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Gerhard Branstner

Vom Himmel hoch

Utopische Lügengeschichten

 

Das sind unglaubliche Geschichten von der Art, wie man sie sich donnerstagabends im „Wirtshaus Zum Müden Gaul“ unter Weltraumveteranen erzählt

 

ISBN 978-3-95655-731-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1974 im Verlag Das Neue Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Der erste Abend

„Also …“, begann der Himmelsgärtner.

Aber da war auch schon Schluss. Denn: „Der Anfang stimmt nicht“, sagte Stroganoff. „Wir wollten doch Geschichten erzählen, die nicht stimmen. Und Geschichten, die nicht stimmen, fängt man nicht mit ,Also‘ an.“

„Wenn wir meinerzeit mit ,Also‘ anfingen“, verteidigte sich Wirsing, der Himmelsgärtner, „stimmte immer irgendwas nicht.“

„Das stimmt“, bestätigte Kraftschyk, „wenn wir seinerzeit ,Also‘ sagten, war immer irgendwas faul. ,Also‘ war das verabredete Zeichen, und alle wussten, jetzt kommt eine faule Geschichte.“

„Na schön“, sagte Stroganoff, „das mag sein, ich habe seinerzeit nicht so darauf geachtet. Mir wäre es aber lieber, wenn Wirsing mit was anderem anfangen würde. Es muss ja nicht unbedingt ,Es war einmal …‘ sein oder ,Ihr werdet es nicht glauben …‘ Ich jedenfalls fange meine Geschichte mit was anderem an.“

„Na gut“, sagte Kraftschyk, „dann fängst du deine Geschichte mit was anderem an, jeder fängt seine Geschichte mit was anderem an. Ich fange meine mit ‚Einstmals‘ an. Aber ich bin ja noch nicht dran.“

„Einverstanden“, sagte Stroganoff. „Jeder fängt seine Geschichte anders an. Wenn ihr das nicht so wichtig nehmt, wie eine Geschichte anfängt.“

„Dann kann ich ja anfangen“, sagte der Himmelsgärtner. „Also …“

Doch da war schon wieder Schluss, denn Kraftschyk sagte: „Wir wollen doch lieber abwarten, ob Fontanelli kommt. Wenn er mitten in die Geschichte kommt, ist sie womöglich hin. Manche Geschichten vertragen das nicht, wenn einer mitten hineinkommt.“

„Wenn du denkst?“, meinte Wirsing.

„Ich denke schon“, sagte Kraftschyk. „Was denkst du, Stroganoff?“

„Ich denke auch.“

Eine einhellige Meinung war unter den drei Weltraumveteranen ein seltener Fall, und er konnte nur auf schweigende Art ein Weilchen dauern. Also schwiegen die drei ein Weilchen, stützten die Ellenbogen auf den Tisch und die Köpfe in die Hände und blickten auf die Erde hinab. Das machte keine Umstände, denn der „Bambino“ war eine um die Erde kreisende Weltraumstation. Sie hatte früher wissenschaftlichen Zwecken gedient und war, als modernere Stationen an ihre Stelle traten, in ein Altersheim für Weltraumveteranen umgewandelt worden. Der Tisch aber, an dem die drei saßen, hatte eine Platte von durchsichtigem Material, ebenso der Boden unter ihm. Und da der „Bambino“ der Mutter Erde immer die gleiche, nämlich seine Unterseite zukehrte, hatte man die alte Dame, wie sie hier oben gemeinhin genannt wurde, stets unter sich und konnte ohne Umstände einen Blick auf sie werfen, man brauchte sich nur über den Tisch zu beugen. In die seitlichen Fenster aber blickten die Sterne herein. Hin und wieder, je nach Stand der Dinge, auch die Sonne oder der Mond. Im Übrigen war der Raum nach der Art einer mittelalterlichen Fuhrmannsschenke eingerichtet, was ihm eine traute und gemütliche Atmosphäre gab. Und der ihm verliehene Name „Wirtshaus Zum Müden Gaul“ tat das Seine dazu. Auch die Wohn- und Schlafzimmer, die im äußeren Ring der Station lagen, waren ziemlich altmodisch ausgestattet. Die alten Leutchen hatten es so haben wollen. Sie lebten in ihren Erinnerungen. Sie erinnerten sich tagaus und tagein und erzählten immer die gleichen Geschichten, bis es einigen von ihnen zu dumm geworden war. Da beschlossen sie, sich fortan nur noch ausgemachte Lügengeschichten zu erzählen. Auf die Weise hofften sie, den ihr Denken immer stärker verengenden Erinnerungen ein Schnippchen zu schlagen und sich obendrein noch angenehm zu unterhalten. Die Idee aber hatte Kraftschyk gehabt.

