’n’ Roll.

 

Während der Trauerrede zu Omas Beerdigung in der Friedhofshalle standen Gabi und ich draußen vor der Tür, da drinnen alles voll war. Neben uns erzählte Onkel Willi, dass mit Omas Tod jetzt seine Generation dem Lebensende am nähesten rückte. „C’est ca la vie – Genauso ist das Leben. Es kommt fast nie, wie man sich das denkt.“ Das stimmte in diesem Fall nur zum Teil, liebe Daliah Lavi. Omas Tod kam zwar nicht so, wie wir uns das denken konnten. Er kam aber auch nicht ganz überraschend. Schließlich war Oma 78 Jahre alt. In so einem Alter muss man einfach auch mit dem Tod rechnen. Ich gebe zu, das klingt grausam. Aber nur, wenn man den Tod nicht als Teil des Lebens akzeptieren will.

 

Nach Omas Beerdigung traf sich unsere Familie noch zur Trauerfeier, auf der Gabi und ich Propst Ehlers dann kennenlernten. Ich erinnere mich, dass die Stimmung mehr als bedrückend war und niemand so recht etwas sagen wollte. Oma war das Oberzentrum aller Pehlkes, auch wenn sie nicht mehr Pehlke hießen. Plötzlich fing Propst Ehlers an, über seine Erinnerungen an Oma und Opa (der sechs Jahre vorher schon verstorben war) zu sprechen, nicht in diesem typischen Pfarrersingsang, sondern in einer einzigartigen Warmherzigkeit. Die Stimmung unter uns Trauernden wechselte abrupt. Als ob uns jemand von einer überschweren Last befreite, die uns zu ersticken drohte. Es wurde sogar gelacht. Ein fantastischer Seelsorger im eigentlichen Sinne. Und die meisten von uns waren ungläubige Heiden, wie Opa sagen würde.

 

Was hat mein ewig wiederkehrender Traum von Propst Ehlers und Retschow bloß zu bedeuten? Einerseits nervt er mich, andererseits versetzt er mich in stärker werdende Neugierde. Das Gehirn verarbeitet in seinen Träumen eigentlich neuaufgenommene mit bereits gespeicherten Informationen. Irgendwie scheint in meinem Kopf aber eine Art Informationsblockade zu herrschen, die diese Traumwiederholungen verursacht. Das hört sich schlimmer an, als es ist. Es tut nicht weh, versetzt mich aber in eine Art Trancezustand, der meine Gedankenwelt regelrecht beherrscht. Ob Franz Bartzsch die gleichen Erfahrungen machte, als er sang: „Träume wie Segel treiben mich durch das Meer, träume lebenslang. Träume wie Segel, macht das Eis sie mal schwer, wird mir das Herz schon mal bang.“ Ja, mein Herz ist mir bereits bang.

 

Was tun – Schto djelat? Die typische Lenin-Frage. 10 Jahre Unterricht im Russisch und in kommunistischer Philosophie haben Spuren hinterlassen. Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück werden mir jetzt nicht helfen. Ich muss mich entscheiden. Bloß wozu muss ich mich entscheiden? Ich kann ja wohl schwer dem Gehirn vorschreiben, was es in den Nächten zu träumen hat. Hallo! Meine Gedanken stammen vom Gehirn. Nicht ich beherrsche es, es beherrscht mich. Ich bin das Gehirn! Klingt wie der Songeinstieg aus John Lennons „I am the walrus“: „Ich bin er, wie du er bist, wie du ich bist!“ Ob Meditation oder Hypnose helfen? Tatsächlich sollen sie Fehlprogrammierungen im Gehirn reparieren können. Was ist, wenn der Traum eine Bedeutung hat, die mein ganzes Leben beeinflusst? Ist nur noch die Frage, ob zum Guten oder zum Schlechten. Und wenn ich dem Traum eine Bedeutung zumesse, was gibt es dann zu entscheiden? Ich muss mit irgendwem reden. Mit Irgendwem? Ich muss mit Gabi reden. Wann? Sofort! Es ist Sonnabend, kurz nach 12.00 Uhr. Und: I have a dream! Gesegnet sei Martin Luther King!

