Impressum

Alexander Kröger

Andere

Utopischer Roman

 

ISBN 978-3-95655-650-0 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig. Dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1990 zugrunde.

 

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1. Teil: Aufbruch

1. Kapitel

Marcus 662 Arkade, der Tagungsleiter, las laut, aber monoton, offensichtlich wollte er sich rasch dieser Aufgabe entledigen. Die geringe Aufmerksamkeit, die das Auditorium dem Vortrag entgegenbrachte, störte ihn offensichtlich nicht.

Die Strahlen der Sonne zeichneten Rhomben auf Fußboden und Tische. Es vertropfte jene Stunde des Tages, die die Physiologen als die unproduktivste kennzeichnen, der Zeitraum nach dem Mittagessen, bei einem länger, beim anderen kürzer das Aufnahmevermögen beeinträchtigend.

Das bewies ein Blick in die Runde der Versammelten. Und auch der erlauchte Kreis blieb nicht verschont; die zwei Drittel älterer Herren strahlten also keineswegs die Lebhaftigkeit aus, die das Thema der Tagung eigentlich abverlangt hätte. Bei den anwesenden Frauen und einigen jüngeren Männern hatte man nicht unbedingt den Eindruck, sie seien ebenfalls der allgemeinen Müdigkeit verfallen, aber auch sie hörten dem Tagungsleiter nur mäßig interessiert zu, der ein — auch noch sehr umständlich formuliertes — Gutachten über die Verträglichkeit, Verschmelzung gar, von Genen unterschiedlicher Spezies trocken verlas. Obzwar von einer Koryphäe auf diesem Gebiet erstellt, wusste man schließlich nicht, ob und wann und unter welchen Bedingungen so etwas stattfand oder verhindert wurde. Und es hatte durchaus den Anschein, als ob nicht wenige Angehörige der erweiterten Ratssitzung der Internationalen Front ein derartiges Traktat als leichte Zumutung empfanden. Der Schluss des Vorgelesenen ging dann auch in einem allgemeinen Gemurmel unter, der Tagungsleiter klappte das letzte Manuskriptblatt betont um, blickte über die Brille hinweg in den Saal und sagte mit erhobener Stimme, mit einer gewissen Schärfe auch im Ton: »Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr Maren nulleinundzwanzig Call, Vorsitzende der Ständigen Kommission Ökologie und Bioschutz, das Wort!«

Das Gebrummle im Raum flaute jäh ab, viele der Anwesenden veränderten ihre Sitzhaltung, deutliche Erwartung stand in den meisten Gesichtern.

Es erhob sich eine mittelgroße, nicht übermäßig schlanke und kaum sehr attraktiv erscheinende junge Frau und schritt selbstbewusst, mit tackenden Absätzen, verfolgt von zahlreichen Blicken, zum Rednerpult.

Ganz sicher hatte die Tagungsleitung den Beitrag der Call absichtlich auf diesen Zeitpunkt gelegt, gewiss, dass es ihr gelingen werde, die Aufmerksamkeit aller wiederzuerwecken, einen Höhepunkt zu setzen, wie schon oft.

Trotz ihrer erst dreißigjährigen Lebenserfahrung hatte Maren 021 Call ihren guten Stand und Namen im Gremium. Und wenn sie auch ab und an übers Ziel schoss, niemals argumentierte sie leichtfertig. Ihre Beiträge zeugten von hoher Verantwortung, und sie löste sich nie von der in ihrer Kommission erstrittenen Disposition. Allerdings verstand sie, diese dann mit Vehemenz, Spott manchmal und viel Emotionalität überzeugend vorzutragen. Ein Blatt vor den Mund nahm sie nicht, und das erwartete man auch heute bei dieser brisanten Thematik, zumal die konträre Ansicht der Ständigen Kommission zur allgemeinen, durch das Präsidium stimulierten Erwartungshaltung bekannt war.

Maren 021 Call nahm den Platz hinter dem Pult ein, sah einmal über die Köpfe hinweg und begann: »Freunde! Nach dem engagierten Plädoyer unseres verehrten Freundes Ray dreihundertdreiundvierzig Mentzig, das er im Namen des Zentralrates der Vereinten Fortschrittsbünde hier vorgetragen hat, fällt es mir natürlich nicht leicht, den Standpunkt meiner Kommission zu vertreten. Noch schwerer wird es sein zu überzeugen. Aber ich muss es, wir müssen es, wenn von diesem Planeten Erde — ja, so groß muss ich das sagen — Unheil abgehalten werden soll. Und ich behaupte gleich: Was die Bünde vorschlagen und durchsetzen wollen, ist in diesem Falle alles andere als Fortschritt!«

Im Saal erhoben sich Gemurmel und vereinzelt Beifall.

»Aber ich weiß natürlich ...«, Maren Call ging mit der Stimme zurück, »... die Bünde können eine andere Meinung nicht vertreten, um so mehr sollten durch euch, werte Mitglieder des Rates, unsere Argumente geprüft und schließlich akzeptiert werden!

Kein wissender Mensch auf dieser Erde bleibt von dem Ereignis, Kontakt mit anderen vernünftigen Wesen dieses Kosmos zu haben, unberührt. Ja, ich stimme dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, ich stimme auch Ray Mentzig zu, ein Traum der Menschheit ist in Erfüllung gegangen!«

»Na also!«, rief jemand.

Maren Call ließ sich nicht beirren. »Generationen von Autoren wissenschaftlich-fantastischer Romane haben solche Ereignisse beschrieben, und die meisten haben wohl recht in ihrer Ansicht, dass ein solches Zusammentreffen zum gegenseitigen Nutzen gereicht. Ja, natürlich muss man auch davon ausgehen, dass eine Zivilisation, die interstellaren Entfernungen zu überbrücken, über Jahrtausende lebensfähige Keimzellen zu überliefern imstande ist, uns unschätzbare Entwicklungsimpulse verleihen könnte, in jeder Hinsicht vielleicht. Wir gehen davon aus, dass eine solche Begegnung nur freundlich verlaufen kann. Und die zwei Vertreter einer anderen Zivilisation, die gegenwärtig auf der Erde leben, stellen darin keine Ausnahme dar, nach allem, was wir von ihnen wissen.

