Impressum

Alexander Kröger

Antarktis 2020 – Originalausgabe

Wissenschaftlich-fantastischer Roman

 

ISBN 978-3-95655-737-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1973 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 119 der Reihe „Spannend erzählt“). Dem E-Book liegt die Originalausgabe aus dem Jahre 1973 zugrunde.

 

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Erster Teil: TITANGORA

I. Kapitel

Thomas Monig hatte Herzklopfen.

Auch das freundliche Lächeln der Sekretärin änderte nichts daran.

Er sah tatsächlich der nächsten Viertelstunde mit Bangen entgegen, obwohl dazu keinerlei Veranlassung bestand. Seine Zeugnisse und Beurteilungen waren gut, also konnte nichts schiefgehen.

Die Sekretärin würde schon in wenigen Tagen seine Arbeitskollegin sein und das repräsentative Hochhaus, in dessen 17. Etage er sich jetzt befand, seine künftige Wirkungsstätte.

Dennoch hatte er heiße, schwitzige Hände, und zum wiederholten Male wischte er sich die Rechte an seinem Hosenbein ab. Es schien ihm gewiss, dass Henry Mattau, der Staatssekretär, ihm die Hand drücken würde, vielleicht weil er einer alten Unsitte huldigte, vielleicht auch als Beweis eines gewissen Vertrauens.

Thomas hatte sich in verschiedenen Stockwerken des Gebäudes umgeschaut und immer wieder bestätigt gefunden, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Seine Mühe, während des Studiums darauf zu achten, angesehen zu sein, sich mit niemandem anzulegen, hatte sich offenbar durchaus gelohnt. Auch die Referenzen und Beurteilungen, die er nicht kannte, mussten ausgezeichnet sein, und das war schließlich die Vorbedingung für diesen Start.

Monig verwünschte im Stillen seine Befangenheit, von der er meinte, dass sie ihm anzusehen sei.

Endlich ein Summton auf dem Schreibtisch.

„Bitte, Sie können hineingehen“, sagte die Sekretärin.

Thomas stand auf, wischte mit der Rechten noch einmal über die Hose, überlegte kurz, ob er klopfen müsse, fand aber nichts, was an der gepolsterten Tür ein solches Bemühen hörbar gemacht hätte. So trat er betont forsch ein.

Ein mittelgroßes Zimmer, ein Tisch, daneben die Tastatur eines Videofons beachtlicher Größe, ein zusätzlicher Bildschirm, freundlich helle Gardinen, viel Grün - und eine gewisse, sich Monig augenblicklich mitteilende Unnahbarkeit, die von dem Mann hinter dem Schreibtisch ausging. Er war groß, schlank, hatte volles, fast weißes Haar. Die Haltung, vor allem aber sein Gesichtsausdruck, als er kurz aufstand, waren unpersönlich.

„Kollege Monig?“, fragte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, wies er auf einen Sessel: „Bitte, nimm Platz.“

Thomas setzte sich und kam irgendwie aus dem Konzept, als er feststellen musste, dass Henry Mattau keine Anstalten machte, hinter seinem Schreibtisch hervorzukommen. Er hatte sich wieder gesetzt und lehnte sich in seinem bequemen Drehstuhl zurück. Er schien auch keine Erklärungen zu erwarten, denn er begann sofort in einem, wie es Monig schien, frostigen Ton: „Du hast, Kollege Monig, unserem Schreiben entnommen, dass wir dich für fähig halten, in unserem Kombinat mitzuarbeiten. Wir erachten es aber für notwendig - und eine Aussprache mit deinem Mentor hat uns darin bestärkt -, dass du ein Intensivpraktikum absolvierst. Aus zwei Gründen: Für deine charakterliche Festigung und für die Vertiefung deines Wissens. Du wirst in diesem Praktikum bei der Vorbereitung und beim Aufschluss bergbaulicher Großvorhaben mitwirken, und zwar etwa ein halbes Jahr beim Titanaufschluss in der Antarktis, dann in der Meeresversuchsstation bei Manihiki, und schließlich wirst du am Vorhaben Erg In Asaken teilnehmen. Ein entsprechender Vertrag ist vorbereitet. Die in unserem ersten Schreiben genannten Bedingungen bleiben bestehen. Bei Erfüllung der Leistungskennzahlen erhältst du während der zwei Jahre - so lange wird es insgesamt sicher dauern - die für ein Intensivpraktikum festgelegten Leistungsbons. Abreise zu deiner ersten Station, der Antarktis, ist am Dienstag mit dem Vierzehnuhrflug nach Moskau.“

Mattau erläuterte noch einige Aufgaben, sagte etwas über die Bedingungen in der Antarktis und in den übrigen Objekten. Aber Thomas hörte kaum noch zu. Ihm war eine Welt eingestürzt.

