Impressum

Liselotte Pottetz, Anatol Barowski

Schwarzer Storch – Weißer Schatten

ISBN 978-3-95655-747-7 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: maxglauer

 

Die Druckausgabe erschien in der vorliegenden Fassung 2016 im Verlag „Mirwal ART“, Walbrzych.

 

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Zum Buchtitel: Über Störche in Belarus

Störche sind für Belarus – Land der Seen, Sümpfe und Wälder – ein Symbol. Für die Belorussen sind sie geheiligte Tiere, werden wegen ihrer blauen Augen, den Seen gleich, liebevoll „Blauauge” genannt. Einen Storch umzubringen gilt als große Sünde. Von den Dorfbewohnern werden sie fast wie Haustiere behandelt und für die klügsten aller Vögel gehalten. Um die „Glücksbringer” anzusiedeln, bereitet man ihnen den Nestbau vor, indem man auf hoch gelegenen Stellen oder auf hohen Bäumen Wagenräder, Gestelle und dergleichen anbringt. In der Mythologie spielen sie eine wesentliche Rolle, unzählige Sagen, Legenden und Märchen ranken sich seit Jahrhunderten um diese Tiere. Der Weißstorch liebt die Zivilisation, die Nähe zu Menschen. Im Gegensatz dazu zieht sich der Schwarzstorch in dichte Laubwälder (Eichen, Erlen), seltener in Kiefernhaine, in die Stille und Einsamkeit zurück. Die Schwarzstörche, eine vom Aussterben bedrohte Vogelart, breiten sich in Eurasien, auch im südlichen Teil Belorusslands, seltener in nördlichen und sehr selten in westlichen und östlichen Gebieten aus. Ihre Zahl verringert sich jedoch von Jahr zu Jahr. In den dichten Wäldern von Polesje registrierte man 1953 in einer Entfernung von 1-1,5 km jeweils 4 Nester, von 1972-73 im Pripjatjer Schonrevier 16 Vogelpaare. Die Schwarzstörche ernähren sich von Fischen, Wassermolchen, Wasserkäfern mit ihren Larven, manchmal von Eidechsen, aber nicht wie die Weißstörche von auf dem Land lebenden Insekten oder mäuseähnlichen Nagetieren. Sie erreichen eine Körperlänge bis 100 cm. Kopf, Hals, Kropf und Rücken sind schwarz mit einer grünlichen und rot-violetten metallenen Färbung. Unbefederte Teile am Schnabel, um die Augen, der Schnabel selbst und die Beine sind rot. Die Nester, ohne Unterbrechung bis zu 14 Jahre bewohnt, werden aus trockenen Zweigen – auszementiert mit Erde, Lehm und Gras – gebaut. In der zweiten Aprilhälfte legen die Störchinnen 3-5, am häufigsten 4 große, weiße Eier. Die Jungen schlüpfen Ende Mai aus, werden in den letzten Julitagen flügge. Von 3 Nestlingen wirft die Störchin den schwächsten aus dem Nest, weil er die weite Flugstrecke nicht bewältigen könnte. Die Storchenfamilien fliegen Ende August / Anfang September gemeinsam oder einzeln nach Afrika. Kommen wir zum Buchtitel zurück. Bewohner der Pripjatjer Gegend erzählten, nach der Explosion im Atomkraftwerk wären die weißen Störche schwarz geworden, unter ihnen strahlten beim Fliegen weiße Kreuze. Vom Strontium leuchtet die Erde weiß („Weißer Schatten”). In der Sperrzone sind sie verschwunden, weil die Menschen, ohne die sie sich nicht wohl fühlen, verschwunden sind.

(Aus „Enzyklopädie der Natur Belorusslands” – Verlag „Belorussische Sowjetische Enzyklopädie” namens Petrus Browko. Minsk. 1983.)

Das Storchenpaar Aiwa und Aij

Schon lange vorher, als sich die Störche noch sehr weit von diesen Orten – noch tausende Kilometer entfernt – befanden, als sie sich erst anschickten, den weiten und beschwerlichen Weg aus Nordafrika anzutreten, fühlte die junge Störchin Aiwa irgendeine unerklärbare innere Unruhe.

Das war ihr noch nie passiert, dass sich zu Beginn der Reise solche unbegreiflichen Bedenken einschlichen, die sie zwangen, an den morgigen Tag zu denken.

Doch je weiter sie zusammen mit Aij von den warmen Ufern Afrikas in das ferne Land der reichen Wälder flog, desto tiefer und hartnäckiger überkamen sie ernsthafte Zweifel - vielleicht sollte man sich nicht auf den weiten Weg begeben, sein Leben riskieren.

Aber der uralte Instinkt der Rückkehr in die heimatlichen Gefilde siegte und verlieh den Flügeln Stärke und Kraft. Dann beschäftigten sie beruhigende Gedanken – das vertraute Nest, wo sie einstmals bei den Eltern aufgewachsen war, wo sie mit Aij einige Generationen Junge zur Welt gebracht hatte und von neuem bringen wird. Das wiederholte sich von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert.

Schweigsam mit den Flügeln schwenkend, hielten sie zusammen mit anderen Störchen Kurs in das entfernte Belarus, in den stillen und nicht rauen Wald. Eine angenehme, milde Luft trieb sie höher und höher, sodass sie weniger die Flügel schwenken mussten, die Kräfte schonen konnten, damit sie für den langen Weg ausreichen.