Der ehemalige Physiker maß zwei gute Meter, hatte breite Schultern und schmale Hüften und einen tiefschwarzen Schnauzbart, der ihm etwas Ehrfurcht gebietendes verlieh. Im ganzen aber sah er aus wie ein Turnvater der alten Schule. Und wenn er hin und wieder Schwerenöter genannt wurde, dann nur, weil er sich seinerzeit besonders mit der Erforschung der Schwerkraft befasst hatte.

Auch Wirsing hatte gut seine zwei Meter, war im Gegensatz zu Kraftschyk jedoch breit in den Hüften und in seinen Bewegungen etwas unbeholfen. Und seine im Alter gelblichweiß gewordenen Haare kräuselten sich um eine Mittelglatze zu einem unordentlichen Krauskopf. Als Mikrobiologe war er seinerzeit ein auf allen Planeten gesuchter Fachmann für künstliche Nährböden gewesen, weshalb er noch heute der Himmelsgärtner hieß. Stroganoff hingegen war einstmals Raumkoch gewesen und hatte, obwohl mit seinen hundertundvier Jahren der Jüngste in der Runde, als einziger einen kahlen Schädel. Dafür war er dicker als Wirsing, wenn auch kaum größer als Fontanelli.

Dieser endlich war von beinahe zwergenhaft kleinem Wuchs, dabei ungemein dünn und mit einem fuchsroten Kinnbart versehen, weshalb er gewiss Rumpelstilzchen geheißen worden wäre, hieße er nicht schlechthin der Automatendoktor, hatte er doch zuletzt eine Klinik für übergeschnappte Roboter geleitet.

Da er aber gegenwärtig noch immer auf sich warten ließ, fragte Wirsing, indem er seinen Blick von der Tischplatte und damit von der Erde nahm: „Ist heute auch wirklich Donnerstag?“

Die vier hatten ausgemacht, sich einmal in der Woche, nämlich donnerstagabends, im „Müden Gaul“ einzufinden und bei einer guten Flasche ihre Lügengeschichten zu erzählen. Nur fehlte bis zu diesem Augenblick der vierte Mann. Eben da trat Fontanelli mit schnellen Schritten herein und rief: „Ob ihr es glaubt oder nicht, aber es ist die reine Wahrheit!“

„Siehst du“, sagte Stroganoff zu Wirsing, „genauso fangen Lügengeschichten an.“

„Aber ich wollte doch gar keine Geschichte erzählen“, entgegnete Fontanelli, „ich wollte nur mein Zuspätkommen erklären. So wahr ich hier stehe, meine Uhr …“

Doch Stroganoff winkte ab. „Nimm dir ein Beispiel an ihm“, sagte er zu Wirsing. „Wer lügt, muss ständig die Wahrheit beteuern und ein schrecklich ernstes Gesicht dabei machen.“

„Nach dieser Logik“, rief Wirsing, „müssten wir die Wahrheit wie eine Lüge auftischen und uns dabei halb tot lachen.“

„Na, es genügt, wenn man dabei ein bisschen grinst“, meinte Kraftschyk.

Indessen hatte Fontanelli am Tisch Platz genommen und zog seine Uhr hervor, die tatsächlich eine halbe Stunde nachging. Alle grinsten ein bisschen, nur Fontanelli nicht. Nachdem er die Uhr mit beinahe feierlichem Ernst herumgezeigt hatte, steckte er sie wieder fort und rief den Bedienungsautomaten heran. Der Automat, eine Art Nähkasten auf Rädern, surrte herbei und klappte seine Deckel auf, Fontanelli nahm sich eine Flasche Rotwein und ein Glas, das er bis zum Rand füllte.

„Zum Wohlsein, Herr Doktor!“, piepte der Automat.