Aber Freunde, die Konstellation ist doch eine völlig andere, als in der Fantasie vorausgeträumt! Es ist und es wird — nehmen wir den Vorschlag der Bünde an — doch niemals ein Kontakt, der von gleichwertigen, souveränen Basen ausgeht, der jederzeit gelöst, falls er nicht wie gewünscht verläuft, der auf gute Nachbarschaft oder Bekanntschaft begrenzt werden könnte, wenn die Seiten es wollten. Was hier vorgeschlagen wird und realisiert werden soll, wäre irreparabel! Wir müssten, sicher ein scheinbar verschmerzbarer Fakt, teilen — aber nicht im Sinne des stückweise Gebens — das vielleicht am Anfang —, sondern wir müssten überlassen zur souveränen Nutzung: Rohstoffe, Lebensräume und selbstverständlich Know-how. Und wir — die Menschen — müssten sich hüten, jemals wieder so etwas wie Teilung, Zuordnung, aus welchen Gründen auch immer, aufkommen zu lassen ...«

»... schon etwas von Solidarität gehört?« Ein Zwischenruf.

Maren ging darauf ein. »Das habe ich, mein Freund Kars! Und darauf komme ich noch zu sprechen. Was ich bisher an Bedenklichem, an Problembehaftetem vorgebracht habe, ist — vielleicht da und dort unter Schmerzen — lösbar. Niemand«, die Rednerin blickte herausfordernd in die Runde, »wird mir den Vorwurf machen wollen, ich sei krämerisch, egoistisch. Wir haben das Sonnensystem kaum erschlossen, die Ozeane liegen so gut wie brach, bieten unermessliche Reserven. Wir praktizieren noch längst nicht sparsamste Energie- und Materialkreisläufe. Es ließen sich gut und gern noch einige Milliarden Primaten auf dieser Erde oder in ihrem Umfeld ansiedeln ...«

»Na also!«

»Das ist es also nicht. Es ließe sich auf diesem Gebiet das Miteinander-Auskommen vernünftig regeln, wenngleich unsere eigene Geschichte dem gründlich widerspricht.«

An dieser Stelle des Vortrags erinnerte die Sprecherin an Machtkämpfe der Menschen um Besitz an Territorien, Ressourcen und Profit, an Kriege, die erbarmungslos den Schwächeren vernichteten, unterjochten ...

»Wir sehen die Gefahr in der Unterwanderung des Menschengeschlechts! Und wenn ich Unterwanderung sage, meine ich sie umfassend und aus mehreren Sichten: Erstens, eine intellektuelle Unterwanderung, eine Aggression des Geistes!

Die Expedition LUX hat ein Depot im Weltall aufgefunden, das nicht nur Dokumente der Exterraner enthielt, sondern deren Erbsubstanz in jener verhängnisvollen Phiole — ja, ich sage verhängnisvoll —, die der Kosmonaut Dirk zweihundertzwölf Sonen entfernt und mitgebracht hatte, die seine Gefährtin, Wally dreihundertsiebenundzwanzig Esch, am Ort der Raumschiffkatastrophe auf der Venus unrechtmäßigerweise an sich genommen und schließlich verantwortungslos — sieht man es nüchtern, bleibt dieser Fakt — daraus zwei Exterraner entstehen ließ. Zwei durchaus willkommene Gäste. Mehr sollten sie jedoch nicht sein ...

Sie sind uns sehr ähnlich. Sie sind - wie wir es bislang wissen - liebenswürdig. Und gäben wir, wie vorgeschlagen, die Substanz frei, Tausende, Millionen Frauen fänden sich, der Wally Esch nachzueifern. Das hieße aber, die neue Art entstünde nicht allmählich, sondern spontan, explosionsartig in uns, in der Menschheit. Sind wir darauf vorbereitet?

Ich gehe davon aus, dass die Vorfahren unserer beiden Gäste vor sehr langer Zeit dieses Depot eingerichtet haben und dass es womöglich nicht das einzige seiner Art ist. Das heißt, diese Wesen beherrschten lange vor Menschen den interstellaren Langzeitflug. Es fällt leicht, daraus zu schlussfolgern, sie stehen auf der Evolutionsleiter weit über uns - und es lässt sich ableiten, sie vermögen eines Tages die Menschen zu beherrschen. Wenn ich also von Aggression oder Unterwanderung spreche, Freunde, unterstelle ich natürlich nicht, das sei von den Anderen a priori beabsichtigt. Neben einer selbstverständlich auch möglichen vorsätzlichen Verdrängung sehe ich zuvorderst jene, die auf der angedachten geistigen Überlegenheit der Fremden beruht, auch wenn sie bei den beiden uns bekannten nicht gravierend ins Auge fällt. Sie werden einfach auf allen Gebieten tüchtiger sein, erfolgreicher, werden eine Position nach der anderen nehmen und schließlich über unser Sonnensystem bestimmen, gewollt oder nicht. Die Spezies homo sapiens hörte auf zu existieren ... Ihr wisst, wir haben lange und intensiv Ähnliches diskutiert — im Augenblick ist es ausgestritten — als es darum ging, über Genmanipulation und Klonierung die schönere, gesündere, gescheitere Menschheit zu entwickeln. Und noch ist der Gedanke nicht tot! Wenn wir uns auch geeinigt und beschlossen haben, dies aus schwerwiegenden Gründen nicht zuzulassen; denn wer schon hat das Recht zu bestimmen, was schön, gesund und gescheit ist, weiß ich, wissen wir um die Faszination, die von diesem Gedanken ausgeht. Und gewiss schlummern Konzeptionen und Technologien in Schubladen, die von heute auf morgen die Entwicklung des neuen Wesens Mensch in Gang zu setzen vermögen. Hier sehen wir Parallelen, die aber — in Sicht auf den heutigen Gegenstand unserer Debatte — längst nicht so gewichtig und gefährlich sind, da sie ohne solidarische und kaum nennenswerte moralische Zwänge waren.

Gestattet mir, an dieser Stelle einige Passagen aus einem Gutachten zu verlesen, das die Ständige Kommission in Auftrag gegeben hat und im Gegensatz zu dem, was wir vor wenigen Minuten hörten, unmittelbar zur Sache gehört, verständlich und auch etwas weiter vom Mittagessen entfernt ist ...«

Im Saal klang einen Augenblick gedämpftes Lachen auf.