Aiwa schaute auf die himmelblaue Färbung des Meerwassers, auf die grünen Inselchen, auf die Felder, aber ihr Mutterherz wurde wieder und wieder von der bitteren Ahnung durchdrungen, dieses Jahr würde den Jungen kein Glück bringen, weil sie ihre Kinder im Stich gelassen hatte. Und schon zum fünften, sogar zum zehnten Mal wollte sie Aij den Vorschlag machen umzukehren, zurückzufliegen, heimzukehren ins afrikanische Paradies, dort ihre verbliebenen Tage und Jahre zu verleben. Sie sagte es nicht und Aij hörte ihren alarmierenden Aufschrei nicht. Selbst wenn er ihn gehört hätte, wäre er mit ihr nicht einverstanden gewesen, hätte ihr sogar verboten, an so etwas überhaupt zu denken. Und so jagte sie ihr Instinkt immer stärker und stärker, trieb sie in das von Wald umgebene Dörfchen Koschuschki, wo direkt neben dem Friedhof, auf einem gelben, sandigen Hügel eine schlanke, kupferstämmige Kiefer in den Himmel ragte. Auf ihren Wipfel hatten gute Dorfbewohner einen Horst gebaut, eine Egge, die sie mit Zweigen beschichteten. Danach brachten Aiwas Eltern Ordnung in das Nest, bedeckten den Boden mit weichen Flaumfedern, um es den künftigen Kindern gemütlich einzurichten.

Als Aiwa sich mit Aij vereinigte, ließen sie sich im selben Nest nieder, flogen zuvor in den ausgetrockneten Sumpf und polsterten das Nest aus.

Nach Beendigung der Arbeit richteten sie ihre Schnäbel gen Himmel, verkündeten mit lautem Klappern ihre Ankunft, damit den Dorfbewohnern gleichzeitig ihre Dankbarkeit bezeugend.

Aij war als erster geflogen. Einstimmig hatte man ihn zum Führer des Vogelzuges gewählt, was Aiwa mit großem Stolz erfüllte, weil sie ihn liebte, an ihn glaubte, sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Sie flog hinter dem Anführer, am linken Flügel des Dreigespanns, wusste, wie man ihm, dem ersten, mit der Brust die Luft zerschneiden muss. Sie wusste auch, dass er eine gewaltige Kraft besitzt und während des ganzen Fluges niemanden um Ablösung bitten wird.

„Nun, wie geht es dir, Aiwa?”, schickte er ihr gedanklich die Frage. – „Bist du nicht müde, reichen deine Kräfte noch aus?”

„Mir geht es gut, mein teurer, geliebter Aij”, antwortete die Störchin und freute sich über solch eine Fürsorge seinerseits, - „du hast die ganze Last auf dich genommen, auf deine Schultern gebürdet, damit uns das Fliegen leichter fällt.”

„Wie geht es den anderen?”

„Sie folgen auch deinem Weg und brauchen deine Unterstützung.”

„Von dir gehen solch eine Unruhe und Traurigkeit aus. Was fehlt dir nur, meine Liebste?”

„Achte nicht darauf! Das sind die üblichen Weibersorgen. Eine Mutter denkt immer an den morgigen Tag mit Unruhe. Ich habe ja dich und brauche nichts zu fürchten.”

„Richtig. Alles wird gut, gräme dich nicht! Denk nur an Gutes, daran, dass uns eine waldreiche Gegend mit heilkräftiger Luft und reicher Beute erwartet. Nirgends auf der Welt gibt es ein solch herrliches Fleckchen Erde, das uns Gott geschickt hat. Gut auch, dass nicht alle Sümpfe trockengelegt sind, sodass die Kinder Nahrung finden, sobald sie auf eigenen Füßen stehen.” Schon das dritte Jahr flog sie mit Aij zu dieser Stelle.

Es ist ein Ort, ein Nest, von dem sie im fernen Lande geträumt haben, als ob es sie herbeigezogen, angelockt hätte. Mit großer Freude und Aufregung zog es sie jedes Frühjahr in die Heimat zurück. Sie legte die Eier, brütete sie aus, wartete geduldig, bis ein Junges mit dem Schnäbelchen an die harte Schale klopft; sie saß, wenn schmutzig-graue Wolken einen Platzregen auf die Erde prasselten; sie saß, wenn ein in Wut geratener Wind zürnte und tobte und drohte, das Nest auf die Erde zu reißen.

Aij hatte es nicht leichter. Er flog von Sumpf zu Sumpf, von Graben zu Graben, trug nach mühevollem Suchen mit seinem langen Schnabel Frösche und Nattern, Kriechtiere und Mäuse zu ihr ins Nest, fütterte seine Gemahlin fürsorglich, zärtlich. Er sah, wie ihre Kräfte schwanden, die Erschöpfung zunahm.

Widerspruchslos erduldete sie alles, riss sich zusammen, hoffte, dass sie zu Kräften kommen wird. Mehr als einen Monat saß sie im Nest, brütete fünf Eier aus. Ihre beharrliche Geduld wurde belohnt, aus den Eiern begannen die Küken zu schlüpfen. Was für eine Freude sie dabei empfand, kann man nicht beschreiben.

