Impressum

Lonny Neumann

Aus Jahr und Tag

Wie Hanna Nein sagen lernte

 

ISBN 978-3-95655-740-8 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-739-2 (Buch)

 

Titelbild: Elli Graetz

 

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I. Als die alte Zeit noch eine neue Zeit war

1. Prolog

... rak rak rak, so glaubt sie es, im Halbschlaf auf die Schienen klopfen zu hören und nun: Jetzt kommen die lustigen Tage ... Ein Lied, von Gott weiß woher? Hanna fährt hoch. Die ermunternde Melodie fällt aus dem Lautsprecher ins Abteil. Sie hat es doch auch einst gesungen. Es ist wirklich sehr lange her. Als Studenten stimmten sie es für den alten Steinbach zum Geburtstag an, und er fiel mit vor Rührung feuchten Augen ein. Es klingt so, als seien über die Jahre viele Stimmen dazugekommen, die sie in diesem Abteil noch - wie einen Nachhall - zu hören glaubt: Nachbarn, Schüler, Freunde, Geliebte. Sie will den Text verstehen. „Willst du allein ...“, der Rest geht unter.

Hier sitzt nur ein junges Paar ihr gegenüber. Er schläft, den Kopf an die Schulter der lächelnden Liebsten gelehnt. Der junge Mann neben ihnen blättert eine Seite um in seinem Buch. Und auf modernen Gleisen gleitet der Zug durch die sommerliche Landschaft aus Feldern, Hecken, Tümpeln und Seen.

Im ruhigen Fluss der Landschaft erscheint bald der Uckersee und an seinem Ufer - filigran über die Entfernung - die Silhouette der Stadt, machtvoll darin die alte Marienkirche. Als Hanna damals Woche für Woche hier entlang in die Oberschulstadt fuhr, war sie ein Trümmerberg inmitten zerstörter Häuser und Straßen. Die Schüler halfen am Eff-de-Jott-Nachmittag auch beim Enttrümmern. Sie weiß noch, wie sie sich die Hände aufscheuerte und begeistert in der Diktion jener Jahre vom Wegträumen und Wegräumen dichtete.

Sie möchte das Fenster aufreißen und den Kopf in den Fahrtwind halten und dem Funkenflug, der aus der Lokomotive auf die Böschung fällt, zusehen - wie vor mehr als einem halben Jahrhundert. Und erschrocken fragt etwas in ihr, wo sie all die Jahre gewesen ist?

Was wusste sie schon, als sie den fliegenden Funken hinterher sah? Wer war sie denn? Ein Großmutterkind, geimpft mit dem Satz, was Besseres zu werden, vielleicht - nach Großmutters Plänen - ein „Frollein“ auf der Post, das - wie wenige Leute in der kleinen Stadt - am Sonntag Hut und Handschuh trug!

Hier lässt sich kein Fenster öffnen. Aber sie will sich endlich nicht mehr sprunghaft durch die Zeiten und die Weltgeschichte bewegen - querfeldein - wie sie einst dem Vater davongelaufen ist und auch noch ein Buch darüber geschrieben hat.

„Hätte es nicht eine andere Möglichkeit gegeben?“, fragt die alte Johanna heute. Keine ist ihr in den Sinn gekommen.

Unlängst fand sie, auf einen alten Zettel gekritzelt - neben einem Suppenrezept für die Kinder - die Frage, ob Mut zur abweichenden Meinung schon ... Sie konnte selbst nicht mehr entziffern, ob sie etwa Wahrheit auf einen Zettel fürs Kochbuch geschrieben hatte, las aber - zum Glück- gleich daneben den Rat, nur kräftig Peperoni in die Suppe zu schneiden.

Überall liegen Zettel und Briefe, nicht nur in den Büchern. Findet sie wieder etwas, wendet sie es hin und her und kann sich nicht entschließen, es wegzuwerfen. Auch Enkelin Marie freut sich bei ihren Besuchen über jeden Fund.

Weil der große Geburtstag bevorsteht, will Hanna Ordnung schaffen - in der Kammer mit den Tagebüchern, in der Familie, am liebsten in der Welt, in der es unruhig zugeht und Flüchtlingsströme umherziehen, wie das Kind sie noch nach dem letzten Krieg erlebte.

Dabei gleiten im Rückblick die Jahre wie Tage dahin. Und wenn sie versucht, darüber zu schreiben, braust wie eben wieder ein ganzer Chor von Stimmen in ihrem Kopf: „Willst ausgerechnet du es wissen?“ Lebende und längst oder jüngst Gestorbene hört die Reisende noch immer. Des Vaters Stimme ist zwar schwächer geworden. Mathelehrer Paules ist ganz verschwunden: „Tje, Hanna, Sie und Lehrer?“

Was dachten sie denn von ihr? Trauten sie ihr das nicht zu?

Eine begeisterte junge Lehrerin ist sie geworden.

Doch welch Irrtum!

Geräuschlos eilt der Regionalexpress weiter durch die stille Landschaft. Nun die Ansage aus dem Lautsprecher: „Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen Sie ...“ Bis in die alte Oberschulstadt, wohin sie zur Lesung eingeladen ist, dauert es noch. Und wieder das Lied von den glücklichen Tagen.