„Bist du kaputt?“, fragte Fontanelli. „Deine Stimme ist nicht in Ordnung.“

„Es ist gar nicht meine Stimme“, erklärte der Automat, „meine Stimme ist über Nacht verrostet. Gestern Abend ging es bei uns hoch her, und ein betrunkener Gast hat einen Sektkübel umgestoßen. Es hatte mich ganz schön erwischt, ich war pitschnass. Und jetzt hat man mir die Stimme eines Kinderautomaten eingesetzt.“

„Nächstens benutzen sie Kniescheiben als Monokel“, sagte Stroganoff, der die seltsamen Vergleiche liebte. „Hier gibt es doch gar keine Kinderautomaten.“

„Eben“, erklärte der Automat, „deshalb haben wir ja auch genug Ersatzteile für Kinderautomaten auf Lager.“

„Tststs“, machte Fontanelli.

„Können Sie mir nicht helfen, Herr Doktor?“, fragte der Automat, „Sie waren doch mal ein berühmter Automatenarzt. Ich komme mir richtig albern vor mit dieser Piepsstimme.“

„Ich war Facharzt für hirnkranke Roboter“, sagte Fontanelli mit einem gewissen Stolz in der Stimme, „dein Verstand scheint aber noch ganz in Ordnung zu sein.“

„Wenn ich noch lange mit dieser Stimme herumlaufe“, piepte der Automat, „kriege ich bestimmt einen Klaps.“

„Das wäre ein interessanter Fall“, sagte Fontanelli, „einen Roboter, der an seiner Stimme verrückt geworden ist, hatte ich in meiner ganzen Praxis nicht.“

Der Bedienungsautomat klappte seine Deckel zu und surrte ohne ein weiteres Wort davon. Fontanelli blickte ihm nachdenklich hinterdrein. „Ich erinnere mich da an eine Geschichte, die mir als blutjungem Arzt passiert ist. Und ob Ihr es glaubt oder nicht.“

„Nichts da!“, rief der Himmelsgärtner. „So fangen Lügengeschichten an, und die erste Lügengeschichte erzähle ich. So hatten wir es ausgemacht.“

„Aber es ist keine Lügengeschichte“, entgegnete der Automatendoktor.

„Dann darfst du sie schon gar nicht erzählen“, meinte Kraftschyk, „heute werden nur Lügengeschichten erzählt.“

„Ich bin ja schon still“, sagte Fontanelli, denn mit dem Schwerenöter wollte er sich nicht anlegen. Der Automatendoktor hatte einen uneingestandenen Respekt vor großen Menschen. „Ich bin ja schon still“, sagte Fontanelli, „ich hatte ganz vergessen, dass wir heute Lügengeschichten erzählen wollten. Wer fängt an?“

„Ich“, sagte Wirsing. Doch da er schon einige Mal vergeblich angefangen hatte, scheute er sich diesmal davor und blickte fragend in die Runde. Doch keiner schien die Absicht zu haben, ihm ins Wort zu fallen. Kraftschyk zwirbelte erwartungsvoll seinen Schnauzer; Fontanelli verkniff ein wenig pikiert die Lippen und starrte ins Leere, als wollte er einen Automaten hypnotisieren; und Stroganoff hatte sich gemütlich zurückgelehnt und die Hände über den Leib gefaltet. Auch der Bedienungsautomat stand still in seiner Ecke und gab keinen Piep von sich. Nicht einmal eine Fliege surrte durch den Raum. Was auch nicht möglich gewesen wäre, denn das „Wirtshaus Zum Müden Gaul“ war, bei aller Treue zum Detail, natürlich ohne die seinerzeit üblichen Fliegen eingerichtet worden. Daher herrschte jetzt absolute Stille. Und als sich der Himmelsgärtner sicher war, dass sie auch noch eine Weile herrschen würde, sagte er: „Also, es ereignete sich auf einem Planeten etwa von der Größe des Merkur, und die Geschichte heißt

Die haarsträubende Rettung aus tödlicher Gefahr

und widerfuhr mir, als ich in den Eigenheiten uns fremder Vegetationen noch ziemlich unerfahren war.“

An dieser Stelle hielt Wirsing inne, doch da keiner den Mund aufmachte, fuhr er fort. „Also, ich war noch ziemlich unerfahren und begleitete Professor Salbei, seinerzeit eine Weitberühmtheit, mit noch drei weiteren Assistenten auf einer Expedition zu besagtem, dem Merkur ähnlichem Planeten. Er gehörte dem elften System an, und wir gaben ihm die Bezeichnung II/A/I, denn er besaß eine Atmosphäre und war der erste Planet des elften Systems, den wir betraten. Wir waren noch nicht weit auf dem besagten Planeten vorgedrungen, als wir uns umzingelt sahen.“

„Von Indianern?“, fragte Kraftschyk.