In die Wüste schicken sie mich, sagte er sich, zur Erlangung charakterlicher Reife, wie Mattau sich ausgedrückt hat. Dieser Staatssekretär in seiner ruhigen, überlegenen Art brachte ihn auf. Du hast leicht reden hinter deinem Schreibtisch, dachte Thomas. Er war sich zwar im nächsten Augenblick bewusst, dass es jener Henry Mattau war, der vier Jahre lang unter schwersten Bedingungen die Station Mars I mit errichtet hatte. Aber das zählte jetzt nicht, jetzt sollte er in die Antarktis, und jetzt saß Henry Mattau gepflegt in einem behaglichen Zimmer und hatte, solange er sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte, nicht viel auszustehen. Und dem Kombinat wurde nachgesagt, dass man sich auf die Mitarbeiter verlassen könne. Der Mars war weit und Mattaus Tätigkeit dort vor Jahren für Monig Geschichte. Schließlich ist die Zeit nicht stehen geblieben, und die Lebensbedingungen haben sich verbessert. Informationen konnte man auch anders erhalten als an Ort und Stelle, als im Eis, auf den Wellen oder direkt im Wüstensand. Es gab darüber Berichte, die auch in Berlin nachzulesen waren.

Thomas wusste nicht, was er sagen sollte. Er dachte an Evelyn, mit der er, bevor er anfing zu arbeiten, ein paar unbeschwerte Urlaubstage verbringen wollte. Und er dachte an die zwei Jahre Trennung, die diese Entscheidung bedeutete.

Er versuchte sich zu fangen. Wo hatte er Fehler gemacht? Bei Professor Meinert? Den hatte Mattau sicher gar nicht kennengelernt, aber er berief sich schließlich auf ihn als Mentor.

Thomas gab sich einen Ruck. Hier wirken gewisse physikalische Gesetze, sagte er sich in einem Anflug von Galgenhumor, die Hebelgesetze, und du sitzt am kürzeren Ende. Die beiden dagegen - Thomas lächelte sarkastisch - am längeren.

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass er möglicherweise ungerecht urteilte. Schließlich konnten es beide ehrlich mit ihm meinen, Meinert, na ja, aber Mattau, auf dessen Entscheidung es ankam ... Vielleicht war das Praktikum wirklich vernünftig.

Er musste etwas sagen, Mattau sah ihn abwartend an. „Keine Fragen“, sagte er und fühlte, dass das nicht die geeignete Antwort war.

Mattau lächelte, warf einen Blick in seine Papiere und fragte dann: „Hattest du dir etwas anderes vorgestellt?“

„Nnnein“, antwortete Thomas zögernd. „Es kann auf keinen Fall schaden, Erfahrungen zu sammeln, und ich stelle mir ...“ - er schluckte und wunderte sich, wie gut es über die Lippen ging - gerade diese drei Aufgaben außerordentlich interessant vor.“

„Es freut mich“, sagte Mattau. Er kam um den Schreibtisch herum und trat auf Thomas zu.

Thomas stand auf.

„Es freut mich“, wiederholte Mattau, „dass wir hierin übereinstimmen. Wir werden von dir hören, selbstverständlich stehen wir dir jederzeit zu Konsultationen zur Verfügung.“ Mattau deutete einen Gruß an. „Gute Reise - und viel Erfolg!“

Als Thomas das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Mattau an seinen Tisch und strich sich mit der Linken über Stirn und Augen. Es schien, als habe ihn die Unterredung angestrengt.

Dann beugte er sich zu seiner Sprechanlage, drückte die Taste und sagte: „Theres, bitte mache das Antwortschreiben an Meinert fertig. Inhalt: Wir stimmen mit seinem Vorschlag überein. Monig nimmt nächste Woche das Praktikum auf.

Ein zweites Schreiben geht an ...“, Mattau blätterte in einem Verzeichnis, das auf seinem Schreibtisch lag, „... Lewrow, den Leiter der Abteilung GEOMESS in TITANGORA. Wir geben diesem Schreiben eine Abschrift der Mitteilung Meinerts bei und bitten, Monig tüchtig ranzunehmen und uns im üblichen Turnus Bericht über den Verlauf des Praktikums zu geben.