„Meine Damen“, nannte der alte Lehrerbildner sie und die anderen Mädchen. Es klang beinahe mitleidvoll, manchmal auch spöttisch, wenn er seine aus der Zeit gefallenen Sprüche streute, auch dem, vom Lachen in jeder Stunde oder an jedem Tag, der sonst verloren wäre. Trotzdem ließ er sie, von wohlwollendem Blick begleitet, mit ihren beiden Banknachbarn gehen. Ja, auch die Bürgschaft übernahm er für sie, als sie der Aufforderung aus dem Parteizimmer folgte.

2. Das siebzehnte Jahr

Die Stimme schrillte damals aus einem Lautsprecher in den Seminarraum und verkündete, die Kandidatensperre sei vorbei. Und wer wolle, könne sich nun bewerben und brauche - außer seinem Wunsch - nur zwei Bürgen. Es war ihr siebzehntes Jahr und erst ein paar Wochen her, dass der Chor aus Oberschultagen sie bis an die Tür des Instituts gebracht hatte. Trotz der Warnung des Großvaters: „Wenn du dor mitspökst, brukst du nie mehr no Hus to kommen“, womit der Großvater die ganze neue Zeit meinte, war sie singend im Sommer 1952 zum Deutschlandtreffen und durch die Regensommer gezogen, durch die Dörfer und über Marktplätze! Aber sie hatte sich allein gefühlt in der lauten Fröhlichkeit und war ohne den einen Freund oder die eine Freundin geblieben. Doch Lachen und Liedfetzen hatten sie noch aus dem haltenden Bus begleitet, während sie auf das große Haus zuging, vor dem sich junge Leute sammelten.

Dort stand mit unbändigem weißen Haarschopf ein alter Mann auf der Treppe vor der Tür. Er erinnerte Johanna an das Bild vom lieben Gott, das sie in frühen Kindheitstagen von ihm gehabt hatte.

„Was könnt ihr?“, so hörte sie ihn fragen, als sie am Fuß der Treppe anlangte. Waren nicht Bewerbung und Zeugnis angekommen? dachte sie. „Singen“, würde sie sagen, wenn sie an der Reihe war. Doch es ging schnell, und sie sagte gar nichts weiter, weil der Arm schmerzte, an dem ihr ein Furunkel herausoperiert worden war.

Es mussten alle an dem Alten vorüber durch die Tür in das Haus, das eben erst die Russen verlassen hatten: ein Bäcker, ein Schäfer, Oberschüler, Sekretärinnen - wie sie bald voneinander hören würden.

Bodo fiel ihr auf, weil er als einziger einen Hut trug, noch dazu mit der Feder eines Eichelhähers, die ihr der Großvater einmal aus dem Wald mitgebracht hatte. Kann sein, Hanna war einen Augenblick länger an diesem Hut oder seinem Träger hängen geblieben. Der junge Mann nahm ihr - im Weitergehen lächelnd - das lädierte Lackköfferchen mit den wenigen Habseligkeiten aus der verbundenen Hand.

„Bodo Heldt“, so stellte er sich vor, an sie und den Alten gewandt. Er zog sein Jackett aus feinem Stoff über dem akkurat gebügelten Hemd der Eff de Jott gerade. Ein junger Mann, gut einen Kopf größer als alle bisher Versammelten, holte sie mit großen Schritten ein. Wegen des feinen hellgrauen Anzuges und einer dazugehörigen Weste schien es, als gehöre er nicht dazu. Doch er sah Johanna an und streckte ihr lächelnd die Hand entgegen: „Ich bin Gert.“ Johanna sah seine hellen Augen - sie glichen den Kieselsteinen, über die das Wasser in der Beek zu Hause sprang. Und sie erinnert sich bis heute, dass sie lachte, weil sie froh darüber war, ihn zu treffen.

„Ich bin Steinbach“, mischte der Alte sich ein. Er wiederholte seine Frage, was jeder könne und wies erklärend auf die offenstehende Tür: „Wir müssen das Haus erst einrichten.“

Bodo beschrieb im Hineingehen, dass und wie er unlängst Gardinen angebracht hatte, und Gert hob, indem er Bodo folgte, zum Helfen bereit, die langen Arme. Johanna sollte Fenster putzen im leer geräumten zweigeschossigen Gebäude mit den frisch geweißten Wänden in Fluren und Räumen. Daraus sollte nun ein Institut für Lehrerbildung werden mit Seminarräumen, mit Internat und Wandzeitung - und mit jungen, aus dem Krieg mit dem Leben davongekommenen, pädagogisch oft ahnungslosen Dozenten. Nur er, Steinbach, war schon alt. Er hatte - unter Hitler als Rektor der Mittelschule aus dem Amt geflogen - bei den ABC-Schützen, den Schulanfängern im kleinen Nest Philadelphia bei Beeskow unterrichtet. Glaubte er nun ebenso ungebrochen an die neue Zeit wie Johanna, die auf dem Weg durch die Trümmer der kleinen Stadt ihr Haus und die Schule nicht mehr gefunden hatte und nicht schnell genug achtzehn werden konnte, um in die Partei zu kommen. Aber Kandidatin konnte man ja auch früher werden! Steinbach hatte jedenfalls, als man ihn fragte, noch einmal unterrichten wollen - und sehr gern, so hatte er ausdrücklich betont, auch angehende Lehrer. Und der alte Sozialdemokrat hatte - anders als Johannas Großvater - schon zugestimmt, dass die beiden Arbeiterparteien zusammengingen.