„Nein."

„Oder von Kannibalen?“, fragte Stroganoff.

„Von so was Ähnlichem“, erklärte Wirsing, „aber das wussten wir zunächst noch nicht. Die Gegend sah ganz harmlos aus, so eine Art Waldwiese, ein bisschen spärlich, als ob es lange nicht geregnet hätte, aber ansonsten wie jede andere Waldwiese auch. Und als wir zur Mitte der Wiese kamen, lagen da so was wie Sonnenblumen umher, ziemlich große. Und sie lagen akkurat in einem Kreis von ungefähr zehn Meter Durchmesser, als ob sie jemand absichtlich so eingepflanzt und dann zu gießen vergessen hätte. Da wir keinen Anlass hatten, einen Bogen um sie zu machen, gingen wir über sie hinweg weiter. Als wir uns aber in der Mitte des Kreises befanden, richteten sich die Dinger schnurstracks auf und bildeten einen übermannshohen Zaun um uns. Das kam uns nun doch ein wenig merkwürdig vor. Aber an eine Gefahr dachten wir noch immer nicht, eher an ein Wunder der Natur. Professor Salbei setzte seinen Zwicker auf und trat an eines der Dinger heran, um es genauer zu beäugen. In dem Augenblick schoss das Biest wie eine Natter auf ihn zu und schnappte mit dem Kelch nach seinem Kopf. Salbei fuhr im letzten Moment zurück und verfügte sich schleunigst wieder in die Mitte des Kreises. Er war leichenblass geworden, und da er seinen Zwicker verloren hatte, blinzelte er hilflos von einem zum anderen und stotterte: ,Das sind - Teufel eins - fleischfressende Pflanzen!‘

Da saßen wir ganz schön in der Patsche. Fleischfressende Pflanzen dieser Größe waren uns noch niemals begegnet, von der Schnelligkeit, mit der sie zuschnappten, ganz zu schweigen.

Mit der Zeit beruhigten wir uns aber, denn Pflanze bleibt Pflanze, und irgendwie würden wir schon auf einen Trick kommen, die gefräßigen Gewächse zu überlisten.

,Wir müssen sie', meinte unser Professor, ,erst eine Weile beobachten, um ihren Charakter genauer bestimmen zu können. Wo habe ich denn bloß meine Brille?‘

Der Zwicker lag einen Schritt von dem Biest entfernt, das nach unserem Professor geschnappt hatte. Da war nicht ranzukommen. Doch einer der Assistenten, der sich nebenbei mit dem Fangen von Schmetterlingen beschäftigte, nahm seinen Kescher und zog den Zwicker aus der Reichweite der Pflanze. Salbei klemmte ihn sich sogleich wieder auf die Nase und beäugte neuerlich, jetzt aber aus gebührender Entfernung, die schrecklichen Gewächse. Ehe er jedoch zu einem Schluss über deren genaueren Charakter gekommen war, war unser Schmetterlingsfänger auf eine Idee gekommen. Er machte sich an eine der Pflanzen heran, stülpte ihr den Kescher über den Kopf und zog sie herunter. Das Biest wehrte sich mit erstaunlicher Kraft, aber als wir zufassten, konnten wir es zu Boden kriegen. Es wand sich wie ein wild gewordener Gartenschlauch, aber es half ihm nichts, wir hatten es in der Falle. Ich zog in aller Eile einen kleinen Spaten aus meiner Ausrüstung, um dem Biest den Kopf abzuschlagen. Dabei muss ich mich wohl ein bisschen zu weit vorgewagt haben, denn plötzlich schossen die beiden nächststehenden Pflanzen auf mich zu. Ich stand wie gelähmt und spürte, wie sich mir vor Schreck die Haare sträubten. Und da geschah etwas Seltsames. Die beiden Pflanzen verloren plötzlich das Interesse an mir. Sie pendelten mir noch einige Mal vor der Nase hin und her und richteten sich dann wieder auf. Jetzt wich auch die Lähmung von mir, und ich trat einen Schritt zurück. Dabei stieß ich zu unserem Unglück an den Schmetterlingsfänger, der noch immer mit den beiden anderen Assistenten den Kopf der gefangenen Pflanze mit dem Kescher auf den Boden presste. Der Schmetterlingsfänger seinerseits stieß gegen seinen Hintermann und so fort, sodass alle ins Stolpern gerieten und den Kescher fahren ließen. Sogleich schnellte die Pflanze hoch und schleuderte den Kescher gut dreißig Meter hinter sich. Mit ihm war unsere beste Waffe verloren gegangen. Wir fluchten gewaltig und schimpften uns reihum einen Tölpel. Allein Professor Salbei stand abseits, den Finger nachdenklich an der Nase.