Die eben geschlüpften Störchlein wollten sofort gefüttert werden, rissen ihre Schnäbel auf, kreischten, schrien. Mit großer Freude schleppte Aij für die Kleinen das Futter heran. Aiwa flog erst nach einer Woche zum Sumpf, nachdem sie wieder zu Kräften gekommen war. Unermüdlich brachten sie ihren Jungen Eidechsen, Frösche, Nattern. Futter fanden sie reichlich.

Jener glücklichen Tage erinnerten sie sich, den Kurs zum heimatlichen Nest einschlagend. Die Erinnerungen gaben ihnen Kraft.

Und da! Wieder mal nahte das vertraute Dorf. Über ihm waren die hohen Schornsteine zu sehen, aus denen aus irgendeinem Grund kein Rauch stieg. Da erstreckten sich der Sumpf und die Felder. Und endlich! Die hohe Kiefer mit ihrem Nest. Nein, niemand war ihnen zuvorgekommen, niemand blickte neidisch auf ihre Behausung. „Vielleicht sind wir ein wenig zu früh gekommen?” In den Niederungen, wo sich der Schatten versteckte, lag noch ein grauer, feinlöcheriger Schnee. Die Sonne brannte schon eifrig. Gleich wird sie die Täler beleben, werden die Bäche zu rauschen beginnen. Hungern werden wir nicht.

Wie jedes Jahr richteten sie die Schnäbel zum Himmel, verkündeten mit freudigem Geklapper ihre Ankunft. Das hörten die Koschuschkowzer, freuten sich, schauten zu ihnen:

„Endlich sind unsere Frühlingsboten eingetroffen! Danke, Herr! Das heißt, bald können wir mit der Aussaat beginnen.”

 

Die Freude der Störche über die Einigkeit mit der Natur und Heimaterde übertrug sich auch auf die Menschen. Mit dem Frühlingsbeginn erwachte in ihren Herzen die Hoffnung auf warme und glückliche Tage, schwand das beklemmende Gefühl der Traurigkeit.

Im ersten Jahr, als sich das Storchenpaar vereinigte, spielten im Sand, unter dem Nest, Kinder – ein Junge und ein Mädchen.

Olesja, nachdem sie gehört hatte, wie die Störche mit ihren langen, roten Schnäbeln klapperten, verliebte sich in die hübschen, klugen Vögel, sagte zu ihrem Freund Andrej: „Weißt du was, ich habe mir für die Störche Namen ausgedacht.” Andrej unterbrach seine Beschäftigung im Sand, schaute erwartungsvoll auf seine Freundin: „Und welche?”

Olesja, die im Sand kniete, erhob sich, blickte zu den Störchen und sagte feierlich: „Den Hausherren nenne ich Aij, aber seine Gemahlin Aiwa.” Andrej, zu den Nestbewohnern blickend, erwiderte: „Schöne Namen hast du dir ausgedacht, Olesja.”

Dann setzten sie sich wieder in den Sand, fuhren mit ihrer Beschäftigung, Schlösser und Häuschen zu bauen, „Plinsen zu backen”, fort. Gleichzeitig kam ihnen der Gedanke, das frisch getaufte Paar zu modellieren, er den Aij, sie die Aiwa. „Andrej, wie alt können Störche eigentlich werden?” „Vater sagte mehr als 30 Jahre.”

„Aber wie lange werden wir leben?”

„Ich weiß nicht. Aber wir beide zusammen werden ein langes und glückliches Leben führen.”

„Warum ein langes?”

„Weil du und ich so leben werden wie Aiwa und Aij. Nach vielen Jahren werden wir diese Kiefer, dieses Nest, besuchen.”

In diesem Moment war ersichtlich, dass der Junge seine tiefen Gefühle preisgab, ihr seine Zuneigung gestand. Ob Olesja ihn verstand, bleibt unklar. Sie runzelte die Stirn, dachte über seine Worte nach und begriff nur, dass Andrej ihr etwas Intimes, sehr Wichtiges, irgendwie Geheimnisvolles, Freudiges anvertraut hatte , das man abwägen und überdenken musste, bevor man eine Antwort gab.

Seit diesem Tag gingen sie häufig zur Kiefer, brachten den Störchen Futter, riefen sie bei Namen, die ihnen zu gefallen schienen. Vernahmen sie die Kinderstimmen, reagierten sie darauf, indem sie die Schnäbel gen Himmel richteten, die Augen schlossen, sie mit einem freudigen Geklapper begrüßten. „Warum nur kommen in diesem Frühjahr die Kinder nicht?”, fragte sich ganz zerstreut die Störchin. Wiederum unterdrückte sie ihre unerklärlichen Zweifel, beruhigte sich selbst, indem sie sich einredete, die Kinder wüssten bestimmt nichts von ihrem Eintreffen, hätten Wichtigeres zu tun.

Aiwa weihte Aij nicht in ihre verborgene Unruhe ein, bemerkte aber: Je häufiger die Sonne ihre wärmenden, wohltuenden Strahlen schickte, je angenehmer die Tage wurden, desto mehr zerriss es ihr das Herz vor unglaublichen Schmerzen.

Genauso wie im vergangenen Jahr, als sie von ihren fünf gerade erst geschlüpften Kindern drei aus dem Nest geworfen hatte. Damals trauerte sie, weinte, tat es trotzdem, weil sie wusste, dass nur zwei von ihnen den anstrengenden Flug nach Afrika überleben können.