 

Ich zucke zusammen. Durch unsere Wohnung schallt ein Schrei: „I feel good“. Was für ein Hohn! Es ist James Browns Stimme, die mich ins Mark trifft. Ob Gabi mein Erschrecken bemerkt hat? Ich glaube nicht. Sie isst ruhig ihr Frühstücksei auf. Blödes Radio! Wenn du mich schon foppen willst, dann kannst du auch gleich Rio Reisers Titel „Alles Lüge“ spielen. Das reicht! Ich muss mich jetzt einfach zusammennehmen! Ich muss es Gabi sagen, wie beschissen ich mich eigentlich fühle. Entschuldigt! Mir fällt aber kein passenderer Ausdruck ein. Man darf ja wohl noch denken, ohne die Gedanken gleich auszusprechen. Ich sehe Gabi an, massiere vorsichtig meine Kaugelenke und öffne langsam meinen Mund: „Mir geht es nicht so gut!“ Jetzt ist sie rau, die für Gabi nicht überraschende Bluesbotschaft. Dazu passt eigentlich der quälende Mundilaut aus Ennio Morricones „Lied vom Tod“. Gabi sagt erst einmal gar nichts, wartet darauf, was da an weiteren Neuigkeiten noch kommt. Es hat keinen Sinn, mich zum Weitersprechen aufzufordern. Entweder ich öffne mich endlich, oder ich bin noch nicht soweit. Reden werde ich auf alle Fälle. Und sei es nur, um ihr mitzuteilen, dass etwas passiert ist, das ich aber geklärt habe. Wieso braucht der Mann bloß so lange Zeit, um sich mitzuteilen? Mit „der Mann“ bin ich gemeint. „Ich habe da einen Traum, der mich seit Tagen verfolgt“, beginne ich erneut. Ich muss ernst bleiben, um mit Seriosität zu überzeugen. Zum Glück bleibt auch Gabi ernst. Nachdem ich ihr den Traum beschrieben habe, schweigt sie immer noch. Sie erinnert sich sofort, wer Propst Ehlers ist, nein, war.

 

„Was willst du tun?“, will sie von mir wissen. „Keine Ahnung. Vielleicht hast du ja eine Idee? Es ist alles so real und unreal zugleich. Der Traum lässt mich einfach nicht mehr los. Er muss doch irgendeine Bedeutung haben. Es ist Propst Ehlers, der mich ruft. Also ein für mich positiver Mensch, der aber seit 20 Jahren tot ist.“ Ruhe. Wir starren uns lange an, starren an die Wände, starren ins Nichts. Dann schlürft Gabi plötzlich den letzten Schluck Kaffee aus einer Tasse, auf der ihr Name eingraviert ist. Die Gravur stammt von meiner Cousine Heide. Ich warte, ob Gabi zu einer Entscheidung gekommen ist. Sie beginnt, laut zu überlegen: „Ein Traum, der dich gefangen hält. Egal, was für ein Sinn dahinter steckt, du scheinst ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Du musst dich diesem Traum stellen.“ Was für große Worte. Ich warte ab, was da noch kommt an konstruktiven Ideen. Gabi denkt aber nicht daran, weiter zu erzählen. Soll das wirklich schon alles an Erkenntnis sein? Ich schaue sie an: „Was meinst du mit Du musst dich diesem Traum stellen‘?“ „Du musst dich nach Retschow begeben und nach Antworten suchen.“

 

Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen und wirke noch ratloser als vor unserem gemeinsamen Nachdenken. Mit diesem Ratschlag habe ich weiß Gott nicht gerechnet. Wenn einer von uns beiden bisher für verrückt gehalten wird, dann bestimmt nicht Gabi. Sie war immer diejenige, die mich zurück auf die Erde lotste, wenn ich mit meinen Gedanken ins Phantasialand schwebte. Aber jetzt? Ihre Worte können nicht ernst gemeint sein. Also frage ich weiter nach: „Ich kann doch nicht einfach nach Retschow fahren und sehen, was dort passiert. Und was für Antworten soll ich suchen, wenn ich nicht einmal die Fragen kenne? Wir reden hier über einen Traum, nicht über eine Wahr- oder Vorhersagung. Ein Traum kann doch nicht die Zukunft bestimmen.“ Ich schüttele den Kopf – über Gabi und über mich selbst. Mein Gedanken-Shake endet aber mit der Erkenntnis: Die Frau hat Recht! Mir fallen absolut keine brauchbaren Alternativen ein. Ich muss nach Retschow, was immer mich dort erwartet. Sonst wird mein Traum tatsächlich zu einem Albtraum. Menschen ohne Träume oder mit dem immer gleichen Traum sind zur Qual verurteilt. Und ich bin absolut nicht leidensfähig. NDR1, Radio MV spielt John Lennons traurigen Titel „God“ mit der Abschlusszeile „The dream is over“. Schön wär’s! Aber weder ist mein Traum vorbei, noch spielt dieser Sender Lennons „God“. Die kennen den Titel gar nicht, musste ich nach einem Interview zu Lennons 60. Geburtstag feststellen.