Maren Call wählte Stellen des Gutachtens — übrigens von Professor Folke 333 Pierbecquet erstellt, dem wohl kreativsten einschlägigen Wissenschaftler der Epoche (und das wussten die Zuhörer natürlich) —, Stellen, die auf noch wesentlich massivere Argumente in den nachfolgenden Ausführungen schließen ließen.

Die Rednerin fuhr daraufhin fort: »Aus diesen Zusammenhängen gebe ich dem Rat der Internationalen Front zweitens folgendes Schwerwiegende zu bedenken: Wir sehen eine genetische Infiltration — und das Gutachten zeigt dazu prinzipielle Wege auf —, die zu einer Hegemonie der Anderen, zu einer Degeneration der Menschheit, ja, zum Untergang beider Zivilisationen führen kann.

Voraussagen lässt sich heute natürlich nicht, was wirklich geschehen könnte. Die Genmischung scheint möglich. Nach den Experimenten der Wally Esch braucht sogar natürliche Mischung nicht ausgeschlossen zu werden. Welch katastrophale Auswirkungen daraus erwachsen können, muss ich hier nicht besonders erläutern. Und wenn die genetische Barriere zerstört ist, weiß man ja, was entstehen könnte. Denkt, Freunde, an das, was die Menschen aus der armen Kreatur Wolf gemacht haben, Modekrüppel, überzüchtete, kaum überlebensfähige, bedauernswerte Kretins, sprich: Hunderassen ...«

Ein kräftiger Zwischenruf: »Und den Menschen sind sie wohl nicht nützlich?«

Im Saal kam leichter Tumult auf.

Und wiederum ging Maren — dieses Merkmal eines guten Redners hatte sie sich nie nehmen lassen — auf die Bemerkung ein, indem sie sich direkt an den Zwischenrufer wandte: »Hältst du mich für eine Ignorantin, Les Browning? Aber kannst du behaupten, dass es unmöglich sei, all die sogenannten nützlichen Eigenschaften einiger Hunderassen, angezüchtete Merkmale, auch im Wolf herauszubilden, ihn dabei aber Wolf sein zu lassen und nicht zum Beispiel zu einem asthmatischen Knautschschnauzer umzufunktionieren, dem man obendrein Schwanz und Ohren kupiert und das Fell lockwellt?«

Man lachte erneut. Das Auditorium zeigte sich voller Aufmerksamkeit. Einige riefen »Sehr richtig ...!«

Maren Call fing sich. Sie lächelte einen Augenblick. »Ich bitte um Pardon«, sagte sie. »Ich wollte keinem Hundefreund zu nahe treten, aber deutlich machen, wohin genetisches Mischmasch auch führen kann. Natürlich denke ich dabei weniger an Hängeohren und Kulleraugen als an andere, irreparable Merkmale, die, wie gesagt, bis zur Lebensunfähigkeit einer Spezies führen können. Und, verehrte Mitglieder des Rats, es muss eine Ursache geben, die die Anderen in ihre jetzige Lage gebracht hat. Die harmloseste wäre, dass sich ihre Lebensbedingungen, die — ich formuliere einmal so — biosphärischen, derart verändert haben, dass der Untergang unvermeidlich wurde. Es kann aber auch sein, dass das Zerstörerische ihrer eigenen Evolution anhaftet, dass es ihrem Wesen innewohnt, und es könnte sich somit erneut vollziehen.

Aus diesen Gründen heraus kann ich im Namen der Ständigen Kommission Ökologie und Bioschutz nur den einen Schluss ableiten: Nicht innerhalb der Menschheit, nicht in unserem Sonnensystem jene andere Art entstehen zu lassen. Und ich bin sicher, unsere beiden Gäste würden Verständnis für unsere Entscheidung haben!«

Leichte Unruhe kam auf. Aus verhaltenen Rufen hörte man das Wort »ahuman« heraus.

"Maren Call fing es auf. »Ahuman! — Ich muss dazu nicht viel sagen, stelle lediglich die Frage: Was ist humaner, unser Leben, dessen Gesetzmäßigkeiten wir einigermaßen kennen, zu erhalten, zu schützen oder es in nicht überschaubare, in jedem Falle bedrohliche Risiken zu stürzen? Die Frage, werte Ratsmitglieder, beantwortet sich von selbst.«

»Und die Alternative?«

Maren Call zögerte eine Sekunde. »Ihnen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen, eine neue Evolution zu beginnen, eine neue Heimat zu finden, aber außerhalb unseres Sonnensystems!«

Maren Call trat vom Rednerpult zurück. Es gab heftigen Beifall aus den Reihen ihrer Kommission, aber auch von anderen Mitgliedern des Rates. Selbst Angehörige der Fortschrittsbünde applaudierten, allerdings, man sah es einigen an, nicht weil Maren Call sie überzeugt hatte, sondern der Art und Weise ihres Vortrages wegen.

Über die leichte Unruhe im Saal nach dem Abgang der Call erhob sich die Stimme des Tagungsleiters: »Ich bin beauftragt, ein Memorandum des Mark zweihundertdreizehn Sonen, des jetzt sechsundzwanzigjährigen Außerirdischen zum Thema zu verlesen. Der Inhalt dieser Schrift sollte in der Entscheidungsdebatte, die wir am Montag beginnen, unbedingt berücksichtigt werden. Ich verlese:

>Hoher Rat!

Noch in diesem Jahr soll eine Expedition stattfinden, die das Ziel hat, zu Kenntnissen über Herkunft und Charakteristik meiner Zivilisation beizutragen. Sie soll vollenden, was der vor nahezu drei Jahrzehnten verunglückten Expedition LUX eins versagt blieb, soll ergründen, welche Absicht die Wesen, die meine Vorfahren sind, verfolgten, als sie eine Zellsubstanz im Kosmos deponierten, die meine Mutter, Wally Esch, aus der Hand des toten Dirk Sonen entnahm und aus der wir, meine Artgenossin Bea und ich, entstanden — so wie daraus noch Zehntausende unsresgleichen entstehen könnten. An dieser Expedition, die mehr als zwölf Jahre dauern wird, darf ich teilhaben. Ich empfinde dafür allergrößte Dankbarkeit!