Der Junge und seine Freundin waren zur Kiefer gekommen, hoben behutsam die noch lebenden Störchlein auf, schauten mit schüttelndem Kopf zum Storchennest empor und konnten sicherlich die Grausamkeit von Aij und Aiwa nicht verstehen. Olesja weinte, hielt das langschnäblige Vögelchen im Arm, drückte es an sich. Aiwa weinte, weinte deshalb, weil sie dem Mädchen nicht erklären konnte, weshalb sie so herzlos mit ihren Kindern umgegangen war. Aiwa verstand ihr seltsames Empfinden nicht. Sie schwieg und ihre Blicke schweiften, angstvoll irgendetwas suchend, in die Umgebung.

Mürrisch und schweigsam verhielt sich auch Aij. Bestimmt begann auch er etwas Unheilvolles zu ahnen, er kniff die Augen zusammen, steckte den Schnabel unter den Flügel, stand auf einem Bein. Schwermut und Bitterkeit gingen von ihm aus.

In jener Nacht fanden sie beide keine Ruhe. Man hätte schlafen, sich erholen, neue Kräfte nach dem langen Flug sammeln müssen, sie aber konnten und konnten sich von ihrer Erregtheit und Unruhe nicht befreien. Schon krochen dunkle Schatten über die Erde, der Himmel zog sich zu unheilvollen Wolken zusammen, als ob ein starker Regen droht. Jedoch sie hielten es in ihrem Nest nicht aus. Irgendjemand stieß sie aus ihrem Nest, so, wie es Aiwa im vergangenen Jahr mit ihren Nestlingen gemacht hatte, ihnen befohlen hatte, in den Himmel zu fliegen.

Mitten in der Nacht, gleich nach ein Uhr des Nachts, schrie Aiwa auf, lehnte sich an Aij, umklammerte seinen Hals, als ob sie sich verstecken wollte, als ob er sie vor etwas Furchtbarem und Bösem beschützen könnte.

Und er spürte ihre Angst, die auch ihn ergriff. Sie wussten noch nicht, was mit ihnen geschehen wird, witterten nicht das hereinbrechende Unglück, wurden aber von einer bösen Vorahnung gequält, die mit jedem Augenblick stärker und stärker wurde.

Tschernobyl: Nacht vom 25. zum 26. April 1986

Um 1 Uhr 23 Minuten 40 Sekunden drückte der Schichtleiter Alexander Akimow den Schaltknopf des Havarieschutzes, auf dessen Signal alle Regelstäbe der Spaltzone, die sich oben befanden, aktiviert wurden, auch die Stäbe des Personenschutzes.

Aber davor waren in die Zone der Schutzblockstrecke jene verhängnisvollen Kräfte, die einen Anstieg der Reaktivität um ein halbes Beta vollziehen, eingedrungen. Und sie gingen in den Reaktor in dem Moment hinein, als sich dort die gewaltige Strahlungsumwandlung vollzog. Genau dieser Effekt hatte einen Temperaturanstieg der Spaltzone zur Folge. Es vereinigten sich drei für die Spaltzone negative Faktoren. Diese verdammten 0,5 Volt erwiesen sich als das letzte Tröpfchen, das den Reaktordruckbehälter überfüllte.

Der Unfall geschah, weil es nicht gelang, die unerwartete Energiezunahme aus der Kettenreaktion durch das sofortige Einfahren der Steuerstäbe, die viel zu langsam reagierten, zu stoppen.

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Block 4 nach der Explosion

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Bau des Sarkophags

 „... Bei Kernreaktoren gilt generell, dass mit erhöhter Kernspaltungsrate mehr Wärme freigesetzt wird und sich das Reaktormaterial ausdehnt. Damit entwischt ein höherer Anteil der Spaltungsneutronen, die Kernspaltungsrate nimmt ab und der Reaktorkern kühlt wieder etwas ab. Wenn sich der Reaktorkern stärker abkühlt, wird seine Dichte wieder größer, die Neutronen werden zu höherem Anteil für Kernspaltungen genutzt, der Reaktorkern erwärmt sich wieder, usw. Bei wassermoderierten Kernreaktoren bilden sich in dem als Moderator dienenden Wasser bei überhöhten Temperaturen Dampfblasen, die Dichte des Moderators wird an diesen Stellen drastisch reduziert, die Neutronen werden nicht mehr so effektiv abgebremst und verlassen den Reaktor, ohne weitere Kernspaltungen zu bewirken; der entsprechende Bereich des Reaktors kühlt wieder ab. Die Sicherheit von Kernkraftwerken wird durch die genannten Selbstregelungsmechanismen positiv beeinflusst, dennoch können Unfälle mit großen Folgeschäden am Reaktor und – wesentlich bedeutungsvoller – für die Umwelt durch die Freisetzung radioaktiver und giftiger Stoffe eintreten. Dies gilt insbesondere für die russischen RBMK-1000-Reaktoren. Ein Exemplar dieses Typs ist bei der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in der Ukraine in einen unkontrollierbaren Zustand gebracht worden.”