Ich empfehle, das Schreiben für die Antarktis über TELEDAT abzusetzen. Danke!“

 

Thomas Monig wanderte durch den sonnigen Berliner Herbsttag. Er hatte nicht das Gefühl, das ihn sonst befiel, wenn er sich in der Hauptstadt befand, ein Gefühl des Losgelöstseins vom Alltag und einer gewissen Unternehmungslust.

Er wusste nicht, ob es Wut war oder Ärger, Niedergeschlagenheit wie nach einem schweren Misserfolg oder einfach Trauer um seine Wunschträume.

Er ließ sich treiben von dem bunten Völkchen der Touristen, von den Passanten, den Schaufensterbummlern und den Eiligen oder auch Nichteiligen, die auf den breiten, tartanbelegten Wegen unterwegs waren. Er sah sich nicht einmal um, wenn ein besonders gut gewachsenes Mädchen an ihm vorüberging, er sah eigentlich überhaupt nichts, hatte die Hände in seinem Überwurf vergraben und wich zerstreut den Menschen aus.

Auf dem Alexanderplatz fand er sich wieder - vor einem historischen Bauwerk aus den siebziger Jahren, der Weltzeituhr, die sich, unmittelbar am modernen kunststoffverkleideten Trakt der Vakuumschnellbahn, ein wenig vorsintflutlich ausnahm.

Hier blieb Thomas stehen. Er betrachtete die Kontinente, die auf der Uhr abgebildet waren, suchte die Antarktis. Dann ärgerte er sich, dass die Uhr noch den Vierundzwanzigstundentag und nicht den Zwanzigstundentag anzeigte, und rechnete sich trotzdem aus, wie spät es jetzt ungefähr in TITANGORA sein mochte.

Dann setzte er sich auf eine Bank, immer noch die Hände in den Taschen, stierte erst auf seine Schuhspitzen und sah dann dem unbekümmerten Treiben dreier Spatzen zu, die, der vielen Vorbeieilenden kaum achtend, vom Plastebelag des Weges die Krümel einer Eiswaffel aufpickten, die ihnen zwei halbwüchsige Mädchen zuwarfen.

Thomas spürte die Wärme der Herbstsonne. Er legte seinen Kopf in den Nacken, sah seitlich, hoch oben, die silberne Kugel des Fernsehturms, deren Reflexkreuz ihn blendete, und er dachte daran, dass ihn bald, falls er Glück hatte und das Wetter danach war, Eis blenden könnte, das Eis der Antarktis. Tief verärgert murmelte er selbstvergessen, aber so laut, dass sich zwei schreiend bunt angezogene ältliche Ausländerinnen erstaunt nach ihm umdrehten: „Scheiße!“

Später schlenderte er zum Hotel, das ihn ebenfalls plötzlich mit seiner neuen, glitzernden Glasfassade aufdringlich an Eis erinnerte. Er bekam in dieser frühen Abendstunde im Restaurant einen Platz, tippte sich Bons für ein sehr reichhaltiges Mahl, aß übermäßig und trank mehrere Gläser Bier. Allmählich stellte sich mit dem Gefühl, gegen Mattaus Entscheidung nichts ausrichten zu können, eine gewisse Gleichgültigkeit ein, aber auch die Gewissheit, die ihm eigentlich immer eigen war, dass er es auch unter diesen Bedingungen irgendwie schaffen werde. Er hatte bisher mit einem Minimum an Aufwand alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte. So würde auch dieses Praktikum zu überstehen sein.

Und Evelyn? Evelyn wird es schon einsehen. Jetzt hieß es, aus den verbleibenden wenigen Tagen so viel wie möglich zu machen, bevor es ab in die Wüste ging.

Thomas beschloss, ohne Verzug damit zu beginnen. Er ging zum Büfett, weil der Tischwähler den Code für Kognak nicht auswies, und bestellte sich hundert Gramm des gehaltvollen Getränks zur nicht geringen Verwunderung der anderen Gäste am Tisch, zweier blauhaariger, auf die moderne Zwillingsmasche getrimmter junger Damen und eines blassen, neben ihnen völlig unscheinbar wirkenden jungen Mannes. Thomas trank genießerisch in kleinen Schlucken. Danach fuhr er nach oben, ging in sein Zimmer, bestellte beim Zimmerservice einen Gesellschaftsanzug und stellte fest, dass er ihm vorzüglich passte. Zunächst aber ließ er sich von den Frottierbürsten im Bad ordentlich durchwalken und erfrischen, ehe er sich sorgfältig anzog und die Bar aufsuchte.

