Impressum

Siegfried Maaß

Nachtfahrten

Novelle

 

ISBN 978-3-95655-632-6 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2009 im Dorise-Verlag, Burg.

 

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Der JUNGE und das MÄDCHEN

Auch damals, als er noch ein JUNGE mit straff anliegender und sorgfältig gescheitelter Tolle war und seine erste große Reise antrat, hatte er den Zug bestiegen, als es genau wie jetzt bereits zu dämmern begann und alles um ihn herum grau aussah, wie von einer dünnen Schicht Asche bedeckt. Der MANN erinnert sich, dass es dem JUNGEN damals vorgekommen war, als besäßen die Lokomotiven Augen, während sie mit grell leuchtenden Scheinwerfern ihre Lasten in den großen Bahnhof schleppten. In den Personenwagen hinter ihnen war es jedoch fast dunkel, weil an der Decke unter einer dicken Glasglocke, die mit einem Maulkorb aus Draht versehen war, jeweils nur ein trübes Gaslicht glomm. Das wusste der JUNGE, weil er manchmal mit der Mutter zu den Großeltern gefahren und erst mit dem Abendzug in die Stadt zurückgekehrt war.

Keine Gelegenheit hatte die Großmutter ausgelassen, um ihre Tochter zu überreden, die Nacht bei ihnen im Dorf zu verbringen und mit dem ersten Zug am anderen Morgen zu fahren. Mal verfiel sie ins Bitten, mal verlangte sie, auf sie zu hören, denn sie wäre sehr ängstlich, wenn ihre beiden nachts auf der Bahn wären. Man könne ja nicht wissen ... So viele schlechte Menschen würde es geben in dieser Zeit und dann Mutter und Kind so ganz ohne Schutz ... Und kein Auge könne sie zumachen ...

War es so weit gekommen, wusste der JUNGE stets, was nun folgen würde.

Denn niemals vergaß die Großmutter, ihre Tochter zu erinnern, dass diese hier zu Hause sei, hier hatte sie die Kindheit verbracht. Und schließlich sparte die Großmutter auch nie dieses schreckliche Wort aus, das dem JUNGEN ebenso wenig gefiel wie seiner Mutter: Ob sie sich schämen würde, vom Dorf zu kommen ...

Einmal hatte die Mutter darauf heftig geantwortet: „Vielleicht schäme ich mich auch, weil ich euch Dorfleute als Eltern habe? Meinst du das vielleicht? Dass ich in der Stadt sage, ich habe keine Eltern mehr? Nur um nicht zugeben zu müssen, dass ich zu euch aufs Dorf fahre, wenn ich am Sonntagmorgen in den Zug steige?“

So laut hatte der JUNGE seine Mutter zuvor nie gehört. Dann hatte er seine Sachen zusammensuchen müssen und gleich darauf befanden sie sich bereits auf der Dorfstraße. Kahl ragten die Linden in den Winterhimmel. Wie an einer Schnur aufgereiht, säumten sie den Straßenrand und bildeten eine exakte Linie entlang der Häuser. Gelbliches Licht schimmerte durch die Ritzen der Fensterläden, hinter denen sich die Bewohner abschirmten.

Ob sich auch in diesen Häusern die Leute stritten?, hatte der JUNGE während der von der Mutter verordneten Flucht gedacht. Die Eltern mit den Kindern? Große Kinder wie die Mutter mit den ganz Alten?

Hatte die Großmutter recht? Gefiel es seiner Mutter nicht mehr in dem Dorf, wo sie selbst Kind gewesen ist? Er jedenfalls war gern dort und besonders bei den Großeltern.