(Wissenschaftliche Erklärung: Michael Bockhorst, www.energieinfo.de)

 

Die Atomkraftwerke des Typs RBMK - 1000 (Reaktorblock mit einer Kapazität von 1000 Megawatt) - im litauischen Ignalia RBMK-1500 – wären außerhalb der UdSSR (Union der soz. Sowjetrepubliken) aufgrund ihrer selbst im Normalbetrieb erheblichen radioaktiven Emissionen niemals genehmigt worden. Sie gelten als die unsicherste und gefährlichste Reaktorlinie der Welt, werden noch in Ignalia, Sosnowij Bor (bei Petersburg), Smolensk und Kursk betrieben.

In Osteuropa auf westlicher Seite existieren vorwiegend die teureren WWER-Reaktoren (Wasser-Wasser-Energiereaktoren), vergleichbar mit westlichen Druckwasser-Reaktoren der 60er Jahre, bei denen eine Explosion wie in Tschernobyl praktisch ausgeschlossen ist. Wird Wasser zur Kühlung des Reaktorkerns, zur Erzeugung von Dampf und auch zum Moderieren der Kettenreaktion als Moderator verwendet, ergibt sich ein erheblicher Zugewinn an Sicherheit, da ein Kühlwasserverlust automatisch die Kettenreaktion bremst. Bei RBMK-Reaktoren fungiert Grafit, der bei Kontakt mit Luft leicht brennt, als Moderator, außerdem besitzen sie keinen Reaktordruckbehälter und haben von der Konstruktion her etliche Sicherheitsmängel und eine hohe Störanfälligkeit.

Fakten aus dem Internet: www.reyl.de/tschernobyl/unfall

 

Gerade schien die Störchin in einen leichten Halbschlaf einzuschlummern, als plötzlich eine gewaltige, unsichtbare Welle beide ergriff, sie mit ungeheurer Kraft aus dem Nest riss. Erst kurz über der Erde gelang es Aiwa, die Flügel weit zu öffnen. Zu spät! Sie knallte hart auf den Boden, auf eine trockene, hervorstehende Wurzel mit solcher Wucht, dass sie ein Bein und einen Flügel verletzte. Vor Schmerz kniff sie die Augen zusammen, bebte am ganzen Körper. Trotzdem galt ihre Sorge dem Aij. Wo mag er nur sein? Ob er noch am Leben ist?

Drohend, eine riesige Gefahr in sich bergend, heulte ein Schneesturm auf. Er riss in Stößen mit einer unbekannten, furchtbaren Kraft alles auf der Erde Liegende, das bisher jeglichen Winden und Stürmen trotzte, nach oben. Und schon konnte man ringsum nichts mehr sehen, so sehr man sich auch anstrengte.

In der Luft wirbelten Wolken schwarzer Erde aus Sand und Abfall, Zweige und Blätter, sogar Steine. Was niemals fliegen konnte, jagte mit Leichtigkeit durch die Luft, um irgendwo herunterzufallen, wenn überhaupt.

Die Störche sahen nicht, dass eine unbekannte Kraft ihr Nest von der Kiefer heruntergerissen hatte, in den Himmel trug und dann irgendwo in der Ferne hinter schwarzen Wolken begrub. Wie ein Wunder stand nur die knorrige Kiefer, die ihre Wurzeln so tief in die Erde getrieben hatte, als hätte sie kommendes Unheil vorausgesehen.

Aij, der seine Liebste entdeckt hatte, beschützte sie mit einem Flügel, drückte sie fest auf den Boden und erlaubte ihr nicht, sich zu erheben, weil jetzt auch er überzeugt war, dass ihnen der Tod drohte. Aiwa war ihm dankbar für sein mutiges Auftreten. Beide spürten, wie die Erde zu dröhnen begann, der Himmel vor Entsetzen erschrak, wie eine Bewegung aufkam, dort, im Süden, neben den hohen Türmen, im Inneren des Gebäudes – ein furchtbares Monster –, das weder der Mensch noch der Allerhöchste bändigen konnte. Die Störchin bemerkte durch einen Staubschleier und Tränen hindurch, dass ihr Aij über die ganze weiße Brust – von Flügel zu Flügel – mit einer breiten, blutigen Wunde gezeichnet war, die er mit dem roten Schnabel verdeckte. Dadurch entstand ein Blutkreuz – ein weiß-rot-weißes Muster – das Symbol jenes Landes, über welches die furchtbare Katastrophe hereingebrochen war. Furcht einflößend streckte das Monster seine Flügel aus, öffnete weit den unersättlichen Rachen, spie drohend Gift und den Tod aus, verstreute freigebig mit machtvoller Hand die todbringende Asche über die Erde.

Und in dieser Apokalypse – in den rot-schwarzen Wolken – zeichneten sich Pferde und ihre Reiter, Sterne und Engel, die beleidigten Sonne und Mond, Tag und Nacht, Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung, ab.

 

Und der erste Engel posaunte; und es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte.

Und der zweite Engel posaunte; und es fuhr wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer, und der dritte Teil des Meeres ward Blut, und der dritte Teil der lebendigen Kreaturen im Meer starb, und der dritte Teil der Schiffe ging zugrunde.

Und der dritte Engel posaunte; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, denn sie waren bitter geworden.

Und der vierte Engel posaunte; und es ward geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, daß ihr dritter Teil verfinstert ward und den dritten Teil des Tages das Licht nicht schien und in der Nacht desgleichen...