II. Kapitel

Im Grunde genommen war es wieder mal meine verflixte, gelinde gesagt, Schwäche, nicht nein sagen zu können, ärgerte sich Thomas. Er saß im Flugzeug und hatte Zeit, erneut seine Lage zu bedenken.

Er hat mich ganz schön abfahren lassen, der Kollege Staatssekretär Mattau, seines Zeichens Direktor für Technik.

Thomas gestand sich ein, dass er den Schlag mit dem Praktikum noch nicht überwunden hatte. Im Gegenteil!

Evelyns Reaktion, ihr Verständnis für die Ansichten Mattaus, hatte ihn derart geschockt, dass er mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt hatte, seine Zusage zu widerrufen.

Er hätte sich nie träumen lassen, dass Evelyn ihn so einschätzte. Sie urteilte härter als Mattau. Was jener zurückhaltend als charakterliche Festigung bezeichnete, präzisierte sie als notwendige Überwindung von „Arroganz“, „Überheblichkeit“ und „Egoismus“. Und mit dieser Frau wollte ich mich ein Leben lang zusammentun! Tja, mein lieber Tom, da dachtest du: eine bequeme Stelle in der Berliner Kombinatsleitung, täglich ein paar Stunden arbeiten, Exkursionen, dazu eine Wohnung in wasserreicher Umgebung …

Nun, wenn Mattau meine Nase nicht passt, ist nichts zu machen. Zugegeben, sie ist ein wenig kartoffelig ... Bei dem Gedanken lächelte Thomas unwillkürlich. Und dann sah er auf wie ertappt. Schließlich war es mit der Würde eines angehenden Wissenschaftlers in einer Mission wie der seinen unvereinbar, einfältig vor sich hin zu lächeln.

Alle Wetter, wirklich hübsch! Endlich ein Lichtblick.

Der Anblick seines Gegenübers versöhnte ihn mit seinem Platz. Gleich nach dem Einsteigen hatte er sich geärgert, weil er über der Tragfläche sitzen musste. Bei seinem Pech hatte er eigentlich einen mürrisch dreinschauenden Reisegefährten erwartet, um in dem Gefühl, alle Welt habe sich gegen ihn verschworen, richtig weiterschwelgen zu können.

Er schaute scheinbar gleichgültig auf die Tragfläche, nahm, angeregt durch die blendenden Reflexe des blanken Metalls, seine dunkle Brille, pustete ein Stäubchen von den Gläsern, schob sie auf die Nase und blickte wieder verstohlen zu seiner Reisegefährtin. Sie hatte unterdessen eine satirische Zeitschrift aufgeschlagen und verdeckte damit die Partien, denen Monig jetzt, im Schutze der Sonnenbrille, mit Ruhe seine Aufmerksamkeit widmen wollte.

Er kannte das Heft und fand die meisten Beiträge ziemlich fad. Also würde ihre Lektüre, hatte sie einen ähnlichen Geschmack, nicht von langer Dauer sein.

Der Automat kam Thomas zu Hilfe. Er warf die unvermeidlichen Bonbons in die Schalen am Sitz, und der Bildschirm mahnte in vier Sprachen mit einem aufdringlichen Summton, sich auf den Start vorzubereiten. Altmodische Angelegenheit, dachte Thomas.

Die Zeitschrift sank, und bei Monigs Gegenüber zeigten sich glücklicherweise Schwierigkeiten beim Schließen des Sicherheitsgurts. Der automatische Verschluss hatte einen überdimensionalen Zierknopf ihres Kleides eingeklemmt.

Er ergriff die Gelegenheit. „Darf ich?“, fragte er und fasste schon zu.

„Das ist in jedem Flugzeug anders“, sagte sie, ihr Ungeschick gleichsam entschuldigend.

Aha, so oft ist sie noch nicht geflogen, folgerte Thomas. „Ja“, sagte er klug, „es wäre an der Zeit, auch solche Kleinigkeiten international zu standardisieren.“

Der Bordfunk flüsterte den Reisenden den Wetterbericht ins Ohr und wies darauf hin, dass ausnahmsweise heute der Flug länger in unteren Atmosphärenschichten erfolgen müsse. Der Sprecher gab einen diskreten Hinweis, dass sich die imprägnierten Tüten in den Seitentaschen der Sitze befänden.