Mit Bea bin ich mir einig, folgendes zu erklären: Dies ist der Planet, die Erde der Menschen. Und er ist, so wie die Menschheit es bislang aufgefasst hat, ihre Heimstatt in ihrem Sonnensystem. Allein also die Menschen haben zu entscheiden, was auf und mit diesem Planeten geschieht. Daran ändert die Anwesenheit zweier Andersgearteter nicht das Mindeste. Und wenn darüber diskutiert wird, ob unsere Spezies innerhalb der Menschheit entstehen soll — die biologischen Voraussetzungen wären gegeben —, dann ist auf nichts als die Wünsche der Erdbevölkerung Rücksicht zu nehmen. Niemand kann diese Verantwortung denen abnehmen, die sie für die Gesamtheit tragen, ich, Mark Sonen, und Bea Kuryn am wenigsten. Dieses erkläre ich in unserer beider Namen ohne jeden Vorbehalt.< Datum, Unterschrift.

Die Tagung ist geschlossen.«

2. Kapitel

Mohammed 552 Cheb saß an einem Ecktisch im Restaurant des Hotels »Slovan«, in dem zu dieser Stunde nur ein mäßiger Publikumsverkehr herrschte.

Mohammed trank herben slowakischen Rotwein. Aber weder dessen Geschmack noch die Atmosphäre des Raumes nahm er bewusst wahr. Er fühlte sich unentschlossen, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Seit dem Gespräch mit Crini vor Stunden befand er sich in diesem Zustand. Er hatte die Beziehung zur Arbeit nicht mehr herstellen können, war durch den Kern der Stadt geschlendert, ohne Ziel, und schließlich im Restaurant gelandet. Dabei kreisten seine Gedanken immer nur um das eine: Abreisen oder nicht! Der Entschluss lag bei ihm. Crini hatte sich gehütet, ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Informiert hatte sie ihn, mehr nicht. Aber knüpften sich daran denn nicht bestimmte Erwartungen? Warum hatte Bea nicht selbst angerufen? Trägt sie die Situation wirklich so gefasst, wie Crini das sieht? Mohammed konnte sich das nicht vorstellen bei dieser durch die Schwangerschaft noch gesteigerten Empfindsamkeit. Täuscht Bea durch ihre zur Schau gestellte Ausgeglichenheit? Und was bedeutet, sie stünde unter hervorragender ärztlicher Obhut, warum eigentlich?

Ich muss zu ihr!

Sogleich wurde Mohammed gegenwärtig, wozu er sich verpflichtet hatte: Zu den Kosicer Jubiläums-Musikfesttagen sollte der Dom als Konzertstätte vollständig restauriert übergeben werden, in zwei Wochen! »Die Haare schneidende« aus dem Zyklus der Heiligen Elisabeth, Mohammeds persönliche Arbeit - ein Tafelgemälde aus den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts —, würde bis dahin fertig sein, und es machte dem Maler viel Freude ... Es hätte sich zeitlich gut gefügt. Er wäre nach Vollendung des Werks den gesamten neunten und zehnten Monat Beas Schwangerschaft bei ihr gewesen — wobei unsicher blieb, ob es einen zehnten Monat überhaupt geben würde ... Noch war der Fall ohne Vorbild und Beispiel.

Mohammed wusste Bea gut betreut, ärztlich und auch im Kreis wohlmeinender Menschen. Gewiss konnte er sein, dass sie einen Entschluss, die Arbeit hier liegen zu lassen, niemals billigen würde. Dennoch, er brauchte dazu Konzentration, die nötige Ruhe und Freude. Woher sollten diese kommen, wenn die Gedanken ständig auf Gunungapi, bei Bea weilten!

Er trank noch einen Schluck, legte einen Leistungsbon auf den Tisch, der beträchtlich die Quote für den Wein überschritt, nahm auf einmal die ausgelassene Unterhaltung einer abseits sitzenden Gruppe Reisender wahr und erhob sich.

Mohammed überquerte die Straße vorschriftswidrig, befand sich unmittelbar am Dom, trat ein, verhielt, bis die Augen akkommodierten, genoss einen Augenblick die wohltuende Kühle und schritt dann dem Altar zu. Er erstieg das Gerüst und stand vor seiner Arbeit, dem Tafelbild, die Heilige Elisabeth beim Haareschneiden darstellend, das zu drei Vierteln, nachlässig abgedeckt, in meisterlicher Pracht prangte.

Auf dem Nachbarpodest malte versonnen, leise eine Melodie pfeifend, Ludko, ein junger, begabter, einheimischer Maler. Mohammed und er waren sich in den Wochen gemeinsamer Arbeit nahegekommen.

Mohammed beobachtete Ludko, und als dieser von der Arbeit zurücktrat, wohlgefällig das soeben Ausgeführte betrachtend, rief Mohammed: »Ludko — eine Minute bitte.« Und als der Angesprochene, ein wenig abwesend noch, aufsah: »Kannst du einen Augenblick kommen?«

Ludko wischte Farbe von der Hand, nickte, warf noch einen Blick auf sein Werk, stipste den Pinsel in ein Glas und trat näher. Er blieb vor Mohammeds Bild stehen, betrachtete es aufmerksam und sagte: »Bist schon weit — ist prima!«

»Nicht weit genug«, entgegnete Mohammed vielsagend mit einem Seitenblick auf den Kollegen, und er wies auf den noch unvollendeten Teil.

Ludko runzelte die Stirn. »Wieso?«, fragte er. »Es ist noch viel Zeit.«

Mohammed schüttelte den Kopf. »Wie weit bist du mit deinem >Prügelknaben<?«

»Na, drei, vier Tage noch — vielleicht ... Aber was ist, was druckst du herum? Es stimmt doch was nicht, irgendwie? Wenn du was willst, heraus damit, hm?«

»Bea bekommt ein Kind.«

Eine Weile sagte Ludko nichts. In seinem Gesicht arbeitete es. »Hast bisher zwar nicht gesprochen davon, aber wo ist Problem?« Er hob die Schultern, zog dann die Stirn in Falten. »Du hast gesagt, bekommt ein Kind?«

»Hm!« Mohammed lächelte, er ahnte, was kommen würde.

