Impressum

Gerhard Branstner

Der falsche Mann im Mond

Utopischer Roman

 

ISBN 978-3-95655-716-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2016 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

1. Kapitel

„Eigentlich heißt er Abaschwili."

„Bitte?"

„Abaschwili", wiederholte Mangold. „Seit er aber hier auf dem Mond arbeitet, heißt er nur noch Wili." Rockhaus nickte. „Das weiß doch jedes Kind." „Sicherlich bringen Sie es auch einmal so weit wie er", meinte Mangold. „Aber es ist kein einfacher Weg. Sie werden ihn als Liftboy beginnen."

„Liftboy?" Rockhaus sah den Personalchef entgeistert an.

Mangold legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. „Auch Wili hat als Liftboy angefangen." Rockhaus setzte sein Köfferchen ab und ließ die Schultern hängen. Um Liftboy zu werden, hätte er auch auf der Erde bleiben können.

„Sehen Sie sich ein bisschen auf dem Mond um", riet Mangold. „Gewöhnen Sie sich an die hiesigen Verhältnisse, Sie haben eine Woche Zeit. Dann beginnt die Arbeit." Der Personalchef wandte sich zur Tür. „Sobald Wili seinen Dienst beendet hat, schicke ich ihn hoch."

Mangold ging, und Jochen Rockhaus stand mutterseelenallein in einem kleinen Zimmer des siebenunddreißigsten Stockwerkes des Mondhotels „Babylon".

 

Der kleine, kugelige Simin starrte aus dem Fenster, blinzelte mit den Augen und zog den Vorhang zu.

„Ein verwünschtes Licht; ich werde mich wohl niemals an die Sonne auf dem Mond gewöhnen."

Der Vorhang schloss nicht ordentlich, ein schmaler Spalt ließ einen Strahl des verwünschten Lichtes ins Zimmer fallen. Obwohl das Fensterglas das Sonnenlicht filterte, grunzte Simin ärgerlich und wich dem Strahl aus, der den Raum wie das Messer die Butter in zwei Hälften teilte.

„Was halten Sie von dem anonymen Brief? Ein schlechter Scherz?"

Simin wartete auf Antwort. Da er keine erhielt, blickte er zum Schreibtisch seines Mitarbeiters hinüber. Dort war es stockdunkel. Simin hatte das dumme Gefühl, allein im Zimmer zu sein. Er riss den Vorhang auf und blickte wieder zum Schreibtisch hin. Howald saß unbeweglich in seinem Sessel.

Simin wiederholte seine Frage. „Sie halten den anonymen Brief für einen schlechten Scherz?" „Keineswegs."

Simin nickte nur und lief neuerlich hin und her; und da er es verschmähte, die landesüblichen oder vielmehr mondüblichen Trimmschuhe zu benutzen, prallte er wie ein Gummiball von einer Wand zur an deren.

Für Howald hingegen schien der Mond die doppelte Anziehungskraft der Erde zu haben. Er brachte seine überlange Gestalt mühsam auf die Beine und schleppte sich an einen Schrank, aus dem er einige Mappen zog. Sichtlich erschöpft wankte er zu seinem Sessel zurück und ließ sich kraftlos hineinfallen.

Simin beobachtete seinen Mitarbeiter mit besorgter Miene. Er wusste, dass Howald an der Mondsucht litt, einer Krankheit, die gewöhnlich einige Zeit nach dem Mondrausch auftrat und, im Gegensatz zu diesem, von einer seelischen Depression begleitet wurde. Ihre Ursache aber hatte die Mondsucht in der Schwierigkeit, das der Erde angepasste Stabilisierungssystem des menschlichen Körpers auf die Schwerkraft des Mondes umzustellen. Statt sich auf eine geringere Leistung einzuspielen, brach dieses System, da es nicht in dem gewohnten Maße gefordert wurde, völlig zusammen. Demzufolge war der Körper der Schwerkraft des Mondes jetzt widerstandslos ausgeliefert und empfand sie stärker als vorher die der Erde. Als die ersten Fälle von Mondsucht auftraten, schickte man die davon Befallenen sogleich zurück zum Heimatplaneten. Doch statt einer Heilung trat das Gegenteil ein: die Erkrankten klagten über eine unerträgliche Zunahme der Beschwerden und verlangten danach, wieder auf den Mond gebracht zu werden. Dieses Verlangen nahm gewöhnlich sehr schnell den Charakter einer neurotischen Sucht an, woraus sich der Name dieser Krankheit erklärt.