„Die brauche ich nicht“, sagte Thomas erhaben zu seinem Gegenüber.

Sie lächelte besserwissend, hatte er den Eindruck. Aber was sie sicher nicht wusste war, dass er vor dem Einsteigen verstohlen zwei Pillen geschluckt hatte - gegen die Flugkrankheit.

Thomas schien, sie war blasser geworden. „Haben Sie Bedenken?“, fragte er.

„Leider Erfahrungen“, antwortete sie.

Thomas wurde großmütig und vertraute ihr neben seinem Geheimnis zwei seiner kostbaren Pillen an. Sie nahm sie skeptisch und schluckte sie hoffend.

Das Eis war gebrochen.

„Thomas Monig“, stellte er sich vor.

„Kavor, Evelyn“, erwiderte sie zögernd.

Zweimal in meiner Umgebung dieser schrecklich antiquierte Vorname, dachte er belustigt. Ev, was wird sie jetzt machen? Der Abschied war kühl gewesen. Kein Wunder, nach der Auseinandersetzung. Warum war sie auch so heftig? Sie musste doch merken, dass ich eingelenkt habe - schon allein, weil ich nun zur Antarktis fliege, auch wenn ich nicht überzeugt bin, dass das Praktikum für mich so unbedingt notwendig ist.

Ich werde ihr schreiben, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, nahm Thomas sich vor.

„Bleiben Sie in Moskau?“, fragte er.

„Nein, ich fliege weiter nach dem Süden, übermorgen.“

„Darf ich fragen, wohin?“ Thomas wurde hellhörig.

„Erst nach Kapstadt“, antwortete sie bereitwillig. „Mir graust vor der Fliegerei.“

„Das finde ich aber merkwürdig“, rief Thomas. „Dorthin muss ich nämlich auch, offenbar mit der gleichen Maschine. Die Linie wird doch nur zweimal in der Woche beflogen. Nun sagen sie bloß noch, Sie wollen nach Mirny!“

„Ja“, bestätigte sie überrascht.

Thomas brauchte einige Augenblicke der Sammlung und lehnte sich kopfschüttelnd zurück. Da glaubte er, ihr mit seinem Flug in die Antarktis mächtig imponieren zu können, und nun das!

Aber näher betrachtet, ist der Zufall nicht so groß, überlegte er. Wer nach Mirny will und in Moskau noch die üblichen Formalitäten zu erledigen hat, der muss dieser Tage fliegen, um in Kapstadt den planmäßigen Anschluss zu bekommen. Zufall ist, dass wir im gleichen Flugzeug sind und uns gegenübersitzen. Sicher werden sich in Moskau noch einige Antarktisfahrer zu uns gesellen.

Im Augenblick war er mit seinem Geschick zufrieden. Die „andere Evelyn“, wie er sie bei sich zu nennen beschloss, gefiel ihm. Sie hatte eine angenehme dunkle Stimme und sehr ebenmäßige weiße Zähne, Merkmale, die bei ihm immer Sympathie auslösten. Sie war groß, trug die Haare extrem kurz geschnitten.

Thomas sah so unauffällig wie möglich nach ihren Augen. Richtig. Sie gaben dem Gesicht diesen eigenartigen Reiz. Sie waren hellgraublau, ein seltener Kontrast zum fast schwarzen Haar. Ihr Gesicht war nicht eigentlich hübsch. Die Nase vielleicht eine Idee zu kurz, die Jochbeine ein wenig zu ausgeprägt. Aber der Reiz, der von diesen Augen ausging ...

Hier hast du keine Chance, Tom, sagte er sich. Er gab sich dennoch einen innerlichen Ruck und zog seinen Bauch ein, der als zwar kleine, aber immerhin sichtbare Wulst über der Hose unter dem hochgeschobenen Jumper hervorlugte. Der Gedanke an seine im Anfangsstadium stehende natürliche Tonsur und die chronischen Augenschatten war auch nicht gerade erfreulich. Sie ist fast ein Jahrzehnt jünger als ich, neunzehn bis zweiundzwanzig, schätzte er. Also, mein Lieber, nicht die geringsten Chancen.