»Warum tut ihr euch an so was? Konntet ihr es nicht machen wie die meisten gescheiten Leute? Meine Schwester, was die Hanka ist, lässt bereits zweites wachsen - in Inkubator. Allererstes hat sie selbst ausgetragen, sie sagt, nie ...«

»Ludko, das ist eine lange Geschichte. Deshalb habe ich auch nicht darüber gesprochen, entschuldige. Es sind — vermutlich — Komplikationen eingetreten. Du würdest das«, Mohammed wies mit dem Kopf auf die Haar schneidende Elisabeth, »vollenden können? Hättest die Zeit?« Mohammed hatte leise gesprochen, er sah bittend auf den Kollegen.

Ludko stieß einen Laut der Überraschung aus. »Du würdest sie mir geben — anvertrauen?«

Mohammed legte Ludko eine Hand auf die Schulter. »Du würdest mir einen riesengroßen Gefallen tun!«, betonte er nachdrücklich. »Ich muss nach Hause, verstehst du? Ich fühle, irgendetwas stimmt nicht. Würdest du es schaffen bis zum Termin?«

Aus Ludkos Gesicht war die Überraschung noch nicht gewichen. Er nahm die Abdeckung gänzlich ab und betrachtete das Bild erneut, eingehender diesmal, neigte sich über den noch nicht bearbeiteten Teil, richtete die Lampe scharf darauf. »Wenn ich mich dazuhalte, in Hände spucke ...«

»Und — würdest du?«

»Was für Frage!«

»Danke, Ludko!« Mohammed fasste Ludko an den Schultern und zog ihn leicht an sich. Dann drehte er sich spontan herum, sprang wie übermütig vom Podest und lief dem Ausgang zu.

»He — wo willst so schnell hin?«, rief Ludko.

Mohammed wandte sich halb um, ohne seinen Lauf wesentlich zu verzögern. Er lachte. »Na, zum Flugplatz — wohin sonst!«

 

In Kalkutta verzögerte sich Mohammeds Weiterflug. Zunächst sollten es fünfundzwanzig Minuten sein, dann verkündete man eine Stunde.

Der junge Mann war wütend. Unschlüssig und nervös drehte er sein Bierglas in der Hand.

Mohammed gegenüber am Tisch des Transitrestaurants saß ein alter Mann mit einem Turban auf dem Kopf. Der hatte nur kurz von seinem Journal aufgesehen, als die Verzögerung angesagt wurde. Es war Mohammed, als streiche ein flüchtiges, verstehendes Lächeln über das Gesicht des Mannes, als dessen Blick, bevor er sich wieder der Lektüre zuwandte, kurz den Ungeduldigen gestreift hatte.

Aber Mohammed dachte weiter. Die Anschlussmaschine würde in Ambon nicht zu erreichen sein. Und was jener unter dem violetten Turban sicher nicht wusste, Gunungapi wurde nur einmal in der Woche angeflogen.

Nach zwei, drei Minuten stand Mohammed daher auf, ging zum Anzeigetableau, stellte dort fest, dass in absehbarer Zeit auf ein anderes Flugzeug oder eine andere Route nicht auszuweichen sein würde. Dennoch begab er sich zur Information, und er lächelte matt zurück, als ihm eine dunkelhäutige Schönheit strahlend verkündete, an diesem Tag flöge außer der verzögerten keine andere Maschine in seine Richtung, auch nicht auf Umwegen. Wann genau es weitergehen würde, wüsste sie nicht. Ein kleiner Defekt. Aber es säße sich doch bequem auf der Gartenterrasse, und dort würden die Passagiere natürlich ebenfalls aufgerufen werden ...

Noch immer ärgerlich, aber bereits mit einem Schuss Resignation, begab Mohammed sich zurück ins Restaurant. Der Alte an seinem Tisch nickte ihm freundlich zu. Mohammed zog eine Grimasse und ging auf die breite, mit ausladenden Grünpflanzen drapierte Treppe zu, die, wie ein Schild verhieß, zur wohltemperierten Gartenterrasse führte.

Bislang hatte sich die Reise, zu der er sich so plötzlich entschlossen hatte, gut angelassen. Ein Platz im Flugzeug fand sich in letzter Minute noch immer. Jetzt aber schien es gründlich danebenzugehen.

Viele Menschen befanden sich nicht auf dieser Terrasse. Recht hatte die Schöne: Mohammed empfand zunächst die Kühle als wohltuend. Er versorgte sich mit einem frischen Bier, das sich als temperierter erwies, als jenes im unteren Restaurant, und er nahm Platz in einem bequemen Sessel unter ausladenden mächtigen Palmwedeln, die im künstlichen Lufthauch zeitlupenhaft schwangen.

Je schneller man das Unabänderliche erfasst, begreift, desto eher findet man auch das Gleichgewicht wieder. Aber noch half Mohammed diese Binsenweisheit nicht, noch ärgerte er sich über die zwei verlorenen Tage, die ihm dieser Defekt einbringen würde. Vielleicht finde ich in Ambon ein schnelles Schiff?

Mohammed hatte sich zu Hause nicht angemeldet, er würde überraschend kommen, wollte sich an den Gesichtern ergötzen, an Beas strahlenden Augen erfreuen, die stets so viel auszudrücken vermochten ...

Diese Augen! Noch immer hatte er sich an ihnen nicht sattsehen können. Und jetzt, da er nahezu zwölf Wochen nicht bei Bea war, schien ihm, als konzentriere sich all sein Sehnen auf diese Augen ...

Mohammed legte den Kopf auf die weiche Sessellehne. Ja, mit diesen Augen hatte alles angefangen, diesen sanften Tigeraugen der Außerirdischen. Schon auf den Fotografien, die seinerzeit um die Welt gegangen waren, in den Filmberichten über die so plötzlich in die Menschheit getretenen Angehörigen einer anderen Zivilisation, hatten diese Augen den Künstler in Mohammed fasziniert. Der Maler erahnte darin damals schon das Widersprüchliche, das Sanfte, Gütige, Verstehende und die Energie, den Durchsetzungswillen. Sein Wunsch, das darzustellen, mit seinen Mitteln auszudrücken, hatte sich — von Mohammed nur ungenügend, gegenüber seiner Umwelt, auch Maren, verborgen — beinahe ins Pathologische gesteigert. Zahlreiche Ansätze, die Außerirdische aus der Ferne zu malen, waren misslungen.

Mohammed lächelte im Erinnern. Wie ich diese schlechten Skizzen vor Maren verbarg, aus Furcht auch vor ihrem Spott: Dass ich wie viele andere der Faszination des Fremden verfallen sei und ob ich mich nicht einem jener spontan gegründeten Fanklubs anschließen wolle.