Johanna fiel vom hohen Fensterbrett. Sie war hungrig. Sie war ungeschickt. Da teilte Steinbach sie ein, die neuen Bücher aus den Kisten in die leeren Regale zu räumen. Im Lehrbuch für Psychologie suchte sie vergeblich nach einem Wort über die Seele. Von psychosomatischer Einheit war die Rede.

Dieses Kapitel könnte Johanna nun glatt auslassen, wenn ihr nicht in einer der Kisten unter dickleibigen Romanen der neuen Sowjetliteratur „Der wahre Mensch“ von einem Autor namens Polewoi in die Hände gefallen wäre.

Sie las sich fest, trotz aller Warnungen der Großmutter ’Schmökern verdarwt den Charakter.‘ Das Schicksal des einbeinigen Partisanen fesselte sie. Er wollte nicht aufgeben, und sie war voller Mitleid für den Jungen, und wollte ebenso mutig sein. Auch, wenn der Krieg nun vorbei war! Mutigsein war das Wichtigste! So sollten sie alle, die hier Lehrer wurden, sein und werden!

Vorerst traf sie zur ersten gemeinsamen Stunde Bodo und Gert in ihrem Seminar. „Komm Johanna, hier!“, rief Bodo und weiter: „Rücken wir die Tische, dass man auch sieht: Hier sitzt ein Kollektiv.“ Schüchtern setzte sie sich damals auf den angebotenen Platz und beobachtete, wie Bodo sorgsam Hefte und Schreibutensilien zurechtlegte: „Schönheit des Arbeitsplatzes!“, sagte er beinahe festlich.

Gert sah sich nach ihnen um, bevor er sich in seiner besonderen Länge vor ihnen niederließ. Er trug wieder den sonntäglichen Anzug und darunter die Weste. Steinbach erschien ohne blauen Kittel und Zollstock in der Tasche, war weder Gott noch der Hausmeister, sondern stellte sich als Dozent für Didaktik vor.

„Nun, meine Daamen und Herren?“ Er ruhte sich einen spöttischen Augenblick lang auf dem A aus und blickte umher und fragte etwas, das sicher alle wussten.

„Di-dak-tik, was is’n das?“ Wegen der Lehre vom Lehren waren sie schließlich hergekommen. Aber nur Bodo hatte sich gemeldet.

Einige Zeit saß Gert vor ihnen. War er noch da, als plärrend jene Einladung durch den Lautsprecher kam, bei der Bodo zur Rechten und Paul zur Linken aufsprangen und sich mit einem Blick über ihren Kopf hinweg verständigten? Sie wollte nicht zurückbleiben, und bisher hatte sie immer den Platz neben ihm eingenommen und ihn ordentlich gehalten. Jetzt blickte sie umher, ein wenig verwundert, weil alle anderen sitzen blieben. Sie erinnert sich bis heute, wie Paul - mit dem ewigen Schnupfen in der Nase - näselte: „Du hast gezögert.“ Aber sie war damals nicht umgekehrt. War es der Ehrgeiz, zu den Besten gehören zu wollen? Nein, sie war mitgegangen und eine von den Besten geworden, die sich für die Kandidatur in der Partei gemeldet hatten. Dumm genug, ganz beseelt von etwas zu sein, das sie gar nicht begriffen hatte. Das darf sie heute nicht kleinreden und nicht aus ihrer und nicht aus der Geschichte herausreden oder die alten Geschichten lassen wie Freundin Ellen es erwartet und sagt: „Wozu die alten Geschichten? Kein Mensch interessiert sich dafür.“

Aber Enkelin Marie wird fragen:

„Wo ist Gott da gewesen?“

Wird sie etwas von diesen Geschichten verstehen, in denen ein Mensch verschwindet und niemand nach ihm fragt?

Und ist es wichtig, dass sie von den Irrungen und Wirrungen der für sie vergangenen Zeit erfährt? Fragen sollte sie, wie Hanna gefragt hat und bis heute fragt.

 

Bei der Eröffnung des Studienjahrganges saß Gert noch mitten unter ihnen. Ein Foto hat sie alle, fast noch Kinder, aufbewahrt. Über ihnen ein Spruchband. Sehr gerade und ernst wirkte Gert, und sie daneben - lächelnd, klatschend - und in einem Kleid mit großem weißen Kragen, von der Großmutter genäht. Und sie war froh, endlich weit weg, auch von den verhassten Ermahnungen des einst geliebten Großvaters zu sein, langsam solle sie laufen und nicht alles auf einmal wollen und immer daran denken: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“

Gert saß jeden Tag im hellgrauen Anzug mit Weste gerade aufgerichtet vor Bodo und Johanna - und der alte Steinbach, von dem Johanna erst später erfahren würde, dass er einst zu den ihnen damals unbekannt gebliebenen Schulreformern gehört hatte, streute seltsame, wie aus der Zeit gefallene Anregungen zwischen die gültigen didaktischen Prinzipien: „Die Kinder müssen jede Stunde einen Grund zum Lachen haben, besonders die Kleinsten. Meinetwegen für die Meechen auch was zum Heulen oder Staunen. Das braucht die Seele.“ Er benutzte ganz selbstverständlich das damals unüblich gewordene Wort Seele und setzte hinzu: „Wenn wir dafür nicht Zeit haben, nutzt uns das ganze ABC nicht.“ Dann zog er die Taschenuhr aus der Westentasche: „Feierabend! Und immer mit dem Klingelzeichen Feierabend! Und noch etwas für die Daamen ...“, er zog die Bezeichnung in die Länge: „Ziehn Sie alle Tage Ihre Sonntagskleider an. Die Kinder sind verrückt nach schönen Lehrern, nicht so sehr nach superschlauen!“