 

Den Historikern unter euch mag das etwa 800 Jahre alte Retschow als Ort bekannt sein, in dem Ende August 1813 eine Schlacht zwischen französischen und deutsch-schwedischen Truppen stattfand. Napoleons Soldaten holten sich auch hier blutige Köpfe. Die Schlacht war aber nicht so bedeutungsvoll wie Napoleons Waterloo, ansonsten hätte ABBA nicht „Waterloo“, sondern „Retschow“ zum Hit gemacht. Für drei in Retschow gefallene einheimische Jäger befindet sich auf dem Dorfplatz eine Gedenktafel, eine von den vielen Millionen Gedenktafeln in der Welt, die von sinnlosen Auseinandersetzungen der Tiergattung Mensch künden.

 

Ich selber kenne Retschow aus meiner Kindheit, als Oma und ich einmal mit alten Fahrrädern von Fulgenkoppel nach Retschow zum Einkaufen gefahren waren. Ein typisches DDR-Abenteuer! Wir mussten durch den Wald am Forsthaus Knoblich vorbei. Ich nenne das Forsthaus deshalb Knoblich, weil damals dort Förster Knoblich mit seiner Frau, seinem Sohn und seinen beiden hübschen Töchtern wohnte. In Retschow gab es einen Konsum, wo Oma ihre beiden großen braunen Einkaufstaschen mit Lebensmitteln und auch einigen interessanten Süßigkeiten füllte. Die Taschen waren randvoll bepackt und schwer. Dass ihr Fahrrad unter der Last nicht zusammenbrach, als wir zurückfuhren, war schon eine Sensation. Ich glaube, Oma war leichter als beide Taschen zusammen. So habe ich sie wenigstens in Erinnerung – die kleine, leicht nach vorn gebeugte, aber auch starke und liebenswerte graue Frau mit dem Kopftuch. Bei Oma habe ich als Kind übrigens Fahrradfahren gelernt. Berühmt hat mich Henry Kaufmanns „Lied vom Drahtesel“ gemacht: „Kling, klingelingeling, so singt mein Drahtesel, Drahtesel, wenn ich mit ihm durch die Straßen flitz wie der Blitz, macht es: Kling, klingelingeling, dann kommt mein Drahtesel, Drahtesel, sagen alle: Ei, potz Blitz, da kommt der flinke Fritz.“ Der „flinke Fritz“ hat er mich deshalb genannt, da sich Achim nicht auf Blitz reimt. Und ich bin heute noch ein Fan von Friedensfahrtlegende Täve Schur: „Den Fritz quält ein Gedanke nur: Er möcht so sein wie Täve Schur.“

 

Die Kirche von Retschow hat eine gewisse Bedeutung für die Pehlkes. Opa war hier als Kirchenratsmitglied Laienprediger. Meine Eltern heirateten hier. Mein Onkel Rudi wurde hier begraben, nachdem er 19-jährig verunglückte. Vor kurzem hat meine Nichte dort geheiratet. Da die Kirchgemeinde in Retschow zur Kirchenregion Bad Doberan gehört, war Propst Ehlers als Doberaner Pastor hier bis zu seiner Pensionierung zuständiger Seelsorger. So lernte er auch meine Großeltern kennen. Auf einem Pferdewagen trafen sie im Herbst 1945 mit ihren fünf Kindern, Opas Mutter Pauline und einer Tante Emma in Retschow ein und wurden zum Forsthof Fulgenkoppel weitergeleitet. Hier endete vorerst ihre Flucht aus Ostpreußen vor dem Krieg. Propst Ehlers war da schon 15 Jahre Pastor in Doberan.

 

Ehlers übernahm die Stelle 1930 von einem Vorgänger, der sich in der „Christlich-deutschen Bewegung“ engagierte. Ein nationalsozialistischer Pfarrer war damals auch in Mecklenburg keine Seltenheit. In Retschow diente sogar ein frühes NSDAP-Mitglied als Pfarrer, der dafür eintrat, dass Doberan als erste deutsche Kreisstadt Hitler im August 1932 die Ehrenbürgerschaft verlieh. Da war der Mann noch gar nicht an der Macht, hatte aber auch in Mecklenburg schon viele Fans bis in die Geistlichkeit hinein. Sich antifaschistisch bekennende Pfarrer wurden von Kollegen aus den Kanzeln gemobbt oder gar ans Fallbeil geliefert, die Judenverfolgung im Dritten Reich offiziell von den meisten evangelischen Landeskirchen begrüßt. Was für eine wahnwitzige Zeit! Die christlichen Kirchen haben eine blutige Bürde zu tragen, die viele Jahrhunderte in die Geschichte zurück reicht. Und haben sie sich damit ausreichend auseinandergesetzt? Ich glaube nicht. So wichtig es aber ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, so falsch ist es, die Menschen der Vergangenheit zu verurteilen, die mit völlig anderem Wissen und Erkennen aufgewachsen und geformt sind. Wir Menschen verkörpern eben nicht eine gottgewollte Gutmütigkeit. Hätte Gott sonst schon mal seine Sintflut über uns ergossen? Irgendwann hat er es aufgegeben, uns mit Strafen zum Besseren zu bekehren.