Maren! Der Gedanke an sie schmerzte noch immer. Eine schöne, vielleicht sogar glückliche Zeit war es mit ihr, eine Erinnerung, die er nicht missen wollte. Die auf ein Ziel, auf Erfolg fixierte, pragmatisch veranlagte Maren, die so ausgelassen, zärtlich und leidenschaftlich sein konnte, hatte ihn reifer gemacht, sehender. Und er würde ihr stets dankbar bleiben. Wir wollen Freunde bleiben, haben wir uns gesagt. Sind wir es noch? Nicht ein einziges Mal haben wir uns getroffen in fast drei Jahren, uns gesprochen oder wenigstens geschrieben ... Auf Maren konnte man bauen, ihr Sinn hat sich gewiss nicht gewandelt. Was auch sollte sie veranlassen, die Verbindung zu mir zu suchen ...

Mohammed seufzte. Er mühte sich, seinen Gedanken eine Wende zu geben, und er glaubte, es gelänge ihm am besten, wenn er sich Beas Bild in den Kopf holte, Beas Gesicht, das von diesen Augen beherrscht wurde, die so wunderbar irisierten, wenn sie erregt ist, wenn ihr etwas besonders gefällt, eben - wenn sie intensiv fühlt ...

Und der Maler spürte erneut ein wenig von der Enttäuschung. Nie war ihm gelungen, gerade dieses auf die Leinwand zu übertragen.

Von dem Augenblick an, als sie auf ihrem kleinen Pferdchen aus der Schule geritten kam und von den beiden »Wegelagerern«, Maren und Mohammed, gestellt worden war, von der Sekunde an, da sie ihm, Mohammed, den ersten aufmerksamen, damals spöttischen Blick zugeworfen hatte, hatte er gewusst, von diesem Wesen würde er nicht loskommen. Wie jener japanische Künstler, der zeit seines Lebens den heiligen Fudschijama malte, würde er den Drang nicht loswerden, allen seinen Gesichtern, die er je gestaltete, die Züge der Außerirdischen zu verleihen ...

Es schien, als stellte die Südostabteilung des Flughafens von Kalkutta an diesem Tag den Flugbetrieb völlig ein. Es tauchten weder weitere Flugpassagiere auf, noch ließ sich von draußen der sonst solchen Stätten anhaftende aufdringliche, ja penetrante Lärm vernehmen.

Unruhe ob des unbekannten, aber wohl bedenklichen Geschehens um Bea auf Gunungapi, die Wiedersehensvorfreude, vor allem aber wohl die angestaute Sehnsucht beschworen in Mohammed Erinnerungen herauf, denen er sich, da sie für ihn ausnahmslos schön und angenehm waren, widerstandslos hingab. Mohammed kuschelte sich tiefer in den Sessel, und er schloss sogar die Augen.

In den ersten Tagen auf Gunungapi gab es in ihm in der Tat nichts anderes als den Drang, das exotische Mädchen zu malen, zu versuchen, das Faszinierende, das für ihn von ihr ausging, festzuhalten, zu gestalten.

Maren muss es vom ersten Augenblick dieses Treffens an gespürt haben. Schien sie nicht bereits auf dem Heimweg — nach dieser kurzen Begegnung mit Bea — verstimmt? Zumindest gab sie sich wortkarg. Sie schnitt das Thema, die Außerirdische zu malen — von Bea damals erstaunlich schnell akzeptiert —, nicht mehr an.

Ein wenig schäbig habe ich mich schon betragen. Nicht ganz ehrlich war ich in der Folgezeit, manchmal ungerechtfertigt schroff sogar. Das hatte Maren nicht verdient ...

Mohammed richtete sich ein wenig auf. Ihm war, als wäre ihm diese Erkenntnis mit ihrer ganzen Tragweite zum ersten Mal gekommen. Er spürte einen schmerzlichen Drang, wiedergutzumachen, wobei ihm sofort klar wurde, wie absurd ein solcher Versuch wohl wäre.

Aber, es geschah ein Wunder! Ja, so musste man das sehen, ein Wunder! Mohammed hatte es damals so empfunden und empfand heute, da er sich dessen erinnerte, nicht anders. Es stand deutlich in seinem Gedächtnis, wie er verlegen, mit schlechtem Gewissen, weil von Maren sicher zu oberflächlich verabschiedet, die Terrasse des Anwesens der Kuryns betrat, Bea ihn mit »Hallo, Maler!« begrüßte und ihm einige Schritte entgegeneilte, sichtbar erfreut, was ihn noch verlegener machte.

Er stieß mit der Staffelei an einen Stuhl, und indem er verhindern wollte, dass dieser umstürzte, ließ er die gespannte Leinwand fallen. Der Dreibock spreizte sich, und in der Absicht, all das zu verhindern, wäre er selber beinahe gestrauchelt.

Natürlich rief dieses Ungeschick Beas Heiterkeit hervor. Aber im Gegensatz zu ihrem stets gegenwärtigen Spott lachte sie belustigt und keineswegs schadenfroh.

»Für mich?«, fragte sie dann und deutete auf den nunmehr ramponierten Feldblumenstrauß, den Mohammed, einer plötzlichen Eingebung folgend, erst wenige Dutzend Meter vor dem Haus gepflückt und während seiner Entreekapriolen krampfhaft umklammert gehalten hatte.

»Ja, bitte«, beeilte er sich zu versichern, und er versuchte mit der Rechten einige der Stängel zu ordnen, wobei er den aufgehobenen Rahmen zwischen die Beine klemmte und abermals keine sehr glückliche Figur abgab. Dann hatte er das deutliche Gefühl, dass er sich unmöglich aufführe und zusammenreißen müsse. Womöglich machte sich das Mädchen doch nur lustig über ihn, ein Teenager, ein Backfisch ... Was für Begriffe! Und schließlich hatte er, Mohammed, vor Kurzem seine Qualifikation bestanden, und er war — wie hieß es in jener Zeit, in die diese Begriffe passten? — eine Art Bräutigam, ein Verlobter ...!

Ja, selbst in diesem Augenblick, im Sessel der Kalkuttaer Flugplatzterrasse, erinnerte sich Mohammed seiner damaligen Gedanken genau, und er lächelte darüber ...