Schließlich stellte man fest, dass der Mondsucht lediglich eine zu weit getriebene, sozusagen über das Ziel hinausgeschossene Anpassung des Stabilisierungssystems zugrunde liegt, wonach es sich allmählich auf die Schwereverhältnisse des Mondes einspielt. Die Mediziner halten dies jedoch für einen labilen Zustand, der, von einer gemilderten Form des Mondrausches hin und wieder unterbrochen, möglicherweise nach einer bestimmten Zeit zu einer neuen Krise oder zu einer dauernden Störung, einer Art chronischer Mondsucht, führen kann.

Howald also litt an der Mondsucht, ohne allerdings Symptome der sie gewöhnlich begleitenden seelischen Depression erkennen zu lassen, weshalb ihn der Arzt für ein medizinisches Wunder erklärte. Simin hingegen erklärte sich dieses Phänomen aus der ungewöhnlichen Selbstbeherrschung seines Mitarbeiters.

„Vor drei Wochen", erklärte Howald und blätterte in einer der Mappen, „beförderte das Skaphanderwerk Douglas in Cleveland einen Mann namens Callington mittels einer Rakete in eine Höhe von gut zweihundert Kilometern. Den Presseberichten zufolge soll er, nachdem er sich aus der Rakete herauskatapultiert hatte, wohlbehalten wieder auf der Erde angekommen sein, ohne einen Fallschirm oder andere konventionelle Bremshilfen benutzt zu haben. Die erforderliche Minderung der Fallgeschwindigkeit, so hieß es, sei allein durch die Beeinflussung der Gravitation erreicht worden."

„Obwohl die Experten auf diesem Gebiet das Problem der Minderung oder Aufhebung der Schwerkraft noch nicht für gelöst halten, wenigstens was die praktische Seite betrifft."

„So hieß es zurzeit von Callingtons Skaphandersprung", gab Howald zu bedenken. „Soviel ich weift, ist man drüben in Mirograd jetzt schon weiter."

Simin sprang wieder von einer Wand zur anderen, blieb plötzlich wie angewurzelt mitten im Raum stehen und rief: „Wenn hier ein Zusammenhang besteht, können wir uns auf einen sensationellen Fall gefasst machen!"

„Ich sehe da keinen Zusammenhang", bekannte Howald.

„Und weshalb fordert uns der anonyme Briefschreiber auf, den Skaphandermann nicht aus den Augen zu lassen, sobald er nach Lunastadt kommt?"

„Etwa weil Callington von Douglas den Auftrag hat. bei Gelegenheit seines Aufenthaltes in Lunastadt einen Abstecher nach Mirograd zu machen?' „Callington selbst wohl kaum", meinte Simin. „Für solche Geschäfte bedient man sich gewöhnlich anderer Leute."

„Aber weshalb will Douglas auf unlautere Art Unterlagen erwerben, die er bereits besitzt? Ohne sie wäre der Skaphandersprung doch unmöglich gewesen."

 

„Wili!"

„Whisky pur, mein Herr?"

„Woher wissen Sie ...?"

„Als Sie voriges Jahr in Lunastadt waren, tranken Sie stets Whisky, wenigstens um diese Tageszeit. Ich erinnere mich noch an die Sorte."

„Erstaunlich!"

„Berufsgedächtnis."

„Wili!"

Ein anderer Gast, wohlbeleibt und rosigen Gesichts, winkte den Kellner jovial an seinen Tisch.

„Mein Töchterchen hat einen Wunsch an Sie."

Wili wandte sich der Kleinen zu. „Bitte sehr, mein Fräulein?"

Die Kleine wurde über und über rot und brachte kein Wort heraus. Ihr Vater begann laut zu lachen.

„Sie möchte selber etwas bestellen", erklärte er. „Aber sie ist so furchtbar schüchtern."

Der beleibte Herr lachte wieder laut auf, und sein schüchternes Töchterchen brachte noch immer kein Wort heraus. Wili reichte ihr die Karte, und sie tippte mit dem Finger auf eine Nachspeise.

Wili nahm zum Vergnügen der Kleinen die Bestellung in aller Form auf und eilte davon.