Banknachbar Bodo murmelte: „Sein Zug ist weg.“ Da rückte sie ein Stück von ihm ab, und verdächtig erschien ihr, wofür sie ihn bis eben bewundert hatte, alles leicht und selbstverständlich zu tun. Einen Zeitungsrand brauchte er für eine Unterrichtsvorbereitung, wofür sie die Blätter eines Schreibblocks füllte. „Schönheit des Arbeitsplatzes?“, muckte sie innerlich auf. Für sie war es bloß Ordnung, aber sie entdeckte, dass es auch Spaß machen konnte, ordentlich zu sein. Schönheit aber war trotzdem etwas anderes für sie, manchmal ein Lichtstrahl, der vom Himmel über der Oder durch die großen Fenster fiel.

Sie ging, von Bodo dazu eingeladen, allein mit ihm in die Theaterklause, als es das erste Stipendium gab. Sprachen sie darüber, wie bevorzugt sie damit waren? Nein. Sie hatten es damals als etwas ihnen Zustehendes angenommen. Wahrscheinlich war sie noch darauf konzentriert, richtig mit Messer und Gabel umzugehen.

Noch war Hella nicht in den Pausen aus ihrem Seminar zu Bodo an den Platz gekommen. Wenn sie erschien, suchte sie auch die meist traurige Johanna zu trösten, die selber nicht wusste, warum ihre Tränen oft flossen. Dass sie sich einsam fühlte, während sie doch von so vielen Freunden, wie es hieß, jeden Augenblick umgeben waren, verstand sie damals nicht und schämte sich und war nahe dran zu glauben, dass sie wirklich manchmal die komische Nudel war, als die sie die anderen verspotteten und Gert ihr lachend das Gesicht mit Schnee einrieb. „Tugendschaf“, nannte sie hier zum Glück keiner mehr. Aber sie war diesen Klassenschimpf ihrer Kindertage noch nicht los.

Hier hatte sie damit zu tun, sich die Geschichten des Alten, den ihre Mitstudenten oft belächelten, zu eigen zu machen, denn sie begriff gerade am eigenen Leibe, dass nie ein Lehrer für alle Schüler einer Klasse gut sein kann. Dies wird sie mitnehmen in die viel zu vollen Schulklassen in der Stadt und in kommende Jahre.

 

Wann geschah es, dass Gert und seine Banknachbarin fehlten? Ein Montagmorgen war es, als Mutmaßungen über ihre Freundschaft, womöglich Liebe, durch den Raum huschten. Die strohblonde Kommilitonin Ursula mit den breiten Hüften und dem frischen runden Gesicht und Gert, der hoch aufgeschossene Junge, in den sie sich auch verliebt hatte, wie sie es sich selber zugab.

Gerts Freundin, die am übernächsten Morgen auftauchte, schwieg zu allen Fragen: „Wo seid ihr denn so lange gewesen? Und wo ist Gert?“ Ihr Schweigen breitete sich aus. Einer der Dozenten brachte die Nachricht: „Wegen Spionageverdachtes verhaftet ...“ Es sah so aus, als glaubten es alle, auch die jungen Dozenten, eher Freund als lehrerhaftes Vorbild. Und du, Johanna?

Sie glaubte - manchmal in Gedanken - zu sehen, wie er sich lachend nach ihnen umdrehte. Als sie auf der Ferienwanderung durch den Harz Quellwasser über Kieselsteine der munteren Ilse springen sah, dachte sie an Gerts Augen. Aber erst viele Jahre später findet sie eine Notiz über ihn in ihren Krakelheften, mit denen sie erst lange nach dem Jahr in Frankfurt begann. Es sind die ersten Anfänge für einen Roman, an dem sie ihr Leben lang schrieb, ohne ihn bisher beendet zu haben.

Sie hatten sich damals daran gewöhnt, dass ein Platz in ihrer Mitte leer blieb. Es war so nachdrücklich gelungen, dass sie später nicht wusste, ob es tatsächlich diesen Augenblick eines vertraulichen Gespräches zwischen Gerts Freundin und Steinbach während einer Pause am Fenster gegeben hatte. Ursula hatte dabei die Tränen fortgewischt. Wie vor Gerts Verschwinden gingen die jungen Leute gemeinsam sonntags an die Oder. Wind trug Melodienfetzen aus der Kirche von der anderen Seite der Stadt herüber. Es gab vormittags Gottesdienst, wie sie dem Glockenläuten entnahmen, nachmittags sang ein Chor, abends wurde getanzt. Dort war Polen.

Dies also bleibt von Johannas siebzehntem Jahr, in dem sie nicht schnell genug achtzehn werden konnte, um in die Partei zu gehen, in der Steinbach für ihre Echtheit bürgte. Es war das Jahr, in dem Gert verschwand und sie neben Bodo saß.

 

Ein halbes Jahrhundert später träumt sie von Gert.

Er trägt schon den Begräbnisanzug. Nur der Schlips hängt noch lose um den Hals. Sie trifft ihn im Wartesaal eines unbekannten Ortes, als sie unterwegs zu ihm ist. Seine Züge mischen sich mit denen eines früher Gestorbenen. Vergeblich streckt sie ihm die Hand entgegen. Eine unsichtbare Sperre ist zwischen ihnen, ein Strom, den sie noch nicht kennt. Sie sieht, wie er die Lippen bewegt, aber sie versteht ihn nicht. Dann verschwindet er. So groß wird sie Gert nie mehr sehen.