 

Meine Entscheidung, nach Retschow zu fahren, steht fest. Sobald mich Gabi davon überzeugt hatte, wollte ich auch nicht lange warten. Es ist nun einmal so, dass ich mit Geduld nicht großartig gesegnet bin. Darunter hatten vor allem Gabi und die Kinder öfter zu leiden. Obwohl ich mir dem immer bewusst war, kam nur selten eine Entschuldigung über meine Lippen. Ich glaube, dass das eine „Behlsche Krankheit“ väterlicherseits ist, obwohl auch Opa Pehlke stur und verletzend sein konnte. Vielleicht ist das auch bloß ein mieser Rechtfertigungsgrund, den ich mir da ausgedacht hatte. Die Weisheit, dass man Geduld erlernen kann, schien sich in meinem Gehirn nicht durchzusetzen. Zu meinem Glück verzieh mir Gabi so manche meiner Schlechtigkeiten. Die große Tanny Wynette konnte mit „Stand by your man“ ein Lied über Männer singen, die trotz Schlechtigkeiten von ihren Frauen mit Liebe verwöhnt werden: „Er wird Dinge tun, die du nicht verstehen wirst. Aber wenn du ihn liebst, wirst du ihm vergeben.“

 

„Ich komme mit“, fordert Gabi, während ich mich auf die Reise nach Retschow vorbereite. Nur kurz überlege ich: „Nein! Das funktioniert so nicht. In meinem Traum kommen nur Propst Ehlers und ich vor. Es könnte wichtig sein, dass ich allein erscheine.“ Gabi schaut mir vorwurfsvoll in die Augen. Ich muss mich verteidigen: „Ich weiß absolut nicht, was mich dort erwartet.“ Zwar habe ich keine Angst vor Retschow. Aber die ganze Sache ist so verrückt. Irgendetwas sagt mir im Inneren, dass ich alleine fahren sollte. Das hat nichts mit Vernunft zu tun. „Verrückt“ ist schon das richtige Wort. „Du musst mir einfach vertrauen, dass ich das Richtige tue, auch wenn ich es nicht erklären kann“, fahre ich fort. „Wie willst du selber erklären, dass wir uns von einem Traum leiten lassen? Nach Retschow zu fahren, ist doch auch nur eine Bauchentscheidung. Mein Gefühl sagt mir jetzt, ich muss da alleine hin.“ Ich hoffe, Gabi vertraut mir. Im schlimmsten Fall könnte es mir wie Sting in „Don’t You believe me“ ergehen: Sein Baby glaubte ihm kein Wort und verschwand.

 

Meine Bedenken scheinen aber zu wirken. Gabi gibt sich geschlagen: „Du nimmst aber mein Handy mit.“ Selbstverständlich wehre ich mich nicht dagegen, obwohl ich Handys, iPhones oder Smartphones nicht ausstehen kann. Sie mögen zwar ihre Vorteile haben. Menschen sind aber immer weniger in der Lage, sich mit sich selber zu beschäftigen. Und dieses Mitsichselberbeschäftigen ist so verdammt wichtig, damit wir nicht verlernen, unser Leben und Wirken aus eigener Sicht werten zu können. Wir machen uns immer mehr von fremden Ansichten abhängig, die zu prüfen, uns immer weniger Zeit bleibt. Und dann sitzen wir wie Jeff Lynne bei „Telefone line“ vor dem Telefonhörer und beklagen uns, dass wir in einer Dämmerung leben.