Und der fünfte Engel posaunte; und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde; und ihm ward der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er tat den Brunnen des Abgrunds auf, und es ging auf ein Rauch aus dem Brunnen wie der Rauch eines großen Ofens, und es ward verfinstert die Sonne und die Luft von dem Rauch des Brunnens...

Und so sah ich im Gesicht: die Rosse und die darauf saßen, daß sie hatten feurige und blaue und schwefelgelbe Panzer; und die Häupter der Rosse waren wie die Häupter der Löwen, und aus ihren Mäulern ging Feuer und Rauch und Schwefel. Von diesen drei Plagen ward getötet der dritte Teil der Menschen, von dem Feuer und Rauch und Schwefel, der aus ihren Mäulern ging...

Und die übrigen Leute, die nicht getötet wurden von diesen Plagen, taten doch nicht Buße für die Werke ihrer Hände, daß sie nicht mehr anbeteten die bösen Geister und die goldenen, silbernen, ehernen, steinernen Götzen, welche weder sehen noch hören noch wandeln können, und taten auch nicht Buße für ihre Morde, Zauberei, Unzucht und Dieberei.”

Die Offenbarung des Johannes: 8(7-12), 9 (1-2, 17, 18, 20,21)

 

„Du lieber Gott, wie können Erde und Mensch das alles aushalten?!”, dachte Aiwa mit Schmerzen im Herzen. Während sie sich noch fester an Aij anschmiegte, fühlte sie, wie er am ganzen Körper zitterte, bemühte sich, ihn noch mehr zu umhüllen, ihn vor dem unbekannten, schrecklichen Unheil zu retten. Ein furchtbares, sehr furchtbares Unheil und Leid waren über alles Lebende hergefallen.

„Beruhige dich, meine Liebe!”, bat Aij. „Du darfst dich nicht aufregen, uns stehen noch schwere Tage bevor. Du wirst viel Kraft brauchen, das alles zu überstehen, die schwarze Invasion zu besiegen. Unserer künftigen Kinder wegen müssen wir uns zusammenreißen.”

„Aber wird es jemals jene verflossenen Tage geben?”, fragte sie voller Bitterkeit, schloss die Augen. Der Giftstaub fraß an ihnen, drang in die Kehle ein, lag bitter und salzig auf der Zunge. „Wird es sie geben, mein lieber Aij? Mich schwächte die Vorahnung dieses unbekannten Kummers schon dort, im heißen Süden, aber ich wollte dir davon nichts erzählen.”

„Auch ich hatte solch eine Vorahnung. Nur sagte ich es dir nicht. Hätte ich beschlossen dort zu bleiben, wären wir im fremden Land umgekommen. Es ist besser in der Heimat zu sterben.”

„Ich danke dir, mein Aij, du bist so weise und gütig.”

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Annähernd 50 Tonnen Kernbrennstoff und ungefähr 800 Tonnen Reaktorgrafit (Grafitmenge insgesamt 1700 Tonnen) blieben im Reaktorschacht zurück, nachdem sich ein Trichter gebildet hatte, der einem Vulkankrater glich.

(Der Grafit, der im Reaktor blieb, brannte in den folgenden Tagen völlig aus.) Teilweise rieselte der nukleare feine Sandschutt durch Ritzen, die sich gebildet hatten, nach unten, in den Raum unter dem Reaktor, weil die unteren Stromleitungen durch die Explosion gerissen waren.

Um das ganze Ausmaß des radioaktiven Austritts genauer einzuschätzen, vergleichen wir die Atombombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde. Sie wog 4 ½ Tonnen – das Gewicht des radioaktiven Stoffes, der sich durch die Explosion gebildet hatte, belief sich auch auf 4  ½ Tonnen.

Aber der Reaktor des 4. Energieblocks des Tschernobyler Atomkraftwerkes schleuderte in die Atmosphäre FÜNFZIG TONNEN (50!) verdampften Brennstoffes, bildete ein kolossales atmosphärisches Reservoir langlebiger Radionuklide, das heißt, wie ZEHN HIROSHIMA-BOMBEN ohne die primären Faktoren der Beschädigung – plus siebzig Tonnen (70!) Brennstoff und ungefähr siebenhundert (700!) Tonnen Reaktorgrafit, der sich im Gebiet des Havarie-Energieblocks niederließ.

 

Die Störche waren mit Schutt und Staub bedeckt bis zum Kopf. Sie bewegten sich nicht, gingen nicht einen Schritt von ihrem Platz weg, weil sie fühlten und wussten: Zusammen mit Steinen reißt sie eine unbekannte Kraft nach oben. Und dann brechen ihre Flügel gänzlich. Tapfer widersetzten sie sich der Naturgewalt.

Stiller wurde es erst gegen Morgen.

Als sie sich von ihrer Gefangenschaft befreit hatten, erkannten sie sich einander nicht mehr. Beide waren schwarz von der Asche, die vom Atomkraftwerk zu ihnen geflogen war. Die Asche setzte sich in ihr Gefieder, das zu waschen sie keine Möglichkeit hatten.

Ja – zu allem Leidwesen – beide waren erblindet.