Eine angenehme, sehr angenehme Reisegesellschaft, stellte er fest. Und das Bedürfnis, gleich nach der Ankunft Ev zu schreiben, war gar nicht mehr so dringlich. Aus seinen Gedanken gerissen wurde er durch das Aufdonnern der Strahltriebwerke.

„Es geht los“, rief er überflüssigerweise.

Das Flugzeug rollte langsam, erschütterungsfrei in die Startposition. Die andere Evelyn bemühte sich von ihrem Platz aus, der genauso ungünstig war wie der seine, etwas von draußen zu sehen.

Es hat sie keiner zum Flugplatz begleitet, stellte Monig befriedigt fest, als er andere Passagiere beobachtete, die zu den Fenstern drängten, um ihren Angehörigen oder Freunden zu winken.

Mich hat ja auch niemand gebracht, dämpfte er seinen Optimismus, obwohl es Ev gibt. Also will das nichts besagen.

Die Maschine hielt. Sie hatte den Anfang der Startbahn erreicht. Die Triebwerke brüllten auf, liefen auf vollen Touren.

Und da rollten sie schon. Wie so oft nahm Thomas sich vor, genau auf den Zeitpunkt zu achten, an dem sich das Flugzeug vom Boden hob. Doch er merkte erst, als sich die Tragfläche bereits in die Ausflugkurve neigte, dass sie flogen.

Thomas rutschte, soweit es der umgelegte Gurt zuließ, näher zum Fenster, um einen Blick zurück auf Berlin zu werfen.

Er bildete sich ein, den Duft des Haares seiner Reisegefährtin zu verspüren, deren Gesicht sich einen Fingerbreit neben dem seinen befand. Er wich ein paar Dezimeter zurück und betrachtete dieses Gesicht aus der Nähe. Irgendwie, das spürte er, schienen seine Chancen zu steigen.

Thomas wollte nicht, dass sie ihn beim Anstarren ertappte, und rückte wieder näher ans Fenster. Entfernt war die Stadt zu sehen, modellhaft, wie hingetupft die großen Gebäude im Zentrum, überragt vom Fernsehturm, der wie zum Abschied mit den Reflexen auf der Kugel blinkte.

Neben dem Alexhotel wirkten das Pressezentrum - das ehemalige Springergebäude - und die anderen Hochhäuser klein.

Unwillkürlich dachte Monig fünf Jahre zurück. Wie schnell die Zeit vergangen war! Damals, als die sogenannten westlichen Alliierten die Stadt verließen und kurz danach die paritätische Verwaltungskommission gebildet wurde, stand ich kurz vor dem Diplom, überlegte er. War ein ganz schönes Durcheinander auf den Behörden damals, kein Mensch hatte Sinn für einen wissbegierigen Diplomanden.

Die Maschine hatte ihren Kurs eingeschlagen. Sie flog Richtung Vilnius, eine Strecke, die Thomas bekannt war. Er rückte vom Fenster weg. Seine Begleiterin, der die Tragfläche den Blick nach unten jetzt ebenfalls völlig verwehrte, lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

„Ich werde immer noch nicht damit fertig“, sagte Thomas, „dass Sie auch nach Mirny fliegen. Welche Aufgabe haben Sie?“

„Gesundheitswesen“, antwortete sie. „Ich mache dort mein ärztliches Praktikum.“

„Den Sommer über?“, fragte er.

„Nein“, entgegnete sie, „für uns ist es gerade der antarktische Winter, der Probleme bringt. Wir wollen feststellen, wie die Menschen die extremen Temperaturen vertragen und wie den dort auftretenden Krankheiten beizukommen ist.“

„Wird es nicht zu anstrengend für Sie werden? Der Winter in Mirny soll trotz allem Komfort sehr langweilig sein.“

Sie sah Thomas erstaunt an und sagte: „Ich habe doch eine Aufgabe! In meiner Seminargruppe wären viele froh gewesen, hätten sie die gleiche Möglichkeit wie ich gehabt.“

Das ist ja eine, dachte Thomas, spricht wie Mattau. - Er beugte sich etwas vor und sagte leichthin: „Ich mache auch eine Art Praktikum, aber mir genügt der Sommer.“

Sie ging auf seine Bemerkung nicht ein und fragte: „Von welcher Fachrichtung sind Sie?“

„Bergbauwissenschaften - mit vermessungstechnischen Spezialkenntnissen.“

„Da werden Sie ja direkt unter Tage eingesetzt?“, fragte sie.