 

Gabi und ich waschen noch schnell gemeinsam unser Frühstücksgeschirr ab. Dann ist es so weit, Abschied zu nehmen. Ich ziehe meine Wintersachen an. Es ist immer noch ungemütlich draußen, obwohl dieser Winter bisher ohne Tagfröste auskommt. Dieser ständige feuchtkalte Wind macht einem aber ganz schön zu schaffen, vor allem einem Frostköttel wie mir. Ich liebe aber eisige Wintertage mit zugeschneiten Landschaften und heller kalter Sonne. Dann bitte ohne kantige feuchtkalte Winde. Mein Einfluss auf das Wetter war aber schon immer gleich null. Was soll’s! Selbst Louis Armstrong könnte mich nicht mit seiner Warnung „Baby, it’s cold outside“ von meinem Reiseplan abhalten. Ich bin zu allem entschlossen.

 

Am liebsten trage ich bei kaltem Wetter meinen Norwegerpullover mit breiter Halskrause, so auch heute. Gabi reicht mir noch Schal, Pudelmütze und Handschuhe. Ich soll sie vorsichtshalber mitnehmen. „Rufe sofort an, wenn du in Retschow angekommen bist!“ Ich gebe ihr mein Pionierehrenwort, dessen Bedeutung man ruhig mit dem Schwur auf die Bibel vergleichen kann. Behutsam ruckle ich an der Haustür. Sie klemmt immer ein bisschen und geht innen nach rechts auf. Als wir unser Haus bauen ließen, gab es gerade keine anderen Außentüren. Wir hätten warten müssen, wollten aber endlich einziehen. Inzwischen stört uns unsere Tür schon nicht mehr sehr. Je älter man wird, desto mehr nimmt man Abschied von der Vorstellung, dass alles perfekt zu sein hat. Es gibt natürlich die unerträglichen Gegenbeispiele. Wir Deutschen sind weltweit für unseren Drang nach Perfektion geliebt wie gefürchtet.

 

Ich verabschiede mich von Gabi mit einem Kuss. „Pass auf dich auf“, bittet sie diesmal besonders ernst. Ich antworte wie immer „Nein, du!“ Eine blödsinnige Antwort, die ich mir da angewöhnt habe. Gabi und ich haben schon lange nicht mehr ein Wochenende getrennt verlebt. Unter „getrennt verleben“ fallen keine Aktivitäten, die unser Beisammensein nur kurze Zeit stören. Die Reise nach Retschow fällt aber nicht unter solcherart Aktivitäten. Ich weiß, dass Gabi in der freien Zeit gerne zu Hause ist, während ich einfach raus muss. Sie wäre nicht unglücklich, wenn ich für ein paar Stunden mal alleine verschwinde. Dann kann sie sich einfach mal nur mit sich selber beschäftigen. Vielleicht ein Buch lesen. Sie bekommt jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten immer viele Bücher geschenkt. Was ihr oft fehlt, ist die Zeit, diese Bücher auch zu lesen. Heute würde sie aber gern auf ein Alleinsein verzichten.

 

Wat mutt, dat mutt, wie der Meckelbörger immer so schön sagt. Ich trete vors Haus, schließe schnell wieder die Tür. Denn der freche kalte Wind bläst direkt auf unseren Eingang. Von draußen winke ich Gabi noch durch das große Küchenfenster zu. Ich öffne die Fahrzeugtür, schmeiße Schal, Handschuhe und Pudelmütze auf die Rückbank, öffne das Grundstückstor, steige ins Auto und fahre rückwärts auf die Straße. Also dann mein Auto: Bringe mich zur Kirche nach Retschow! Im Radio singt Hozier gerade seinen Titel „Take me to church“. Wie passend! Halten wir fest: Es ist jetzt kurz nach 13.00 Uhr.

Bring mich zur Kirche

Am schnellsten fährt man nach Retschow über die Autobahn A20 zwischen Wismar und Satow. Von Satow bis zum Ziel ist es dann nur noch ein Katzensprung über ein paar Landstraßen. Wollen wir uns wirklich streiten, wie weit ein Katzensprung ist? Zur Autobahnauffahrt Wismar-Mitte gelangt man über Dorf Mecklenburg/Metelsdorf. Mein Schwiegervater ist auf solche Informationen geradezu versessen, wenn wir uns über Autotouren unterhalten. Jawohl! Dorf Mecklenburg ist Namensgeber für das gesamte Mecklenburger Land. Hier errichteten vor etwa 1400 Jahren die slawischen Obotriten die spätere Mecklenburg, die sogar kurzzeitig Fürsten- und Bischofssitz wurde. Heute gibt es keine Slawen und auch keine Mecklenburg mehr in Dorf Mecklenburg. Schuld sollen die Sachsen sein, die die heidnischen Obotriten im 12. Jahrhundert blutig zum Christentum bekehren wollten, nachdem sie selber 300 Jahre vorher von den Franken blutig zum Christentum bekehrt wurden. Meine vorhandenen Bedenken gegen Religionen fußen also auf historischen Ereignissen, die mehr als 1000 Jahre zurückliegen.