Deutlich erkannte sie noch einmal die graue Weste unter dem Anzug. Er trug sie, als er im Seminarraum damals vor ihnen gesessen hatte, bevor er verschwand, fast ein Menschenleben her. Wohin? Sie wussten es nicht. Da war ein Verdacht, der sie von ihm trennte.

Niemand von ihnen hat nach ihm gefragt.

Jetzt fährt sein Zug vor ihrem. Die Ortsangabe kann sie nicht verstehen. Sie hat ihn im Traum nicht gefragt, was sie ihn auch im Leben nicht mehr hatte fragen können, als endlich ein Lebenszeichen von ihm kam. Es gab eine getrennte Wirklichkeit, um nicht das Wort Wahrheit zu benutzen.

Bodo würde schließlich nach vielen Jahren einen Brief von Gert aus der Heide empfangen und aufgeregt damit zu ihr kommen, auch, wenn sie sich, wenn`s hoch kam, einmal im Jahr trafen - der Professor und sie, die Abtrünnige.„Kannst du dich erinnern?“, fragte er. Doch bis dahin wird noch sehr viel Zeit vergehen.

3. Ein Tanz fürs Leben

Mit Bodo und Hella war sie damals zum ersten praktischen Jahr nach Potsdam gekommen, wohin das Institut auch bald umzog.

Mit seiner schönen, damals noch beschädigten Kuppel, war das Haus, einst den Soldatenwaisen der Stadt zugedacht, zum Internat für zweihundert junge Lehrerstudenten geworden und Johanna und Hilda wurden als Erzieherinnen für die meist nur weniger jüngeren Mädchen eingesetzt. Sie durften zur Belohnung - außer der Reihe - das Fernstudium für das begehrte Fach Deutsch in der Mittelstufe wahrnehmen. Hanna schreibt Gedichte - über und für die Schwestern- über die Zeit, die sie verstehen möchte und geht ins Kulturhaus „Hans Marchwitza“, wo sie den Alten selbst noch lesen und reden hört. Sie will - besser als bisher - ausdrücken können, was sie fühlt, wie es die großen Dichter konnten. Noch vor Goethe war es dessen Vorbild Johann Christian Günther, den sie zu ihrem Thema machte: „Nur auszudrücken, was ich fühle ...“, hatte er gesagt. Die Arbeit über ihn - eine Pflichtaufgabe - wurde im Internatsalltag ihre Zuflucht.

„Aber was fühlte sie denn damals wirklich?“, fragt sich die Altgewordene. In ihrem Gefühl ist sie heute jünger als damals, als sie sich in hoch geschlossene weiße Blusen zwängte. Als sie neulich in der Kammer mit den alten Heften und Manuskripten auf ein in rotes Kunstleder gebundenes Diarium stieß, war sie erschüttert über die täglichen Notizen: „Pädagogisches Tagebuch“ 1954. Voller Scham liest sie, was die gläubige junge Genossin in ihrer Ahnungslosigkeit alles zensierte. Sie will sich nicht auf Jugendsünde und die Zeit herausreden.

Sie erinnert noch die vielen vergeblichen Tränen und das Heimweh der einhundertzwanzig Ankömmlinge in der ersten Nacht. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, als ein heftiges Gewitter über sie hereinbrach. Sie versuchte zu trösten, denn sie dachte frierend an ihr Internatszimmer, das sie einsam, obwohl sie zu fünft waren, erlebt hatte. Vielleicht klangen ihre Sätze deshalb tröstlich. Was sagte sie? Etwa: „Ihr werdet euch schon gewöhnen und Freunde finden!“ Manchmal hörte wirklich jemand auf zu weinen.

Das Studienjahr begann mit Kartoffeleinsätzen in Linum. Doch eine ansteckende Krankheit stellte sich heraus. Sie weiß nicht mehr, welche. Sie gingen alle in Quarantäne - und es wurden vier Wochen Kultur! Auch dank Bodos Beistand. Er brachte die Legende von Chodscha Nasredin in das wegen möglicher Ansteckung gefährliche Haus. Doch er war der Sekretär der Freien Deutschen Jugend, zu der sie alle gehörten. Sie erinnert sich an die Gesichter, auch das der Freundin Hilda, die alle Hulda nannten und die schon lange nicht mehr lebt. Weil sie Lehrerin werden wollte, hatte sie sich mit ihrem Vater, einem Pfarrer in Thüringen, überworfen. Sie fuhr nie mehr nach Hause ...

Johanna hätte nach diesen ersten Wochen die weißen Blusen nicht mehr gebraucht, aber trug sie trotzdem. Als könnten sie ihr zu der Autorität verhelfen, die ihr nach eigenem Gefühl fehlte, um das zu tun, was ihr hier aufgegeben war. Wie waren ihr die alltäglichen Kontrollen leid: Schrankkontrollen, obwohl ihr doch selbst wenig an Ordnung im eigenen Schrank liegt! Kontrollen, ob die Hausaufgaben zur festgesetzten Zeit im Zimmer erledigt werden. Kontrollen ... Mit zugeknöpftem Gesicht ging sie meist durch die Zimmer. Sie hörte ein Flüstern: „Die Olle tut immer so freundlich. Bestimmt ist sie falsch!“ „Bestimmt tut sie bloß so freundlich“, fügte eine andere Stimme hinzu: „Wie alt ist die Alte überhaupt?“

„Ich glaube, die ist in Wirklichkeit ganz gemein.“

Sie war beim zufälligen Lauschen nicht in Ohnmacht gefallen. Aber nach dem abendliche Rundgang hatte sie vor Enttäuschung - wie zuvor ihre Schüler - geweint. Die Tränen waren vom oberen Stockwerk in den gepflasterten Innenhof gefallen, und sie glaubt sie heute noch manchmal zu erkennen.