„Ja sicher“, antwortete er wenig begeistert. „Unter Eis, könnte man vielleicht besser sagen, in TITANGORA, tausend Kilometer südlich von Mirny.“

Sie lächelte. „Das stelle ich mir sehr schwierig vor“, sagte sie.

„Na ja“, antwortete er. „Aber vom Bergbaulichen her wird es kaum anders als überall sein.“

„Aber die extremen Bedingungen!“, warf sie ein. „Und die Menschen unter diesen Bedingungen, das muss doch auch für Sie eine völlig neue Aufgabe sein.“

Thomas schaute sie an. Eigenartige Vorstellungen, dachte er. Was soll das schon für eine besondere Aufgabe sein? Ein Bergbau wie jeder andere. Na gut, die Strecken werden im Eis vorgetrieben und sollen wohl auch einen größeren Querschnitt haben. Und sicher wird das Eis selbst einige Probleme bringen. Aber so schrecklich neu stelle ich mir das nicht vor.

„Ich weiß nicht“, sagte er. „Ich habe mit einem Bekannten gesprochen, der zur Exkursion dort war. Er fand die Bedingungen im Vergleich zu anderen Bergwerken nicht so unterschiedlich. Und die Menschen“, redete er weiter, „warum sollen die anders sein? Ein großer Teil, die ehemaligen Armee-Einheiten, hat seinen Befehl und arbeitet. Mit ihnen müsste daher ein wesentlich leichteres Auskommen sein als mit den Werktätigen in unseren Betrieben hier.“

Sie schaute ihn zweifelnd an, und er hatte den Eindruck, als zucke sie kaum merklich mit den Schultern.

Sie wechselte das Thema. „Was müssen Sie in Moskau noch erledigen?“, fragte sie.

„Das übliche, Kontrollen und den internationalen Pass ausstellen lassen. Nicht allzu viel. Ich denke, dass in einem Vormittag alles geregelt sein könnte, wenn die Kollegen im Büro in Stimmung sind.“

„Meinen Sie“, fragte sie weiter, „dass wir Gelegenheit haben, uns die Stadt ein wenig anzuschaun? Ich bin das erste Mal in Moskau.“

„Ganz bestimmt“, sagte Thomas obenhin. „Wir haben doch drei Tage Zeit. Sicher ergibt sich auch die Gelegenheit, ein Theater zu besuchen oder so was.“

„Meinen Sie, dass man da ohne Vorbestellung hineinkommt?“

„Warum nicht?“, sagte er und fühlte eine gewisse Überlegenheit in sich aufsteigen, die ihm beim vorigen Thema abhandengekommen war. „Ich habe eine Bekannte in Moskau - eine Kommilitonin“, fügte er eilfertig erklärend hinzu. „Sie hat mit mir zusammen studiert.“

Quatsch, dachte er. Muss sie ja wohl, wenn sie eine Kommilitonin ist. Er sprach rasch weiter: „Und immer wenn ich in Moskau war ...“, hier betonte er das „immer“, sie wusste ja nicht, dass er auch erst das zweite Mal nach Moskau reiste, „... hat sie mir Eintrittskarten besorgt. Ich habe ihr vorsichtshalber geschrieben, dass ich drei Tage dort bin.“

„Da sind Sie besser dran als ich“, stellte sie fest.

„Keine Angst“, sagte Thomas, „das arrangiere ich schon. Wie ich Walja kenne, ist sie froh, sich nicht drei Tage lang mit mir beschäftigen zu müssen, und gibt Ihnen gern ihre Karten ab, falls sie wirklich welche besorgt hat. Es sei denn, Sie sind in Russisch genauso schlecht wie ich, dann könnten wir sie als Dolmetscher brauchen.“

„Da habe ich nun wieder keine Bedenken“, sagte sie lächelnd, „es geht leidlich.“

Thomas frischte sein Prestige wieder auf und sagte: „Ja, lesen und Fachtexte übersetzen, das kann ich schon, aber sprechen? Hemmungen, Sie verstehen …“

Sie sah ihn komisch-zweifelnd an.

„... die erst bei zweihundert Gramm Kognak vergehen“, setzte er witzelnd fort, worauf sie die Nase rümpfte.