»Ich werde immer noch nicht damit fertig, dass du mich malen willst«, Bea schüttelte den Kopf. In ihrem Gesicht aber stand so etwas wie Erwartung, vielleicht wie bei einem Kind vor dem Friedensfest.

Mohammed lächelte sie an. Er hatte sich gefangen, richtete die Staffelei auf, sah sich um, reckte den Arm und sagte: »Dort, dort hätte ich Hintergrund.«

Bea gehorchte, stellte sich in eine unmögliche Pose und fragte: »So?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf, ging auf sie zu, nahm ihre Hand herab, und er führte ihren Arm auf die Terrassenumfriedung. Einen Augenblick war es Mohammed, als dürfe er diese Hand nicht mehr loslassen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob dies die samtene Weichheit oder das Anrührende des ersten Körperkontakts mit einem überirdischen — ja, er dachte in dieser Sekunde »überirdisch« — Wesen bewirkten. Ihm war, als hielte er die Hand unangemessen lang, und wieder wollte ihn Verlegenheit befallen.

Dann stellte er Bea geschäftig so, wie er meinte, zu einem seiner Vorstellung entsprechenden Bild zu kommen.

Wieder lächelte Mohammed im Erinnern. Es ist wahrscheinlich das schlechteste Bild, das ich je gemalt habe! Und Bea hatte hinterher aus ihrer Meinung darüber kein Hehl gemacht. Aber nie würde er sich davon trennen, nie es gar wegwerfen. Er empfand es gleichsam als Ausgangspunkt seines Glücks.

Zwei Dinge hatten sich Mohammed von dieser ersten Sitzung besonders eingeprägt: Er galt noch von der Universität her als fleißiger, schnell auffassender Maler, der rasch skizzierte, mit sicherem Strich eine ausgewogene Komposition zuwege brachte und mit eiliger Fingerfertigkeit Details einfügte. Oft schuf er so gut aufgenommene Arbeiten in weniger als der Hälfte der Zeit anderer. An diesem Tag aber überraschte er sich des Öfteren, wie er ins Träumen verfiel, im Drang, sich an dem Mädchen sattsehen zu wollen, gleichzeitig aber in dem Bewusstsein, dass dieses vergebliches Unterfangen sein würde. Er hatte noch nie ein Modell wie Bea erlebt: Er hätte schwören wollen, dass sie, ohne im geringsten zu ermüden, stundenlang in der Pose ausgeharrt hätte. Ihr Gesicht hatte einen abgeklärten Ausdruck angenommen, so als sei sie nicht anwesend, und über ihren Blick — was ihm im ersten Augenblick gar nicht so recht gefiel — hatte sich gleichsam ein leichter Schleier gesenkt.

Später hatte Bea einmal erklärt, sie sei fähig, sich augenblicklich in eine Art Halbschlaf zu versetzen, in eine Starre, die an leichten Schlummer erinnere. Mark erginge es ebenso — eine Wesenseigenheit wohl. In manchen Situationen sei solches ganz praktisch ...

Mohammed erinnerte sich, wie er in diesen Tagen übersensibel seine Umgebung beachtete, auf sie reagierte, wie er — und das wurde ihm erst sehr viel später bewusst — stets in Abwehr ging, wenn jemand, wie er glaubte, seiner Beziehung zu Bea zu nahe trat, wenn man, und war es noch so scherzhaft gemeint, ihr mehr unterstellte, als er selbst zuzugeben bereit war. Je mehr er sich so unangemessen verhielt, desto weniger zeigte sich die Umwelt natürlich geneigt, nur harmlose Malerinteressen hinter seinen gesuchten Begegnungen mit Bea zu sehen.

Und zu seiner unmittelbarsten Umgebung gehörte in diesen Tagen Maren ...

Stets beschlich Mohammed Unbehagen, wenn der Zeitpunkt der Verabredung mit Bea näherrückte. Er wurde nervös, und es wollten ihm die Worte nicht über die Lippen. Und wenn er Maren dann gezwungenermaßen mitteilte, was mitgeteilt werden musste, hatte er den Eindruck, als würde sie bereits aus der Klangfarbe des Gesagten, aus seiner Unfähigkeit, ihr beim Sprechen ins Gesicht zu blicken, ihn der Lüge zeihen können. Dabei hegte er für sich beharrlich die Überzeugung, keine andere Absicht, als sie zu malen, triebe ihn zu Bea. Er gestand sich ein, gern in ihrer Nähe zu sein, sie anschauen zu können, anstarren — mit der pauschalen, ihn gleichsam entschuldigenden Begründung, er müsse es als Maler ...

Dann empfand er Maren gegenüber Dank, als sie begann, die Insel allein zu erkunden, ihren Urlaub künftig ohne ihn zu gestalten. Auf die Idee, dieses bereits als eine Art Resignation, resultierend aus einer sich selbst aufgebenden Zuneigung, zu werten, kam Mohammed nicht.

Er spürte nicht, dass sie sich in diesen Tagen benahmen wie Bekannte, wie Leute, die zufällig die gleiche Situation durchleben, ohne sich nahezustehen. Er ging auf in seiner Arbeit oder glaubte, in ihr aufzugehen. Nachträglich sah er freilich aus vielen seinen Handlungen den blanken Egoismus lugen. Aber außer einer gewissen Selbstkasteiung blieben derartige Empfindungen wertlos, verpufften.

Und da gab es jenes Tabu.

Jedenfalls bestand eine Barriere für Mohammed von Anbeginn: Das war die Außerirdische, eines von zwei Wesen, das eine andere Zivilisation repräsentierte. Und selbst wenn man solchen Wesen menschliches Empfinden unterstellte, zwischen ihm und jedem Menschen blieb dieses unüberwindliche Tabu. Es war wie weiland das Verhältnis zwischen dem Schweinehirten und der Prinzessin. (Und doch soll es im Ausnahmefall eine Brücke über diese Kluft gegeben haben, im Märchen ... Selten dürfte wohl auch in praxi eine solche Liaison funktioniert haben.)

So hatte Mohammed damals, als er sich fast täglich bei den Kuryns einlud, noch nicht empfunden. Die Barriere war einfach da, unbewusst allgegenwärtig. Und niemals hätte Mohammed sich eingestanden, dass hinter seinem Blick, mit dem er die Faszination dieser Frau genoss, etwas anderes gestanden hätte als das Interesse des Malers — geschweige denn sinnliches Begehren gar!