 

Mit Kraftwerks „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ gelange ich zur Autobahnausfahrt Satow. Ich schwöre, dass ich die Ausfahrt rechtzeitig mit meinem rechten Blinker angezeigt habe, obwohl die Straße absolut leer war. Die spätere Anzeige, ich hätte nicht geblinkt, ist mir deshalb einfach unverständlich. Nachdem ich Satow passiert habe und mich Retschow vom Süden her nähere, wird mir immer mulmiger. Ich habe kaum Augen für die Landschaften, die an meinen Autofenstern vorbeihuschen. Die Natur hält sowieso noch Winterschlaf und geizt mit ihren Reizen. Ich kann auch keine Menschen auf den Straßen erblicken. Es ist einfach zu unerträglich. Der Wind bläst jedem die kalte Feuchtigkeit ins Gesicht, der es wagt, sich ihm entgegenzustellen. Die Wolken lassen keinerlei Sonnenlicht zur Erde. Ein typisches „Depriwetter“, das ganz schön auf das Gemüt schlagen kann. Denn Lichtmangel regt unser Gehirn zur Produktion des „Schlappmacher“-Hormons Melatonin an, das aus dem Glückshormon Serotonin entsteht. Ich merke schon richtig die Wirkung des Melatonins und den Mangel an Serotonin. Hilfe!

 

Endlich bin ich in Retschow. Vor mir taucht auch schon die Kirche auf, ein typischer Backsteinbau aus dem 14. Jahrhundert. Ich weiß, ihr seid scharf auf noch mehr Informationen zur Kirche, die ich euch auch nicht vorenthalten will: Erstmals erwähnt wurde sie 1233. Sie steht auf einer kleinen Anhöhe, was aber typisch für Kirchen ist. Genauso typisch ist, dass sich der Kirchturm im Westen befindet. Es handelt sich um einen hölzernen Turm, der vor fast genau 360 Jahren entstand. Umgeben wird die Kirche von einem kleinen Friedhof, dieser wiederum von einer nicht allzu hohen Steinmauer. Auffallend auf dem Friedhof ist die monumentale alte Winterlinde mit einem Stammumfang, der 7 Meter betragen soll. Sie ist über und über berankt und innen hohl. Mir fällt gerade ein, dass auch Sinead O’Connor voriges Jahr laut darum bat, sie zur Kirche zu bringen: „Take me to church“. Wie bei Hozier ist auch ihre Kirche kein Ort zur Anbetung eines Gottes als Herrn, sondern ein Ort der Liebe. Das ist eine so schöne Vision, die auch mich öfter in die Kirche treiben könnte.

 

Mir kommt Retschow immer wie ein Zurück in eine längst abgeschriebene Zeit vor, die aber Teil meines schon lange währenden Lebens ist. Dieser Lebensabschnitt hat abrupt geendet mit dem Tod meiner Großeltern, eigentlich noch vor dem Ende meiner Kindheit. Irgendwann hatte ich aufgehört, meine Eltern zu begleiten, wenn sie die Großeltern in Fulgenkoppel besuchten. Dieses Recht als Heranwachsender habe ich mir einfach genommen, auch wenn es mir später leid getan hat. Ich weiß, wie gerne Oma und Opa ihre Behlschen Enkel um sich hatten. Das letzte Mal sah ich beide zusammen bei ihrer goldenen Hochzeit, die wir in ihrem Haus feierten. Ich kann mich gar nicht erinnern, jemals mit meinen Großeltern Familienfeste in einer Gaststätte begangen zu haben. Das war für uns Gäste nicht schlimm. Aber für Oma? Zur goldenen Hochzeit hatten wir auf alle Fälle besseres Wetter als heute.