,Es muss eine bestimmte Bewandtnis damit haben‘, murmelte er vor sich hin, ,ich vermute, es waren die Haare.‘

Das seltsame Gebaren des Professors machte uns neugierig, und wir warteten ungeduldig, dass er den Finger von der Nase nahm und uns in seine Gedanken einweihte.

,Es gibt keine andere Erklärung‘, sagte er endlich, ,es waren die Haare. Als sich Wirsings Haare vor Schreck sträubten, hielten die Pflanzen in ihrem Angriff inne. Warum? Weil er ihnen in diesem Augenblick aufs Haar glich. Die Mittelglatze und der Kranz der gesträubten Haare entsprechen genau den äußeren Merkmalen des Kelches dieser Pflanzen. Deshalb hielten sie ihn für einen der Ihren und verschonten ihn.'

Natürlich protestierte ich heftig dagegen, von dem ekligen Gezücht für ihresgleichen gehalten zu werden, sobald ich mich im Zustande der Angst befand. Aber der Professor bestand auf seiner Meinung, und die Assistenten stimmten ihm bei. Das kam mir gleich verdächtig vor, denn gewöhnlich verhielten sie sich seinen Auffassungen gegenüber ziemlich skeptisch. Ganz im Gegensatz zu mir, weshalb sie mich schon lange auf dem Kieker hatten. Es dauerte auch nicht lange, bis sie auf die Idee kamen, ich solle noch einmal einen Versuch machen und eines der Biester herausfordern. Ich verwahrte mich dagegen, aber schließlich blieb mir nichts anderes übrig, und ich ging auf eine der Pflanzen los. Sobald sie aber auf mich zuschoss, sprang ich zurück, noch ehe sich mir die Haare gesträubt hatten. Auch bei einigen weiteren Versuchen brachte ich es nicht fertig, stehen zu bleiben und die Angst über mich kommen zu lassen. Es war einfach nichts zu machen, und die anderen schienen das auch einzusehen, jedenfalls taten sie so. Ich war mir aber nicht sicher, ob sie die Absicht, mich als Versuchskaninchen zu verwenden, wirklich aufgegeben hatten. Vielleicht hielten sie es auch nur momentan für aussichtslos, da inzwischen der Abend hereingebrochen war und die gefräßigen Geschöpfe mich in der Dämmerung trotz gesträubter Haare nicht mehr als einen der Ihren erkennen konnten. Also legten wir uns in der Mitte des von den Pflanzen gebildeten Kreises zum Schlafen nieder, nachdem wir die Wachen eingeteilt hatten. Auch wenn die Pflanzen nicht von der Stelle konnten, hätte doch einer von uns im Schlaf leicht eine kleine Wanderung machen und in ihre Reichweite geraten können. Also musste einer um den anderen aufpassen, dass keiner zu weit abkam. Die gehabten Aufregungen bescherten mir einen unruhigen Schlaf. Ich wurde von schrecklichen Träumen gepeinigt, und einer von ihnen öffnete mir die Augen. Ich blickte mich um, doch es war noch finstere Nacht. Ich wollte mich schon wieder zurücklegen, als ich zwei meiner Gefährten miteinander flüstern hörte. Ich strengte meine Augen an und konnte auch endlich trotz der Dunkelheit den wachhabenden Assistenten und den Schmetterlingsfänger erkennen, die beieinanderhockten und eifrig tuschelten. Ich spitzte die Ohren, und da war es mir, als ob sie von mir sprächen, jedenfalls hörte ich meinen Namen. Ihr könnt euch denken, dass ich die restliche Nacht kein Auge mehr zutat.“