Obwohl das Hotel „Babylon" nicht voll belegt war, herrschte im Restaurant Hochbetrieb, und Wili hatte alle Hände voll zu tun. Eben kam ein Trupp Seleno- graphen hereingestolpert und suchte lärmend einen freien Tisch. Die raubeinigen Burschen schleppten ungeniert ihre Rucksäcke mit den herausragenden Spitzhacken in das hochelegante Restaurant mit herein und setzten sie, die Rucksäcke, als sie nach einigem Hin und Her endlich einen Tisch gefunden hatten, neben ihren Stühlen ab. Einige Gäste mokierten sich über das Benehmen der Selenografen, was von diesen mit Gelächter und noch ungenierterem Auftreten beantwortet wurde. Ihre schwere und oft nicht ungefährliche Arbeit, ihr gewöhnlich Monate dauernder Aufenthalt in einer der einsamen Außenstationen und die damit verbundene primitive und zugleich abenteuerliche Lebensweise hatte die aus den verschiedensten Weltgegenden zusammengewürfelten Leute zu recht verwegenen Gesellen gemacht. Sie fühlten sich als die wahren Herren des Mondes, auf dem ihres Erachtens außer ihnen niemand etwas zu suchen hatte. Lediglich den Mitarbeitern der Forschungsinstitute zollten sie einige Achtung, alle übrigen aber waren für sie ungebetene Gäste, die nur im Wege standen und Maulaffen feilhielten.

Der wohlbeleibte Herr schien jedoch anderer Meinung zu sein und forderte Wili auf, die lärmenden Selenografen zur Ordnung zu rufen. Wili kannte diese Leute jedoch gut genug und hütete sich, ihnen ein ermahnendes Wort zu sagen. Sie hätten ihn mitsamt dem beleibten Herrn unweigerlich vor die Tür gesetzt. Eben da kam eine Wolke vom Mondrausch befallener Touristen hereingeschwebt und wirbelte in fantastischen Walzerschritten durch den Raum. Unvorsichtigerweise hatten die Leute auch noch Alkohol genossen, was dem Mondrausch eine besondere Note verlieh. Und da keiner von ihnen Trimmschuhe trug, flatterten sie wie aufgescheuchte Hühner umher, und man war versucht, sie mit dem Schmetterlingsnetz einzufangen. Vor allem ein baumlanger Schwarzer sprang wie ein Flaschenteufel auf und nieder, wobei er sich einem Brummkreisel gleich um sich selber drehte und bei jedem Sprung mit dem Kopf an die gut acht Meter hohe Decke zu stoßen drohte. Wie in solchen Fällen unvermeidlich, wurde ein Teil der übrigen Gäste vom Mondrausch angesteckt und schloss sich der Schwärmerei an. Andere wiederum, die sich zum ersten Mal dieser Erscheinung gegenübersahen, flüchteten entsetzt aus dem Restaurant, unter ihnen auch der wohlbeleibte Herr. Sein schüchternes Töchterchen hatte er vor Schreck vergessen. Wili nahm sich der verängstigten Kleinen an und brachte sie in Sicherheit. Die erfahreneren unter den Gästen hatten indessen unter ihren Tischen Schutz gesucht. Allein die Selenografen blieben ungerührt auf ihren Stühlen sitzen und scherten sich nicht weiter um das groteske Treiben, außer dass sie diese oder jene absdiätzige Bemerkung machten oder einen der über ihren Tisch hinwegschwebenden Touristen am Bein schnappten und mit einem kräftigen Schlenker in Richtung Tür beförderten.

Die Darstellung dieser Vorgänge im Restaurant des Hotels „Babylon" könnte dazu verleiten, den Mondrausch ernster zu nehmen, als er ist. In Wahrheit handelt es sich um eine harmlose Erscheinung, die mehr Vergnügen und Erheiterung als ernste Folgen mit sich bringt. Auch dauerte der Zwischenfall nicht so lange, wie seine Beschreibung vermuten lassen könnte. Vielmehr war das darauf geschulte Hotelpersonal schnell bei der Hand und fing die umher- flattemden Touristen nebst angesteckten Gästen ein und brachte sie in einen Nebenraum, wo man ihnen ein Niederschlagmittel verabreichte. Allein der baumlange Schwarze war nicht so leicht zu fangen und machte einige Schwierigkeiten. Endlich hatte man aber auch ihn an den Beinen gekriegt und in den Nebenraum gezogen, wo er mit einer doppelten Dosis bedacht wurde. So hatte der Spuk im Handumdrehen sein Ende gefunden, und nur die unter ihren Tischen hervorkriechenden restlichen Gäste, einige umherliegende Kleidungsstücke und umgestürztes oder zu Boden gefallenes Geschirr erinnerten daran, dass der Spuk Wirklichkeit gewesen war. Scherben gab es nicht, denn auf dem Mond ging selten etwas entzwei.