 

Gegen 13.50 Uhr parke ich meinen Seat neben der Kirche. Es ist noch gar nicht lange her, dass Gabi und ich mit Julchen und Wolfi hier der kirchlichen Trauung unserer Nichte beiwohnten. Sie hat immer so ein besonderes Verhältnis zur eigenen Familiengeschichte. Ihr Vater, mein Bruder Wolfgang, wurde hier getauft, wenn auch nicht ganz nach dem freien Willen der ungläubigen Eltern. Es sollte wohl mehr eine Friedensgeste an die Großeltern sein. Ich schaue suchend zum Kircheingang, kann aber nichts entdecken, was irgendwie als ein Zeichen meines Traumes zu deuten wäre. Wo ist zum Beispiel der winkende Propst Ehlers? Niemand ist zu meinem Empfang erschienen. Jetzt bloß nicht gleich die Nerven verlieren! Juliane Werding wartete in „Wo bleibt mein Leben“ auch auf ein Zeichen, weil sie das Gefühl hatte, dass alles vorbei ist und das Glück einen Bogen um sie macht. Also, wenn hier Zeichen tatsächlich vergeben werden, dann zuerst an Juliane, die es nötiger hätte als ich. Aber was mache ich jetzt? Einfach zurückzufahren, ist keine gute Idee. Hier sind Engagement und Initiativkraft gefragt. Das Wort „aufgeben“ gibt es nicht in meinem Wortschatz. Streicht einfach den letzten Satz. Ab und zu gehen meine Gedanken mit mir durch.

 

Ich öffne die Pforte zum Friedhof und gehe langsam und bedächtig auf das Gotteshaus zu, auf mögliche Überraschungen mental eingestellt. Das Eingangstor ist offen. Na wenigstens daran scheitert meine Mission nicht. Also hinein in die gute Stube, die eine Kirche ist. Von innen höre ich Jürgen Kerth singen: „Komm herein und mach’ die Tür fest zu. Denn wenn du so auf der Schwelle stehst, krieg ich Angst, du könntest gleich wieder gehn’.“ Sein Gesang ist wohl eher eine Halluzination. Trotzdem trete ich in die Kirche ein. Ich schaue mich innen nach allen Seiten um. Aber auch hier sieht alles wie immer aus. Die hölzernen Sitzreihen sind leer. Auf dem Ziegeltisch vor dem Altar stehen vier Kerzen und das Jesuskreuz. Die freistehende Kanzel ist verwaist. Jetzt ist der Augenblick, dass ich vollends an meinem eigenen Verstand zweifle. Bin ich der Trottel auf dem Hügel, von dem Paul McCartney in „The fool on the hill“ singt? Wenn ja, wer sind dann die Idioten, die mich nicht erkennen können? Was habe ich in Retschow eigentlich erwartet? Dass Propst Ehlers tatsächlich von den Toten auferstanden ist und mich herzlich begrüßt? Ich versuche, meine Enttäuschung in Grenzen zu halten. Dass Retschow ein Reinfall für mich wird, damit musste ich rechnen. Mich ärgert aber dieser Reinfall. Ich bin auch nur ein Mann, der geliebt und respektiert werden will.

 

Niedergeschlagen entscheide ich mich zur Rückkehr und blicke auf den Ausgang der Pehlke trächtigen Kirche. Doch halt, was ist das? Das Kirchentor wird plötzlich von einem merkwürdig anmutenden hellen Lichtstrahl getroffen. Aus Niedergeschlagenheit wird Neugier, und aus Neugier wird Hoffnung: „Vorn ist das Licht! Du kannst es sehen! Vorn ist das Licht! Beim Vorwärtsgehen! Vorn ist das Licht! Trägt die Jungen! Wir sind vorn!“ Für die Puhdys wurde ein Lichtstrahl zur siegessicheren Kampfesbotschaft, die sich aber als unerfüllbar erwies. Das kann mich aber nicht abschrecken. Ich suche James Brown, der auch mich fragt: „Siehst du das Licht?“ Ja, ich sehe das Licht, nach dem Tausende verlorene Seelen suchen. Ich habe gefunden, was sie nie finden werden. Es ist zu spät, nicht aber für mich. Denn ich bin ein „Blues Brother“. Sendet der Herr mir tatsächlich sein göttliches Licht? Ich muss mich zusammennehmen, um nicht vom Nichtglauben abzufallen. Vorsichtig taste ich mich zum Kirchtor, Schritt für Schritt und mit wachen Sinnen. Dann stehe ich vorm Ausgang. Es sind tatsächlich Sonnenstrahlen, die in die Kirche luken. Meine Überraschung bleibt. Von einem Wetterumschwung war nie die Rede. Dabei höre ich täglich die Wetternachrichten im Fernseher und Radio. Sollte sich der junge Kreibohm vom Wetterstudio Hiddensee wieder mit seiner Vorhersage vertan haben? Manchmal habe ich den Verdacht, dass die Hiddenseeer Wetterfrösche einen Vertrag mit der Tourismusindustrie haben. Aber dann hätte Kreibohm die nahende Schönwetterlage doch bestimmt ins Puschelmikro gehaucht.