An dieser Stelle unterbrach sich Wirsing, um einen Schluck aus seinem Glas zu nehmen. Fontanelli hob ebenfalls sein Glas an die Lippen und auch Kraftschyk tat dem Erzähler Bescheid. Da tat Stroganoff die Augen auf und rief: „Ich habe einen Durst wie der Mond im Herbst!“, kippte sein Glas hinunter, meinte: „Ich glaube, ich habe ein bisschen geschlafen. Unser Himmels gärtner wird es mir hoffentlich nicht verübeln. Wie geht es denn weiter?“ und legte sich wieder zurück, die Hände über den Leib gefaltet.

„Also“, fuhr Wirsing fort, „ich tat die restliche Nacht kein Auge mehr zu. Und noch bevor es hell wurde, machten sich die beiden an den anderen Assistenten heran, weckten ihn vorsichtig und tuschelten jetzt auch mit ihm. Und wieder war von mir die Rede. Leider konnte ich außer meinem Namen kein Wort verstehen. Ich nahm mir vor, die nächsten Stunden wie ein Heftelmacher aufzupassen, um hinter das Komplott zu kommen, das da offensichtlich gegen mich im Gange war. Vor allem musste ich den Professor, den sie noch nicht einbezogen hatten, gegen sie ausspielen. Doch als wir uns am Morgen erhoben, zogen sie ihn sogleich beiseite und redeten leise auf ihn ein. Er schüttelte eine ganze Weile den Kopf, doch als sie, wie ich jetzt hörte, etwas von den Hühnern der Witwe Bolte flüsterten, kicherte er wie irre und nickte eifrig. Auch die Assistenten kicherten jetzt, blickten mich vielsagend an und kamen langsam auf mich zu, sie schienen den Verstand verloren zu haben. Ich wich zurück. Nach einigen Schritten kam ich in die Reichweite der Pflanzen, die auch sofort nach mir schnappten.

Doch der Anblick meiner Gefährten entsetzte mich noch mehr als die kannibalischen Gewächse. Ein teuflisches Grinsen in den Gesichtern, streckten der Schmetterlingsfänger und die anderen mit unheimlicher Langsamkeit die Arme nach mir aus, um meinen Hals zu fassen. Ich wollte schreien, doch ich brachte keinen Laut über die Lippen, es war wie in einem Albtraum. Fürchterliche Bilder schreckten mich, ich sah mich gevierteilt und den Pflanzen als Köder vorgeworfen, und die Reste führten sich meine hungrigen Gefährten zu Gemüte. Doch waren das wirklich nur Schreckbilder, die mir meine Fantasie vorgaukelte? Womöglich hatten diese Burschen in der Tat vor, mich zu opfern. Ihr teuflisches Grinsen konnte doch nur Ausdruck teuflischer Absichten sein. Ich spürte, wie meine Kopfhaut zu kribbeln anfing und sich mir die Haare sträubten. In diesem Augenblick sprangen meine Gefährten wie Wölfe heulend auf mich zu, und alles Weitere war eine Sache von Sekunden. Ich warf mich herum und stürzte, der Pflanzen nicht achtend, davon. Als ich weit außerhalb des Kreises meinen Lauf stoppte, bekam ich ein homerisches Gelächter zu hören. Meine Gefährten hielten sich die Bäuche vor Lachen, selbst Professor Salbei konnte sich nicht fassen und musste den Zwicker festhalten, damit er nicht von der Nase hüpfte.

,Haben wir nicht wundervoll Theater gespielt‘, rief mir der Schmetterlingsfänger, als sich die Bande beruhigt hatte, zu. ,Es war eine haar sträubende Komödie, aber sic hat ihren Zweck erfüllt, denn auch die Pflanzen sind darauf hereingefallen!‘