Der Zwischenfall hatte Will der Aufgabe, den wohlbeleibten Herrn und die Selenografen in ein verträgliches Verhältnis zu setzen, für diesmal enthoben. Und da sein Dienst eben jetzt zu Ende war, entschloss er sich, sogleich seinen vor wenigen Stunden angelangten jungen Kollegen zu begrüßen. Auf dem Wege dahin kam er an der Rezeption vorbei, wo sein Blick auf eine Dame fiel, die sich gerade anmeldete. Wili blieb wie gebannt stehen. Er hatte in seinem Beruf schon manches gesehen, in Sonderheit während seiner Tätigkeit in Lunastadt, wo sich die Prominenz der Erde ein Stelldichein gab. Doch solch eine Frau war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Dabei wirkte sie eher schlicht denn auffallend. Es war ihre vollkommene Natürlichkeit, deren Zauber ihn gefangen nahm. Das ist das Ende, sagte er sich, fang also gar nicht erst an. Wili hatte eben erst eine unglückliche Liebe hinter sich und daher keinen Bedarf auf eine zweite. Und dass er bei dieser Frau kein Glück haben würde, sah er auf den ersten Blick. Immerhin war er um beinahe einen Kopf kürzer als sie. Also setzte er seine Beine wieder in Bewegung. Als er an ihr vorbeiging, wurde sie von einem Manne angesprochen, den Wili als einen Hotelgast erkannte, der bereits mehrere Tage im „Babylon" logierte und wie ein italienischer Sportsegler aussah. Er kam jedoch aus Nordamerika und gab sich als Journalist aus. Er schien seinen Urlaub hier zu verbringen, denn er sag entweder müßig in der Hotelbar herum oder unternahm, wie die anderen Urlauber auch, Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung. Genaueres wusste jedoch keiner über ihn zu sagen.

 

Außer dem „Babylon" hatte Lunastadt noch einige kleinere Hotels, unter diesen das sogenannte Kurhaus. In ihm herrschte ständig eine Atmosphäre lautloser Langeweile, da es fast ausschließlich von Leuten benutzt wurde, die von ihren Ärzten auf den Mond geschickt worden waren. Und kranke Leute, noch mehr aber solche, die sich dafür halten, bedürfen nun einmal der größten Stille, weshalb sie jeden, der Lärm verträgt, der Kerngesundheit für überführt halten. Und da sich keiner diesen Vorwurf zuziehen wollte, herrschte im Kurhaus ungeheure Stille. Und der Stillste von allen war Alfried Listen, weshalb er für besonders krank galt. Weiter wusste man allerdings nichts über ihn zu sagen, außer dass er an einer Kehlkopfentzündung leide. Folglich sprach er stets mit flüsternder Stimme, und man kam nur mühsam mit ihm in ein Gespräch, das einigen Aufschluss über ihn hätte geben können. Hin und wieder unternahm er einen längeren Spaziergang, und zu einem solchen machte er sich soeben auf den Weg.

2. Kapitel

Wer auf dem Mond unterwegs ist, benutzt für gewöhnlich die von Lunastadt zu den verschiedenen Außenstationen führenden Züge, in deren hermetisch abgeschlossenen Waggons sich eine den irdischen Verhältnissen entsprechende Atmosphäre befindet. In den Außenstationen bewegt man sich, wie auch in Lunastadt selbst, innerhalb der ebenfalls mit künstlicher Atmosphäre gefüllten tunnelartigen, weitgehend unterirdisch angelegten Straßen. Will einer jedoch seiner eigenen Wege gehen, muss er sich noch immer des Raumanzuges bedienen, da das Problem der sogenannten freien Atmosphäre noch nicht gelöst ist. Die Forschungen in Mirograd lassen jedoch hoffen, dass über kurz oder lang die Voraussetzungen geschaffen sein werden, die Schwereverhältnisse eines bestimmten Bereichs und sogar eines ganzen Himmelskörpers zu verändern. Auf diesem Wege könnte auf dem Mond eine künstliche Atmosphäre mit einer den irdischen Verhältnissen entsprechenden Dichte aufgelagert werden, während bei der jetzigen geringen Anziehungskraft des Mondes sich die Luft buchstäblich verdünnisieren und der Mensch nicht genügend Sauerstoff in ihr finden würde. Allerdings erfordert diese „Vermenschlichung" des Mondes die Erzeugung einer ungeheuren Menge von künstlicher Atmosphäre. Und bis darüber entschieden sein wird, ob sich der Aufwand auch lohnt, kann noch einige Zeit vergehen; und so lange muss, wie gesagt, jeder sich des althergebrachten Raumanzuges bedienen, wenn er seiner eigenen Wege gehen will.