Kamen dem wahrhaft Gläubigen beim Anblick eines wohlgestalteten Engels etwa solche Gedanken?

Diese Zusammenhänge durchgeisterten damals Mohammeds Hirn nicht. Da stand die Mauer — und basta! Erst später, als sie eingerissen war, da gab es schon mal die Überlegung, ob er nicht ein Trottel gewesen sei oder als solcher erscheinen musste all die langen Tage auf der Terrasse, ob sie sich hätten jene glücklichen Stunden nicht viel eher gönnen können, wenn sich in seinem Inneren nicht jenes Gebirge getürmt, das zu übersteigen er niemals für möglich gehalten hätte.

Vielleicht hatte all dies Unausgegorene, Unaussprechliche, nicht Gedachte, jenes Unerhörte, Erhabene auch, diese Gereiztheit in ihm hervorgerufen, die ihn so unausgeglichen und ungerecht gegenüber seiner Umgebung, gegenüber Maren vor allem, werden ließ.

Dann kam jener verteufelte, glückliche Nachmittag.

Mohammed setzte seine unfertigen Produkte nicht gern vorzeitiger Kritik aus. Er glaubte, die Schöpfung insgesamt litte, hörte man bereits während ihres Entstehens auf jene, die dies und das zu bedenken gaben, das eine oder andere ganz anders anpacken würden, die einen konfus machten. Aus solchen Sichten heraus zeigte Mohammed sehr ungern unfertige Bilder. Auf Diskussionen darüber ließ er sich schon gar nicht ein. So auch jetzt. Er gewährte Bea kaum einen Blick auf das noch in Arbeit befindliche Bild, und vor Maren hielt er es gänzlich verborgen. Maren kannte diese seine Marotte und ließ ihn gewähren. Glücklicherweise fand Bea sie alsbald heraus und respektierte sie ebenfalls.

An jenem Nachmittag wurde nach etwa anderthalb Stunden das Bild, an dem Mohammed gerade arbeitete, fertig. Es war das zweite, das er von Bea gemalt hatte, und es unterschied sich von dem ersten nur dadurch, dass er die Außerirdische vor einem erdachten Hintergrund — ein stilisierter Kosmos —, mit dem Blick auf die Bucht, abgebildet hatte.

Mohammed vollzog den letzten Pinselstrich und sagte, indem er aufatmend zurücktrat und mit schief gehaltenem Kopf sein Werk betrachtete: »So, besser wird es nicht.«

Es dauerte eine Weile, bevor Bea in die Wirklichkeit fand. Ein wenig benommen noch kam sie näher, stand dann hinter Mohammed und sagte nichts.

Ihr Schweigen wurde ihm peinlich, und er fragte, ohne sich nach ihr umzusehen: »Nun?«

»Nun«, wiederholte sie nach einer kleinen Pause, und nur ganz im entfernten konnte er — sensibilisiert — den Spott heraushören. »Ich sehe mir sicher ähnlich, sehr sogar ...« Und wie zu sich selbst fügte sie hinzu: »Mir war, als wolltest du mich malen, wie du mich siehst. Ich finde mich nun doch, na ja, ein wenig wie fotografiert.«

Mohammed drehte sich nach ihr um, zog eine Grimasse. Dann zuckte er mit den Schultern und beschloss für sich, es von der heiteren Seite zu nehmen. »Es symbolisiert eure Überlegenheit. Du blickst auf die Erde, auf uns herab, aber nicht besser wissend, nicht etwa überheblich, sondern in Sorge. Darin soll sich die Zweiseitigkeit unserer Beziehung ausdrücken. Aber wenn man das nicht auf Anhieb sieht ...«

»Hm«, brummelte Bea. Und sie trat näher, den Blick aufmerksam auf Mohammeds Werk gerichtet, stand kurze Zeit mit schief gehaltenem Kopf: »Jetzt, wo du es erläuterst ...«

Mohammed lächelte, konnte nicht verhindern, dass dieses Lächeln etwas gezwungen wirkte. Dann dozierte er: »Es gab und gibt Maler, die kümmert es nicht, ob die Betrachter ihrer Bilder ihr Anliegen erkennen oder nicht. Ich bin der Ansicht, wenn sich ein Bild dem Betrachter nicht offenbart, ihm nicht die Absicht des Künstlers vermittelt, ist es umsonst gemalt. Dabei müsste nicht jeder Betrachter das gleiche herauslesen. Stelle dir vor, jeder Schriftsteller gäbe zu seinem Buch eine Schrift heraus, eine Gebrauchsanleitung sozusagen, die dem Leser erläutert, wie er das Buch lesen, das Anliegen auffassen soll. Absurd, nicht?«

»Deine Bilder benötigen das nicht«, sagte Bea, und sie ging einige Schritte hin und her, um den Blickwinkel zu verändern. »Nur, deine besondere Sicht bleibt mir dennoch verborgen. Vielleicht bin ich zu ungeübt.«

Mohammed hob die Schultern. »Beim nächsten ...«

»Oh«, sagte Bea, und sie tat gespielt überrascht. »Wolltest du nicht Urlaub machen auf Gunungapi?«

Mohammed stand auf, trat an die Terrassenumfriedung, blickte hinunter zur Bucht. »Das ist für mich der schönste Urlaub«, sagte er leise.

Bea war neben ihn getreten. Sie lehnte sich so weit über die Mauer, dass sie unmittelbar bis zu deren Fuß hinunterblicken konnte, als sähe sie dort etwas Außerordentliches. »Und deine Begleiterin, Maren ...?« Sie fragte es obenhin, den Grund unten nicht aus den Augen lassend.

Mohammed schaute die Außerirdische von der Seite her an, aber sie tat, als bemerke sie es nicht. Noch immer war ihr Blick nach unten gerichtet. »Maren hat — Verständnis für mich«, antwortete er in Intervallen.''»Sie kommt ganz gut allein zurecht. Heute zum Beispiel ist sie oben am Krater, mit der Tochter von Lorenzo, dem Hotelier, übrigens. Ein sympathisches Mädchen ...«

»Oh, ja, sehr sympathisch. Sie geht in meine Klasse ...«

»Ich weiß.«

Sie schwiegen.