Unverändert nahm sie manchmal dem Pförtner die Ausweise der Zuspätgekommenen ab und lud die Sünder in ihr Zimmer zum persönlichen Gespräch. Was sie fragte, was sie sagte? Sie weiß es nicht mehr. Es wird so peinlich gewesen sein wie die Ermahnung, nie wieder zu spät zu kommen.

Traf sie eins der Mädchen vor dem Einschlafen, in einem womöglich zerfledderten Schmöker lesend, nahm sie ihn weg. Wusste sie nicht, dass womöglich so ein geliebtes Heft - wie kitschig es war - in jenem damals kalten großen Haus das einzige bisschen Heimat sein konnte? Sie nahm es weg. Sie schämt sich heute dafür, auch für alle ihr aufgegebenen Kontrollgänge, die sie absolvierte.

Sie lud Schriftsteller ein. Sie priesen die neue Zeit.

Johanna fand ihre Zeit nicht schön, aber eine andere oder bessere kannte sie nicht, nur den Krieg aus der früheren Zeit. Damals war sie unter den Tieffliegern mit den Großeltern mit einem Handwagen unterwegs gewesen und hatte sich weniger einsam gefühlt.

Sie dichtete, auch, wenn sie es nie Gedichte nannte: „Was ist das Rechte?... Standest du je und wägtest ab? Fühltest du je das Schweben: Wann bin ich der rechte Mensch?

Es kann das Geld nicht sein, nachdem man misst,

es kann die Zeit nicht sein, die du gewinnst.“

Von Freude ist die Rede, von Schwestern, Einsamkeit und Zweifeln...

Worüber spricht sie jenseits von Strafpredigten mit den Mädchen? Sie lädt manche zu ausgedehnten Teestunden ein. Sie bringt dafür in ihr Internatszimmer neben dem Friedenssaal manches aus ihrem Fernstudium mit: Älteste deutsche Dichtung wie die „Wesenburger Schöpfungsgedichte.“ Einmal sind es Johann Christian Günthers „Vaterländische Gesänge“, worüber sie ihre Abschlussarbeit schreiben will.

Sie lesen gemeinsam Gedichte und schreiben selber. Die neue Reihe „Antwortet uns“ mit Gedichten von Angelika Hurwicz, geht reihum. Dass es in einem Ort, nicht weit von der Stadt entfernt, in Wilhelmshorst, den Dichter Huchel gegeben hatte, wird Johanna erst viel später erfahren.

 

Sie erzählt von dieser Internatszeit vielleicht nur, weil es unter vielen Appellen und manchen Festen dieses Eine gab. Dazu eingeladen, kommen junge Offiziersschüler ins Internat: Tanz im Friedenssaal des alten Hauses! Freundschaft! Die Gäste bringen den Wein zum Fest. Johanna an jenem Abend - als Oberaufsicht in weißer Bluse - verbietet, das Geschenk ins Haus zu bringen. In der Kammer beim Pförtner sollen die Gäste es abstellen und abholen, wie sie es gebracht haben - so schnell wie möglich! Doch mittanzen dürfen sie. Die Mädchen warten schon!

„Darf ich bitten?“ Der oft gehörte Satz klingt wie nie gehört, und die Stimme fährt Johanna ins Blut: „Ich bin Hans.“

Sie tanzen im alten Friedenssaal. Vergessen, was sie tanzten. Johanna tanzt gern. Der ganze Abend ist ein einziger Tanz und immer die Stimme, mit der wortlos die Worte hin- und herspringen, bis zu diesem Satz: „Wie schön du bist.“ Johanna fühlt in dieser einen Stunde, in diesem einen Tanz fürs Leben: Sie ist schön! Aber so persönlich ist die große Freundschaft nicht gedacht. Da gehört eine ins Internat und der Ersehnte in seine Kaserne.

Nicht verlieben! Das ist nicht erlaubt! Tanzen ja, aber nicht verlieben!

Dass ihr jetzt nicht der Kuss, die Küsse, zu Papier werden, nicht die des ersten Abends, nicht die des nächsten, wenn Hans den Wein abholen wird, den scheußlich süß schmeckenden Erdbeerwein. Sie trinken trotzdem davon. Natürlich nicht allein, ein Leutnant ist zur Kontrolle mitgekommen und nur für Augenblicke verschwunden.

Briefe gehen in diesem Winter hin und her. Viel zu selten muss Hans zum Augenarzt und bekommt dafür frei. Noch im März herrscht ein vor Kälte klirrender Winter. Johannas Schüler bekommen deshalb Ferien und sind nach Hause gefahren.