Nichts mehr sahen sie vor sich, wussten nicht einmal, von welcher Seite die Sonne aufgeht. Sie konnten sich nicht von der Erde lösen, um in ihr Nest zu fliegen, hatten keine Kraft mehr. Sie wussten nicht, dass sie nirgendwohin zurückkehren konnten, dass sie Obdachlose geworden waren, dass sie umsiedeln mussten. Sie gehörten jetzt zu einer neuen Kategorie von Bewohnern – wie Menschen, überhaupt alles Lebende – zu Umsiedlern, zu Flüchtlingen. So standen sie unter der Kiefer, neben dem Friedhof, einer steckte dem anderen den Schnabel unter die Flügel.

So standen sie – wie leblos – ohne Freude, ohne Wünsche, ohne Gedanken, ohne Heim.

 

Wladimir Grabzewitsch, der Ingenieur der technischen Produktionsabteilung der Retschitzer Elektrowerke, kam zur Arbeit immer früh – gegen sieben Uhr. Valentina, seine Frau, schlief noch, weil sie sich spät schlafen gelegt und lange in der Küche herumgewerkelt hatte. Die Töchter Irina und Jelena schliefen auch noch.

Nachts hatte ihn ein wirbelnder Wind geweckt, der die Balkontüren aufriss, sie laut gegen die Wand hin- und herschlug, sodass das Glas zersprang.

Er musste aufstehen, die Scherben einsammeln und in den Abfalleimer werfen.

Ganz erschrocken erwachten auch alle Übrigen. Er beruhigte sie, schickte sie wieder schlafen.

Selbst konnte er lange nicht einschlafen ...

Unterwegs, als er an der Brauerei vorbeiging, fiel ihm auf, dass der ganze Weg mit einem unerklärlichen rosa-gelblichen Blütenstaub bedeckt war, was er früher noch nie beobachtet hatte. Sogar der Nebel vor den Augen schimmerte rosa.

‚Wieder mal hat das Keramikwerk nachts seine Abfälle entsorgt‘, dachte er so bei sich, maß diesem Fakt keine größere Bedeutung bei und eilte zur Arbeit. ,Wohin schaut nur die Sanitätsstation?’

Auf dem Weg überdachte er immer den Plan seines Tagesablaufs. Und jetzt wusste er, dass er sofort, wenn er an seinem Arbeitsplatz angekommen ist, sich ans Telefon setzen, alle Leiter des Stromnetzes anrufen und sie fragen wird, wie alles läuft und ob es keine Havarien oder andere Vorkommnisse gegeben hat.

Danach wird er genau wissen, wie er seinen Tag verplanen muss.

Ramonjuk in L. war wie immer zur Stelle.

„Guten Morgen! Wie sieht’s bei dir aus?”

„Der Morgen ist gut! Alles normal. Keine besonderen Vorkommnisse ...” „Danke! Wünsche Erfolg bei der Arbeit! Bis bald!”

Er rief die anderen an – auch alles ruhig. Keine Stromabschaltung, die Objekte für die Generalreparatur waren eingeteilt und vergeben.

Noch ein Gespräch – ins ländliche Stromnetz.

Anatol Dawydenko war auch ruhig, scherzte sogar, die Tage wären herrlich und er an den Stuhl gefesselt.

„Ist der Plan des Hauptbaus fertig?”

„Ach, was soll der Plan, natürlich ist er fertig. Das Objekt für die Generalüberholung ist für die Übergabe und zur Kontrolle bereit.” „Prima! Viel Erfolg, Anatol!”

Der Tag verlief wie gewöhnlich – keinerlei Aufregung, keinerlei Mitteilungen – weder im Radio noch im Fernsehen.

Im Radio – fröhliche Melodien, im Fernsehen – Fußball und Lieder.

Sowohl bei den Belorussen als auch bei den Ukrainern. Als ob es keinerlei Probleme gegeben hätte und man das glückliche kommunistische Leben nur mit Liedern und Tänzen rühmen könnte.

Und ein Tag, und zwei, und drei, und vier, und fünf – niemand erfuhr irgendetwas, erriet etwas, ahnte etwas ...

Auf der Zählertafel einer unbeschwerten Zeit fielen jene fröhlichen Ziffern, die bisher als eine ruhige, trügerische Blütezeit galten, heraus.

Niemand wusste, dass vor einigen Tagen eine völlig neue, andere Epoche und Ära begonnen hatten:

Die Ära des dem Menschen verweigerten Gehorsams des Atoms

Am ersten Mai war Wladimir Grabzewitsch als Diensthabender in seinem Betrieb eingesetzt. Alle hatten, wie jedes Jahr, eine feiertägliche und fröhliche Stimmung. Ein Bus war für die Durchführung der Maidemonstration bereitgestellt. Die Kinder aus allen Schulen, festlich gekleidet, mussten an der Tribüne auf dem großen Platz vorbeimarschieren, um der Partei – und Komsomolführung ihre Treue und Liebe zur kommunistischen Partei zu bezeugen, die eine umfangreiche Fürsorge für die Menschen der Sowjetunion und der Völker aller Bruderrepubliken offenbare und weiterhin bekunde. Auf dem Platz trafen auch Irinka und Jelena ein.

In die Dispatcherzentrale kamen Arbeiter, redeten alle durcheinander, sie hätten im ausländischen Rundfunk – aus Deutschland und Amerika, von der „Freiheit” aus Prag – gehört, in der Stadt der ukrainischen Energetiker hätte sich vor einigen Tagen eine der gewaltigsten Katastrophen ereignet, über welche sich Partei- und Staatsführung ausschweigen würden.