 

Draußen erwartet mich eine wohlige Wärme. Ich schaue nach oben. Der Himmel leuchtet im vollen Blau. Von den dunklen Wolken sind nicht einmal die fliehenden Reste zu sehen. Überall blühen Butterblumen. Die Bäume strahlen im hellen Grün. Ich bin begeistert. George Harrison war von der aufgehenden Sonne nach einem langen, kalten, einsamen Winter so entzückt, dass er gleich seinen absoluten Hit „Here comes the sun“ schrieb. Da ich kein Liedermacher bin, begnüge ich mich damit, Petrus laut für diesen Sonneneinfall zu danken. Wenn meine Fahrt nach Retschow schon ohne die von mir erhofften Antworten bleiben soll, so habe ich wenigstens das ideale Wetter eines Kältemuffels gefunden. Ich bin mir fast sicher, dass Retschow der einzige Ort in Mecklenburg, ach was, in ganz Deutschland und dem Rest der Welt ist, wo heute die Sonne scheint. Es ist so warm, dass ich sogar meine gefütterte Winterjacke ausziehen kann. Arme Gabi! Sie sitzt jetzt bestimmt in der Stube und muss sich mit der Wärme unserer Nachtspeicherheizung zufrieden geben.

 

Vor der Kirche merke ich, dass ich nicht mehr alleine bin. Auf der anliegenden Straße, die die Kirche vom alten Friedhof trennt, spazieren eng umschlungen ein junger Mann und eine junge Frau. Nur langsam bewegen sie sich vorwärts. Ich kann sie von oben gut beobachten. Sie mögen um die 20 Jahre alt sein, etwas jünger als mein Basti. Ein wenig irritiert mich ihre schlichte Kleidung. Der Junge trägt eine grüne Forstuniform. Als Spross einer Försterfamilie erkenne ich so etwas sofort. Die Frau im bunten Kleid fällt durch ihre Lockenpracht auf, die bis zu den Schultern reicht. Sie erinnert mich an junge Frauen im typischen 50er-Jahre-Look.

In der rechten Hand hält sie einen kleinen Blumenstrauß. Die beiden gehen nach vorne zum Eingang des alten Friedhofs und verschwinden dann aus meinen Sichtbereich.

 

Irgendwas stimmt hier nicht. Ich meine jetzt nicht nur das junge Pärchen. Ich sehe rüber zum alten Friedhof, der sich in gleicher Höhe wie die Kirche befindet. Eine etwa zwei Meter hohe Pflanzenhecke hinter einem Holzzaun versperrt mir aber die Sicht auf die sich dort noch befindenden alten Grabsteine. Was ist hier los? Wo kommt auf einmal diese Hecke her? Im letzten Sommer war dort alles noch ebene Grünlandschaft. Der alte Friedhof wurde schon lange nicht mehr genutzt. Hier lag bis vor 40 Jahren die Asche meines Onkels Rudi begraben. Meine Tante Doris hatte mir nach der Trauung meiner Nichte auf dem alten Friedhof die Stelle gezeigt, wo sein Grabstein stand. Sie sagte damals: „Rudi, ich stelle dir deinen Neffen Achim vor, Gerdas mittleren Sohn!“ Ich war unheimlich gerührt von diesen Worten, ohne ihr das aber zu zeigen. Sie und Onkel Willi mussten sich an den Bäumen orientieren, um die ungefähre Grabstelle zu finden.

 

„Hallo!“„Könnt ihr mich hören?“„Hello“

 

Lasst mich euch gleich die Geschichte von Rudis tragischem Tod erzählen. Er war zwei Jahre älter als meine Mutter, die sehr an ihm hing. Nachdem er die 8. Klasse in Retschow beendete, absolvierte er in Doberan eine Gärtnerlehre. Danach kam er zu einer Chrysanthemengärtnerei nach Quedlinburg, eine Stadt an der Bode nördlich des Harzes. Bei einem Ausflug ins Bodetal hatte er den hohen Wachtlerfelsen bestiegen. Er verunglückte an einem Felsvorsprung, der nachgab. Ich habe mir den Felsen einmal im Internet angesehen, der absolut nicht für einen ungeübten Bergsteiger zum Klettern taugt. Dabei soll Rudi ein ruhiger, überlegender und vorausschauender Junge gewesen sein. Sein Tod war für meine Mutter derart traumatisch, dass es mir sogar als Kind leid tat, als ich von dieser Geschichte hörte. Zweieinhalb Jahre nach Rudis Tod lernten sich meine Eltern kennen und lieben. Es war nach dieser Traurigkeit ein Segen für Mutter.