So auch Alfried Listen. Und so auch der wie ein italienischer Sportsegler aussehende nordamerikanische Journalist, der wie jener seiner eigenen Wege ging.

Und als sich beider Wege an einer vor Jahren aufgegebenen und inzwischen verfallenen Außenstation kreuzten, schienen sie sich darüber nicht weiter zu wundern, sondern traten ohne Weiteres in die Station ein, die im Unterschied zu den moderneren lediglich aus einem einzigen Gebäude bestand, dessen Inneneinrichtung jedoch noch einigermaßen in Ordnung war, wenigstens was die Sitzgelegenheiten betraf. Der Atmosphärostat funktionierte allerdings nicht mehr, weshalb sie ihre Raumanzüge anbehalten mussten. Sie nahmen jetzt in den bequemen Sesseln Platz.

„Ist sie eingetroffen?", eröffnete Listen das Gespräch, das mittels der in den Raumanzügen eingebauten Nahfunkgeräte geführt wurde.

„Vor zwei Stunden", entgegnete der Journalist.

„Unter welchem Namen hat sie sich angemeldet?", fragte Listen weiter.

„Als Margrit Messmer."

„Messmer ist der Mädchenname ihrer Mutter?"

„Ja."

„Und in ihren Papieren, steht da nicht Douglas drin, ihr richtiger Name?"

„Wer fragt hier schon nach Papieren?"

„Na schön." Listen schien zufriedengestellt. „Hoffentlich macht sie ansonsten keinen Fehler, sie soll sehr eigenwillig sein."

Der Journalist lächelte. „Sie sieht sehr gut aus. Ich werde mich in sie verlieben, da ist es nur natürlich, wenn ich dauernd um sie herum bin. Niemand wird etwas Auffälliges daran finden, und ich behalte sie immer im Auge."

Jetzt lächelte auch Listen. „Legen Sie sich nur nicht zu sehr ins Zeug. Verliebte Leute sind ein Kreuz. Und sobald Callington hier auftaucht, muss alles wie am Schnürchen laufen." „Wer ist bloß auf die verrückte Idee gekommen, den Mann auf den Mond zu schicken ?"

„Der Rummel, der um ihn gemacht werden wird, ist für uns die beste Gelegenheit, unbeachtet zu bleiben und unser Unternehmen ungefährdet zu Ende zu bringen.''

„Wenn Callington durchhält", gab der Journalist zu bedenken. „Er soll mit den Nerven ziemlich runter sein."

„Das ist unsere Sorge nicht."

„Aber es kann unser Pech sein."

„Der alte Douglas ist ein schlauer Fuchs, das wissen Sie so gut wie ich. Wäre er sonst der reichste Mann der Welt? Und dass sein letzter Coup auch sein bester sein wird, dürfte wohl außer Zweifel stehen."

Mit dieser Feststellung verabschiedete sich der eine vom andern, und beide gingen wieder ihrer eigenen Wege.

 

„Ich hätte mich sicherlich auch unter dem Tisch verkrochen." Jochen Rockhaus legte das letzte Wäschestück in den Schrank, schloss die Tür und wandte sich Wili zu, „Wir machen auf der Erde unsere Witze über den Mondrausch. Dass er aber solche Ausmaße annehmen kann, hätte ich nicht gedacht."

„Das war heute noch gar nichts", sagte Will. „Einmal hatten wir eine Rugbymannschaft hier. Sie war zu einer Tournee auf den Mond gekommen. Als die Kerle vom Mondrausch befallen wurden, haben sie die gesamte Inneneinrichtung des Restaurants zerlegt. Und da wir damals noch kein Mittel gegen den Mondrausch hatten, wussten wir nicht, wie wir ihnen beikommen sollten. Schließlich haben wir Tischtücher über sie geworfen und sie so lange mit kaltem Wasser begossen, bis sie sich ausgezappelt hatten." „Über Mangel an Abwechslung kann man hier also nicht klagen."