Er wollte sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. „Englisch geht es besser“, fügte er deshalb hinzu. „Und wahrscheinlich werde ich es in TITANGORA mehr brauchen als Russisch. Es sollen ja zu achtzig Prozent Amerikaner im Schacht arbeiten.“

Er bereute diese Worte gleich, nachdem er sie ausgesprochen hatte, weil er wegen der dummen Angeberei das Gespräch wieder auf das leidige Bergbauthema lenkte.

„Wie geht nach dem Praktikum in Mirny Ihre Ausbildung weiter?“, fragte er deshalb schnell.

„Vielleicht reicht das Material, das ich dort sammeln soll, um eine Dissertation daraus zu machen.“

„Im Staatssekretariat, in dem ich vor dem Abflug war“, erklärte Thomas, „hat man mir mitgeteilt, dass ich nach TITANGORA noch in mindestens zwei Objekten unseres Kombinates praktizieren muss.“

Er stellte befriedigt fest, dass sie sich aufmerksam vorbeugte.

„Wir stecken jetzt in der ganzen Welt“, ergänzte er.

„Ich habe davon gelesen“, antwortete sie, „das ist doch das Kombinat INTERGAN?“

„Ja“, sagte Thomas. „Normalerweise geht es bei uns Technikern nicht so vornehm zu“, spöttelte er unsachlich. „Wenn wir ein so interessantes Praktikum ableisten dürfen, dann muss schon etwas dahinterstecken. Und bei mir ist es das Kombinat für Internationale Gewinnung und Aufbereitung von Naturstoffen. Ansonsten scheinen Objekte wie die Antarktis den Medizinern vorbehalten zu sein.“

Ohne auf seine Anspielung einzugehen, fragte sie: „Sie nehmen dort eine leitende Stelle ein?“

Würde ich gern, dachte er. „Das ist zuviel gesagt“, bemerkte er bescheiden, „ich soll da hineinqualifiziert werden - in die wissenschaftliche Arbeit.“

„Da werden Sie sich in Zukunft öfter mit solchen Objekten wie das in TITANGORA zu befassen haben? Ich habe da neulich gelesen, dass im Ozean eine Station zur Wasserverhüttung …“

„- enterzung und anderes“, unterbrach er sie.

„... ja richtig, Enterzung, eingerichtet wird. Und auf dem Mond spielt Ihr Kombinat doch auch eine Rolle?“ Sie hatte schnell gesprochen, saß nur noch auf der Kante des Sessels, so weit war sie an Thomas herangerutscht.

Er freute sich über ihre Anteilnahme und legte sich zurecht, was er ihr wohl alles sagen und welche Rolle er sich dabei zuordnen könnte. Ich werde ihr natürlich verschweigen, nahm er sich vor, dass es im Kombinat auch Tätigkeiten gibt, die sich zwar irgendwie mit diesen Objekten befassen, aber von einem Berliner Schreibtisch aus, und dass die Bearbeiter die Objekte ihr Leben lang nicht zu sehen bekommen. Nicht sagen werde ich ihr auch, dass ich mir gerade so eine Tätigkeit gewünscht habe.

„In die Ozeanstation muss ich übrigens während meiner zweiten Praktikumsetappe ...“ Und Thomas begann zu erzählen von allem, was er wusste und nicht wusste im Zusammenhang mit diesen Objekten. Sehr eingehend informiert war er nicht, da er annahm, er habe für derartiges nach Antritt seiner Tätigkeit genügend Zeit. Und er wunderte sich, wie begeistert er von seinem Praktikum sprach. Am Ende glaube ich noch selber, dass es eine wunderbare Sache ist, dachte er.

Der Automat schickte entlang der Versorgungsschiene einen Imbiss.

Während des Essens plauderten sie weiter. Thomas erfuhr, freimütig von der anderen Evelyn erzählt, dass ihr Vater Vorsitzender einer landwirtschaftlichen Kooperation sei, dass sie zwei jüngere Schwestern habe und einen älteren Bruder.

Von ihrer Aufgeschlossenheit wurde Monig angesteckt. Er erzählte Geschichten aus seiner Studentenzeit, darauf bedacht, sich ein wenig in den Vordergrund zu spielen. Und er übernahm freizügig studentische Anekdoten in seine Erlebnisberichte.

Sie lachte, zeigte dabei ihre schönen Zähne, und Thomas wuchs als Unterhalter über sich selbst hinaus. Sie waren beide erstaunt, als der Automat zu surren begann und ihnen die Gurte umlegte. Das Flugzeug setzte zur Landung in Scheremetjewo an.