Sie sitzt allein in dem großen Haus. Mit einem Heizöfchen an den Füßen soll und will sie ihre Jahresarbeit schreiben. „Die vaterländische Dichtung Johann Christian Günthers.“

Da bringt die Zeitung am Morgen den Bericht vom Parteitag in Moskau: die Wahrheit, so heißt es, über Stalin und die vielen Toten und die Lager im ewigen Schnee. Es ist ein Märztag des Jahres neunzehnhundertsechsundfünfzig. Johanna kann es nicht fassen. Sie will es nicht glauben, weil ihr schon ein einzelner Toter zu schaffen macht. Sie erinnert sich jenes Gefühls, das sie als Kind hatte, wenn sie in der Zeitung die Namen von gefallenen Nachbarn buchstabiert hatte.

„Nie wieder“, hatte es geheißen, als alles vorbei war. Und vor allem dieser Stalin und seine Soldaten hätten dafür gesorgt. Das sagten alle. Es stand so in der Zeitung, und sie hatte es gesehen und gelernt. Auch deshalb hatte sie im Chor sein Lieblingslied gesungen: „Suliko.“ Dieser oberste Soldat, den sie dafür bewundert hatte, dass er neben dem Regieren jeden Tag fünfhundert Seiten las, hatte soviel Menschen umgebracht! Sie empörte sich, presste die Hände vors Gesicht. Wie ein Kind, das eine gruselige Gestalt dann eher vergessen hatte.

Aber dieser Mann, der einmal fernab in seinem Kreml „Väterchen Stalin“ war, ließ sie ihr Lebtag nicht vollends los, zunehmend ärgerlich über sich, dass sie so folgenreich auf ihn hereingefallen war. Sie konnte es nie komisch finden.

Seltsam, dass gerade an diesem Tag plötzlich ein Schneeball an ihr Internatsleiterzimmerfenster knallte. Es war eins wie so viele im ersten Stock daneben.

Wer hält sich da nicht an die Tagesordnung! Sie geht ans Fenster und sieht den Liebsten in seiner Uniform im Schnee zu ihr hochblicken. Sie läuft, das steinerne Rondell umkreisend, die vielen Stufen hinunter ans Tor. Sie bittet den Pförtner, es zu öffnen. Misstrauisch betrachtet der hutzelige alte Mann die junge Erzieherin wie sonst die zu spät kommenden Schüler, denen er den Ausweis abzunehmen hat und ihn weitergeben muss an die, die nun bittend vor ihm steht. Humpelnd nähert sich die krumme Gestalt mit der Falte auf der Nasenwurzel, sucht umständlich den Schlüssel am großen Bund, mit dem er das Tor öffnet. Mit einem großen verhüllten Blumentopf im Arm, aus dem leuchtend die Farbe schimmert, kommt Hans ins Haus. Er murmelt Dienstliches, obwohl hier vor lauter Kälte heute gar nichts Dienstliches ansteht. Auch Johanna hält sich zurück, und so sehr sie es sich wünscht, fällt sie ihm nicht etwa um den Hals, auch, wenn ihr danach zu Mute ist. Förmlich reicht sie die Hand, leugnet ihre Ungeduld und geht den langen Weg neben ihm ins Zimmer, wo das Papier mit der Nachricht vom Morgen von den leuchtend roten Alpenveilchenblüten fällt. Hans und Johanna umfassen sich und tanzen, auch ohne Musik. „Ich habe Urlaub für den Augenarzt bekommen“, flüstert er ihr zu. Sie sucht, die Augen zu küssen, dass er keine Toten sehen kann. Er nickt, als sie das Papier mit dem Fuß zur Seite schiebt. Sie birgt ihr Gesicht an der Uniformschulter und hört die geliebte Stimme sagen: „Auch große Lehrer können irren.“

„Glaubst du das etwa?“ Sie lässt die Schulter los, sieht dem Geliebten ins Gesicht: „Nein“ und „nie, nie ...“ Die Stunde verfliegt. Der Abschied am Tor mit glühendem Gesicht, in das prüfend der alte Pförtner schaut.

Dann der Weg zurück ins Zimmer, wo die Zeitungen liegen und ihr Text auf sie wartet.

Wenn Hans wiederkommen wird, hat sie die Arbeit über Johann Christian Günther abgegeben, und in Versammlungen wird noch immer und wieder der Moskauer Parteitag beredet. Sie denkt an das Verzeihen des Liebsten für den großen Lehrer. Davon redet hier keiner. Aber in ihrer kindlichen Seele will sie bei ihrem Verlangen nach einer Zukunft bleiben, mit der sie dem heutigen Traum von einer Weltgemeinschaft nahe kommt. Nun eben ohne einen großen Führer!

Sie schiebt den so lange Verehrten zur Seite und weiß nicht, wie viel sie von diesem Geist in sich trägt.

Im Pädagogischen Rat hagelte es damals unangenehme Sätze für Johanna, das als Kader fürs Institut ausgewählte Musterkind. Eltern der Schüler hätten Anstoß genommen. Wer hatte wem den seltenen Besuch des Liebsten im Internat hinterbracht? Sie will keinen Gedanken an möglich Verdächtige aufbringen. Wer immer es war, er oder sie wusste nicht, dass das Großmutterkind bei aller Liebe nichts verstand von der Liebe, die Bitte des Liebsten vergeblich im Ohr. Um der Liebe Willen - kämpfte sie: Raus aus dem Internat!

Johanna träumte, wenn auch Hans raus wäre aus seiner Uniform, begänne das Leben. „Um mit dir am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“, hatte er gesagt und von gemeinsamen Wegen ins Theater oder ins Konzert gesprochen.