„Im Gegenteil." Wili trat ans Fenster. „Sieh dir mal das Panorama an. Die Sonne hat auf dem Mond ein ganz anderes Aussehen, ihr Licht ist gleitender und wirft scharfkantige Schatten. Die Architektur der Mondstädte erscheint uns fremd, als wären sie von Menschen anderer Sterne erbaut. Dazu die dicke Kugel der Erde, die immer an der gleichen Stelle des Horizontes hockt. Und schließlich die geringe Anziehungskraft des Mondes, die unseren körperlichen Bewegungen eine spielerische Leichtigkeit verleiht. All das hat etwas Unwirkliches, Traumhaftes an sich. Es versetzt den Menschen in einen Zustand, der ihm ganz und gar ungewohnt ist. Und plötzlich zeigt er völlig neue Eigenschaften und scheint ein ganz anderer zu sein. Und du stehst da und weißt nicht, wie du dich ihm gegenüber verhalten sollst. Natürlich", schränkte Wili ein, „verliert der Mensch nicht sein auf der Erde gewordenes Wesen, und die Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, sind letzten Endes auch hier anwendbar. Aber im ersten Augenblick bist du ganz schön überrascht und glaubst an Zauberei." „Da kann ich ja auf einiges gefasst sein."

Jochen Rockhaus hatte seine Verärgerung darüber, dass er im „Babylon" als Liftboy anfangen sollte, gänzlich vergessen.

„Und du selbst, hast du an dir auch schon etwas Derartiges erlebt?"

Wili lächelte. „Bis jetzt nicht, es gibt ja auch Ausnahmen. Verlass dich aber nicht darauf, man kann da nie ganz sicher sein."

 

Simin lief aufgeregt im Zimmer umher, riss den Vorhang vor dem Fenster auf und zog ihn im nächsten Augenblick wieder zu, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sprang wieder auf.

„Mit einem Wort: wir sind keinen Schritt weitergekommen."

„Die Situation in den USA ist für unsere Begriffe ein wenig eigenartig", entgegnete Howald.

„Wenn sie nicht eigenartig wäre, gäbe es nicht den Fall Douglas."

„Das ist auch wieder wahr", gab Howald zu.

Also: welche spezifischen Möglichkeiten hat ein Mann wie dieser Douglas gegenwärtig in .den USA?" „Politische?"

Ja."

„Nicht die geringsten, was die Restauration der alten Verhältnisse anbetrifft. Die revolutionäre Umgestaltung ist bereits zu weit fortgeschritten, um rückgängig gemacht werden zu können. Die paar restlichen Privatunternehmer sind ein verlorenes Häuflein, das keine Gefahr darstellt. Eben deshalb hat man es wohl nicht so eilig damit, sie auszuschalten. Und überdies ist man ihnen verpflichtet. Ich habe über die wichtigsten von ihnen Erkundigungen eingeholt. Sie haben sich alle am Kampf gegen das alte Regime beteiligt. Als das imperialistische System in den USA durch die fortschreitenden revolutionären Umwälzungen in der Welt in die Enge getrieben war, versuchte eine extrem militaristische Clique die Weltgeschichte durch einen Krieg zu korrigieren. Vor diesem selbstmörderischen Wahnwitz schreckten aber selbst einige Großkapitalisten zurück. Und da sie allein nichts ausrichten konnten, verbanden sie sich mit der progressiven Volksbewegung. Douglas selbst hat die revolutionären Kampfeinheiten weitgehend technisch ausgerüstet. Damit macht er noch heute Reklame." „Das hatte er wohl seinerzeit schon einkalkuliert." „Ein Mann mit kluger Voraussicht."

„Das ist es!", rief Simin.

„Ich verstehe nicht." Howald hatte noch immer mit der Mondsucht zu kämpfen, und es fiel ihm schwer, Simins Gedankensprüngen zu folgen.

„Wir kennen", erklärte Simin, „aus unserer Vergangenheit vor allem eine Art von Kapitalisten, nämlich solche, die ihr Heil in der Wiederherstellung der alten Verhältnisse suchten. Das ist heute, wo es kein kapitalistisches Land mehr gibt, sondern nur noch ein paar einzelne Kapitalisten, absolut aussichtslos geworden, wie Sie eben selber festgestellt haben. Also versuchen die paar übrig gebliebenen Herrschaften ihr Geschäft nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Zukunft zu machen."

„Fragt sich nur, auf welche Weise."