„Das hast du selbst gehört?”, hakte Wladimir bei dem, der die Nachricht überbracht hatte, nach, glaubte nicht, es könnte passieren, über solch ein furchtbares Ereignis keine rechtzeitige Benachrichtigung, keine Mitteilungen, keine Erklärungen abzugeben.

„Ich selbst habe es gehört, kann schwören! Man riet uns sogar – speziell uns, den Belorussen und Ukrainern – und allen, die nicht weit von Tschernobyl wohnen, Jod zu trinken, vermischt mit Wasser.”

„Jod zu trinken? Was für ein Unsinn! Eine laufende Provokation vom Westen! Damit wollen die Kapitalisten die Grundlagen unserer sowjetischen Lebensweise untergraben.”

Der Arbeiter war beleidigt wegen des Zweifels an der Richtigkeit seiner Worte, winkte ab, ging zu seinem Arbeitsplatz und fügte im Gehen hinzu: „Nun, wie du willst, Wladimir. Sie sagten noch, irgendwelche schädlichen, radioaktiven Strahlen verbreiteten sich über ganz Europa, erreichten Deutschland und die Schweiz, bedeckten ganz Belorussland, landeten vielleicht sogar in Moskau.”

„Weiß der Teufel!”

Das Gespräch hinterließ seine Spuren, eine unerklärliche Unruhe. Dann wurde die Frage aufgeworfen, wo man die Worte des Arbeiters bestätigen könnte? Oder dementieren? Gern hätte man nicht an das Schlechte geglaubt! Draußen schien strahlend die Sonne. Wohlige Wärme. Die Kinder und Erwachsenen waren gekleidet wie im Sommer.

Auf dem Platz ertönte lautstark: „Hurra-aaa! Hurra-aaa!”

Die Menschen von Retschitza, an der Tribüne vorbeigehend, schrien einträchtig ihre Hochrufe zu Ehren der KPdSU (Kommunistischen Partei der Sowjetunion).

„Unserer geliebten kommunistischen Partei – ein dreifaches Hoch!”, schrie der Ansager mit donnernder Stimme ins Mikrofon, alles andere übertönend. „Hurra!”, antworteten die Demonstranten ungern und nicht so laut.

„Ruhm dem sowjetischen Volk – dem glücklichsten und mächtigsten in der Welt! Hurra!”

Es war Ostern, gefärbte Eier ... Obwohl die Partei nicht erlaubte, religiöse Festtage zu begehen. In keinem Kalender war irgendein religiöser Feiertag verzeichnet. Nach der kommunistischen Lehre existierte Christus nicht, weder seine Geburt noch die Himmelfahrt. Für sie war die Religion – „Opium fürs Volk”.

Nachts rief die Sirene unerwartet alle an den Arbeitsplatz.

Der Direktor des Retschitzer Kraftwerkes, Sergej Zyzura, erschien aufgeregt und nachdenklich, sein Blick nervös und traurig. In solch einer Verfassung saß auch der Chefingenieur Gennadij Schumichin da.

„Ein Unglück, meine Freunde, hat sich ereignet – ein sehr großes”, sprach mit kaum vernehmbarer Stimme Zyzura. „Vor einigen Tagen. Eine große Explosion ereignete sich im Tschernobyler Atomkraftwerk. Menschen sind umgekommen. Wir erhielten den Auftrag, schnellstens dorthin zu fahren.” „Wohin fahren?”, präzisierte Grabzewitsch, fühlend, wie sein Herz eine eisige Kälte durchdrang, als hätte man ihm eine kalte, glitschige Natter vor die Füße geworfen. „Und wozu?”

„Dort ist eine Zone geschaffen. Eine Dreißig-Kilometer-Zone. Dorthin müssen wir.”

„Und was werden wir dort machen?”

„Darüber wird der Chefingenieur G. Schumichin sprechen.”

Schumichin hatte eine stille, beruhigende Stimme. Es hatte den Anschein, er könnte niemals aus sich herausgehen, niemals böse werden. Er wusste schon, was vorgefallen war, welche Aufgaben vor den Kraftwerkern standen.

„Als erstes müssen wir dringend Brigaden zusammenstellen – in Retschitza, Swetlogorsk und Lojew. Nichts auf morgen verschiebend, müssen wir den Braginer und Choiniker Kraftwerken, den umliegenden, helfen. Dann müssen wir noch dringend nach Gomel fahren, um das notwendige Material zu beschaffen. Als zweites muss man nach Makarow in die Bezirksstelle des Zivilschutzes fahren und Dosimeter „DP-5” holen. Aber hauptsächlich müssen wir Strom den Objekten liefern, die errichtet werden. Auch wir werden sie mit aufbauen.”

Material fand sich. Dosimeter an Feiertagen zu beschaffen, war unmöglich. An keinen Lagerarbeiter war heranzukommen, aber wo und wann man sie zu Gesicht bekam, wusste niemand genau.

Ein Dosimeter fand sich, aber ohne die notwendigen Batterien.

Alles wurde schludrig und nachlässig ausgeführt: Ist Wanka zu Hause, ist Petka nicht da. Ist Petka zu Hause, ist Wanka verschwunden. So wie alles im sowjetischen Leben – ein heilloses Durcheinander.