Vielleicht war auch alles anders, anders als das, was sie heute in Erinnerung an das Haus denkt, wenn sie die vergoldete Figur der Caritas auf der Spitze des Tempelturms in der abendlichen Silhouette der Stadt leuchten sieht oder die viele Treppen durch den Rundgang steigt, um die Bilder der Kinder und jungen Leute aus der Babelsberger Kunstschule darin hängen zu sehen. „Leute von früher“ haben die Kinder gemalt, meist Bäuerinnen bei der Feldarbeit. Johanna und ihre Zöglinge lebten eine viel zu kurze Zeit in diesem Haus, um „Leute von früher“ sein. Und ihre einst dort vergossenen Tränen haben ja nun wirklich nichts mit seiner Geschichte zu tun. Was wird man über sie sagen, denkt die alt gewordene Johanna, ein leises Grausen in der Seele.

 

Was soll sie selber sagen? Schreiben ist immer Erfindung - und es kommt immer zu spät. Alle sagen, wie sie möchten, dass es war. Steht die Wahrheit vielleicht in Briefen? Findet sich eine Spur in ihren täglichen Krakeleien, die ihr heute oft wie Mosaiksteine erscheinen. „Eine Tür öffnet sich, eine Tür schließt sich. Was dazwischen liegt ist es, ist das Leben“, sagte bisweilen der Vater, als er alt geworden war.

Gültig bleibt, dass Johanna damals kündigte, und die Direktorin des Lehrerbildungsinstituts missbilligend sagte: „Wenn ich in Ihrem Alter“ - zweiundzwanzig war Johanna gerade geworden - „eine solche Stellung gehabt hätte, wäre ich nie auf eine Kündigung gekommen.“

Eine Stellung? dachte Johanna damals. Was bedeutete das? In Stellung gehen hatte es geheißen, als Großmutter Hannchen in jungen Jahren aus der kleinen Stadt nach Spandau in einen Haushalt in Stellung gegangen war.

In wessen hochmögender Stellung war sie, Johanna, hier im Internat gewesen? grübelte die damals trotz ihres Wissens um Stalin parteigläubige Johanna. Es überkam sie eine Ahnung von der Macht, die noch immer von ihm ausging.

So bleiben neben ihren unreifen Strafmaßnahmen in ihrer Erzieherzeit vielleicht einige der Teestunden in ihrem Zimmer und der Mut, gekündigt zu haben. Lehrerin würde sie sein wie ihre früheren Kommilitonen, Prüfungen ablegen, auf Hans warten und manchmal Gedichte schreiben - über ihre Zweifel.

Später wird Johanna die Briefe des Liebsten verbrennen. Oder sind sie am Ende doch in den kleinen Lackkoffer gelangt, der, von der Großmutter aufbewahrt, Johannas frühe Schätze barg: die schwarzen Zöpfe, die sich allmählich rot färbten, die ersten Gedichte, die Sprüche von Freundinnen und Lehrern im Poesiealbum, vielleicht auch diese Briefe von Hans, und erst die Mutter verbrannte sie, wie alles, was sie beim Tod der Großmutter als unnützen Kram vorfand?

 

sie

„Jaja, immer mach!“

„Aber in meine alte Oberschulstadt. Und auf dem Rückweg werde ich endlich einen Abstecher nach Grünwalde und an den Ellenbogensee machen.“

Es bleibt einen Augenblick still in der Leitung, bis Barbara sagt: „Wozu? Es ist doch keiner mehr von uns damals da ..., und das ist alles lange her!“

„Eben, drum. Mach`s gut und grüß` Marie!“

Und in diesem Augenblick sind ihr Barbara und ihre beiden Schwestern heute wirklich näher als zwölf Jahre Grünwalde, in denen sie klein waren.

Der Zug setzt seine Fahrt fort, und als er Nassenheide durchfährt, erscheint in ihrer Erinnerung Freundin Ellen zum Dorfschulpraktikum und neben ihr Marianne, die Mentorin, bei der sie sahen und erprobten, wie man Kinder verschiedener Altersstufen in einer Stunde und in einem Raum unterrichten kann, dass es Gewinn für alle Beteiligten bringt. Jung wirkte sie, wenn sie mit frischer Stimme früh in die Klasse ging, für die sie manchmal auch nachts einen Einfall notiert hatte. Grau mischte sich ins straff zurückgesteckte Haar. Ganz allein lebte sie im kleinen Ort. Wie es sie hierher verschlagen hatte, erfuhren sie damals nicht. Den Besuch bei ihr, nachdem alle Prüfungen bestanden waren, verschoben sie und unternehmen ihn am Ende nie. Sie lernten viel über Fußball und tranken „Danziger Gold“ beim Feuerwehrball. Ob es Johannas Vorstellung, einmal wie Tolstoi Dorfkinder zu unterrichten und daneben ihre Romane zu schreiben näherkam, vermag sie nicht zu sagen. Kam nicht auch dieser Satz von Marianne? „Wenn er oder sie einen aus dem Dorf heiratet, ist er plötzlich mit dem ganzen Dorf verwandt!“ Aber daran dachten weder Ellen noch Johanna damals. Gleich Mosaiksteinen werden ihr nun Orte auf dieser Sommerfahrt begegnen, an die sich Erinnerungen binden, die sie manchmal schon vergessen gehabt hatte.