„Auf ihre", sagte Simin. „Welche Auskunft haben Sie vom Dokumentationszentrum in Dresden erhalten?" „Das DZD kann nur die Informationen geben, die es empfangen hat", sagte Howald, der sich gegen den Türrahmen lehnte und gegen ein Gähnen ankämpfte. Da er sich nicht sicher war, ob er es auf die Dauer unterdrücken konnte, hielt er die Hand in der Nähe des Mundes bereit. „Die Firma Douglas, heißt es, habe sich vor Jahren intensiv mit dem Problem der Gravitation befasst und sei zu beachtlichen Ergebnissen gelangt."

„Aber so weit, um das Experiment mit dem Skaphandermann machen zu können, war sie doch keinesfalls."

Howald ließ die Hand ein wenig sinken, brachte sie jedoch sogleich wieder in die Nähe des Mundes. „Das DZD hält es nicht für wahrscheinlich, selbst dann, wenn Douglas die Forschungen nicht unterbrochen hätte. Es hält es aber auch nicht für ausgeschlossen." „Was sollen wir damit anfangen: nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen!"

Simin riss den Vorhang, der wieder einmal bis auf den schmalen Spalt geschlossen war, hastig auf und blinzelte in das grelle Licht.

Howald ließ die Hand sinken und gähnte ausgiebig und ungeniert. Als sich Simin umdrehte, nahm er die Hand vor den Mund und sagte: „Ich werde einmal in New Jackson herumhorchen. Dort soll ein ehemaliger Mitarbeiter von Douglas beschäftigt sein, der sicherlich Genaueres weiß."

„In New Jackson? Dort arbeitet man doch überhaupt nicht an der Gravitation."

Howald hatte die Hand wieder in der Nähe des Mundes. „Das nicht. Der Mann hat vermutlich umgesattelt.'

Simin nickte. „Also fahren Sie hin. Wie heißt der Mann?"

„Burton."

Die riesige Halle, die das gesellschaftliche Zentrum von Lunastadt bildete, bestand aus einer gläsernen Halbkugel, weshalb sie allgemein das Planetarium genannt wurde, und hatte einen Durchmesser von annähernd zweihundert Metern. An der einen Längsseite des inmitten der Halle angelegten Sportplatzes befand sich ein Schwimmbassin, während an der anderen Längsseite, mithin dem Bassin gegenüber, eine Tribüne errichtet worden war. Um diese Anlage herum führten Laubengänge, in denen zu der frühen Stunde dieses Tages nur wenige Menschen lustwandelten. Auch im Schwimmbassin tummelten sich nur einige Unentwegte, während der Sportplatz wie ausgestorben dalag. Lediglich ein kaum zehnjähriger Knirps drehte unverdrossen seine Runden auf der Aschenbahn, wobei er ein furchtbar ernsthaftes Gesicht machte und nur hin und wieder auf die an der Tribünenblende angebrachte Stadionuhr blickte, Margrit Messmer blieb eine Weile unentschlossen am Rande des Sportplatzes stehen und beobachtete ohne viel Hingabe den einsamen Läufer. Schließlich nahm sie einen Block aus ihrer Tasche und warf mit flüchtiger Hand eine Skizze auf das Papier. Als Fotografin und Pressezeichnerin machte es ihr keine Schwierigkeit, Anlage und Einrichtung der Halle mit wenigen, schnellen Strichen zu erfassen. Allein die Tribüne führte sie bis ins Detail aus, der Sportplatz hingegen wurde nur angedeutet, und der kleine Junge war auf der Zeichnung überhaupt nicht zu sehen. Nicht einmal ein Strich oder auch nur ein Punkt stand für seinen kindlichen Eifer. Er war einfach nicht da, als gäbe es ihn nicht. Nicht die Spur. Der Kleine ahnte nichts von seinem Nichtvorhandensein und drehte seine Runden unverdrossen weiter.

Margrit Messmer wollte den Block in die Tasche stecken, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie verhielt einen Augenblick in ihrer Bewegung, schob dann den Block vollends in die Tasche und wandte sich langsam um. Hinter ihr stand der Journalist, ein gewinnendes Lächeln auf seinem gebräunten Gesicht.

„Oh, Herr Hardy! Ich dachte nicht, dass Sie ebenfalls Frühaufsteher sind.“

Der Journalist hob amüsiert die Schultern. „Ihr Vater war so freundlich, mir einige Andeutungen über Ihre Gepflogenheiten zu machen. Also wusste ich, dass Sie mit dem ersten Hahnenschrei aus den Federn steigen."

„Und woher wussten Sie, dass ich ins Planetarium gehen würde? Das hat er Ihnen doch wohl nicht gesagt." „Wie konnte er?" Hardy nahm endlich die Hand von ihrer Schulter. „Das hat mir mein Instinkt als Journalist gesagt. Von Verbrechern heißt es, sie kehren an den Ort der Tat zurück. Ein guter Journalist hingegen sollte vor der Tat an Ort und Stelle sein."

Die selbstgefällige Art Hardys missfiel Margrit Messmer. Sie wandte sich brüsk ab und schritt einen der Pfade entlang, die durch die parkähnlichen Anlagen führten. Der Journalist folgte ihr, als habe er ihre abweisende Geste nicht bemerkt, und ließ sich, als sie auf einer Bank Platz nahm, neben ihr nieder. Sie schauten eine Weile schweigend auf den vor ihnen befindlichen kleinen Teich, der mit exotischen Zierfischen besetzt und von biederen irdischen Tannen und etwas weniger biederen, aber nicht minder irdischen Kiefern umgeben war. Auch die übrigen Anlagen des Planetariums bestanden aus solchen Ensembles, in deren Mitte jeweils ein kleiner Teich oder ein Springbrunnen angelegt war. Die Ensembles wiederum wurden durch romantisch gestaltete Laubengänge miteinander verbunden.

Margrit Messmer schien ganz in den Anblick des Wassers und der darin umherschwimmenden Fische vertieft zu sein. Der Journalist wurde allmählich ungeduldig,- er wusste nicht wie er aus der verschwiegenen Situation herauskommen sollte.

„Ihr Vater", begann er endlich, „hatte sicherlich seine Gründe, als er mich bat, mich in Ihrer Nähe und zu Ihrer Verfügung zu halten. Vermutlich rechnet er damit, dass Callingtons Besuch in Lunastadt nicht ohne Zwischenfälle verlaufen wird."

„Zwischenfälle?" Margrit Messmer lächelte spöttisch. „Wer sollte daran interessiert sein, wenn nicht mein Vater selbst? Er scheint es auf seine alten Tage geradezu darauf abgesehen zu haben, um jede seiner Unternehmungen einen Haufen Staub aufzuwirbeln. Und dass er so eifrig darum bemüht war, Callington hier im Planetarium zur Schau zu stellen, deutet darauf hin, dass er sich diesmal noch zu übertreffen beabsichtigt."

„Wenn er Staub aufwirbeln will", meinte Hardy, „so ist der Mond gerade der richtige Ort."

 

Jochen Rockhaus stand reichlich verlegen vor der Tür zum Fahrstuhl. Zwar hatte er schon einige Hotelgäste hinauf- und herabbefördert, und die Bedienung der Anlage war kinderleicht; trotzdem kam er sich wie ein dummer Junge vor, der sich selber im Wege herumsteht. Den Rest hatte ihm das Trinkgeld gegeben, das ihm einer der Gäste in die Hand drücken wollte. In Europa war diese Sitte längst aus der Mode gekommen. Doch auf dem Mond gab es noch Trinkgelder. Jochen fand das empörend und hatte die Annahme energisch verweigert. Es ist eine Schande für den Trabanten, dachte er, eine ungeheuerliche Schande! Eben da fühlte er ein Geldstück in der Hand. Erschrocken schaute er auf und sah vor sich den Journalisten stehen, neben diesem aber Margrit Messmer.

„Siebzehnte Etage", sagte Hardy.

Der Journalist trat in den Lift. Jochen Rockhaus stand wie angewurzelt. Er starrte auf die Frau, drehte sich plötzlich um und gab Hardy das Geld zurück. „Was ist?", fragte Hardy, „funktioniert der Lift nicht?" „Der Lift schon", sagte Jochen.

Margrit Messmer lachte hell auf. Dann trat sie in die Kabine.

Jochen folgte ihr und drückte auf den Knopf. „Siebzehnte Etage?"

Hardy schob das Geldstück in die Tasche. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht."

„Es macht mir nichts aus."

Jochen blickte auf die Frau. Margrit lächelte ihm zu und kniff ein Auge ein wenig ein. Jochen verspürte ebenfalls ein Zucken im Gesicht. Es war ohne seinen Willen geschehen, unwillkürlich. Hoffentlich hat sie nicht bemerkt, dass ich ihr wieder zugezwinkert habe, dachte Jochen und bekam einen roten Kopf. Margrit lachte wiederum hell auf. Doch statt noch verlegener zu werden, fand Jochen jetzt seine Sicherheit zurück. Als die siebzehnte Etage erreicht war, sagte er gelassen: >Siebzehnte Etage< und >Bitte, mein Fräulein<."