Wie einen schweren Gegenstand hatte die Mutter ihn hinter sich hergezogen, obwohl er sich eigensinnig aufzustemmen versuchte. Ein Schulkamerad der Mutter hatte sie dann mit dem Lastwagen in die Stadt mitgenommen. Plötzlich hatte der Laster neben ihnen gehalten. Der Mann hatte seinen Kopf herausgesteckt und gefragt, ob sie in die Stadt wollten. Die Mutter hatte genickt, worauf der Fahrer mit dem Daumen nach hinten wies. Seine Kabine sei leider schon voll besetzt, sagte er und hob bedauernd die Schultern. Sie hatten es sich, so gut es ging, auf Säcken voller Kartoffeln bequem machen müssen. Das gefiel dem JUNGEN gut, kam ihm wie eine abenteuerliche Entschädigung für den fluchtartigen Aufbruch vor, während die Mutter bei jeder Erschütterung auf der löcherigen Landstraße stöhnte und sich den Rücken hielt. Bald hüllte sie völlige Dunkelheit ein und der JUNGE versuchte die Lichtstrahlen der Autoscheinwerfer, die blendend entgegenkamen, mit den Händen einzufangen. Waren sie dann hinter Kurven oder im Wald verschwunden, bildete er sich ein, ein geschickter Lichtfänger zu sein. Auf diese Weise vergaß er seine Wut und Enttäuschung und half schließlich seiner Mutter hinab, nachdem der Fahrer sie in der Stadt absteigen ließ.

Viel Zeit musste dann verstreichen, ehe die Mutter sich wieder zu einem Besuch bei ihren Eltern aufraffen konnte. Auch an jenem Sonntagabend blieb die Hoffnung der Großmutter, dass Tochter und Enkel die Nacht im Dorf verbringen würden, nicht unausgesprochen.

Doch die Mutter beharrte erneut darauf, mit dem Abendzug heimzufahren.

Der JUNGE wusste es schon im Voraus und der MANN weiß noch recht genau, was damals geschah.

Auch dieses Mal rief die Großmutter den Großvater, der darauf ins Zimmer schlurfte, die Daumen unter die Hosenträger gespannt, und sogleich nickte, denn er kannte die sich wiederholende Szene zwischen Mutter und Tochter ebenso. Darum konnte jede von ihnen sein Nicken als Zustimmung für sich gelten lassen, worin die Mutter des JUNGEN schneller und geschickter als die Großmutter war.

„Siehst du, Vater stimmt mir zu!“, sagte sie und umarmte ihn und strich dankend über seine Schulter. Dazu zog der Großvater seine Daumen unter den Trägern hervor, als gehöre es sich, die Hände freizuhaben. Wie unbeweglich und unbrauchbar hingen sie nun schlaff an ihm herab. Der MANN erinnert sich nicht, jemals gesehen zu haben, dass des Großvaters Hände Rücken oder Arme der Mutter berührt hatten.

Weil sie zu arbeiten habe und eine Kundin dringend auf ihr Kleid warte, sagte die Mutter dann. „Darum muss ich mit dem Abendzug fahren. Morgen Mittag muss es fertig sein. Damit verdiene ich schließlich unseren Lebensunterhalt.“

Der JUNGE fand es merkwürdig, dass die Mutter jedes Mal die gleichen Worte als Ausrede gebrauchte und die Großmutter es nicht zu bemerken schien.

Tatsächlich nähte die Mutter zu Hause auf ihrer alten „Singer“ für Bekannte, wie sie ihre Kunden bezeichnete und brachte auf diese Art sich und den JUNGEN durch die Jahre des Hungers und der Not. Denn der Vater war aus der Gefangenschaft nicht nach Hause zurückgekehrt. Aus Angst, von den Russen als Nazi nach Sibirien verschleppt zu werden, hatte er dafür gesorgt, in die amerikanische Zone entlassen zu werden. Das wusste der JUNGE von der Mutter. Auch, dass der Vater versprochen hatte, sie beide zu sich zu holen, sobald er sich eingerichtet und etwas aufgebaut hätte. Aber weil er sein Versprechen nicht hielt und die Mutter und ihn, seinen Sohn, noch immer im Stich ließ und tat, als gäbe es beide nicht, musste die Mutter allein für sich und den JUNGEN sorgen. Das hat der MANN nie vergessen und darum nachträglich sowohl die stets eilige Abreise wie auch die Ausrede der Mutter verziehen. Oftmals stand sie aber mit untergeschlagenen Armen wartend am Fenster, als wollte sie sich weitere „Bekannte“ heranschauen. Dann kam es vor, dass die „Singer“ unter ihrer hölzernen Haube blieb und ihr reifes Alter im Ruhestand genoss.

Wenn es ihm auch schwergefallen war, die Großeltern wieder so schnell verlassen zu müssen, so fand er jedoch schnell Gefallen an der Fahrt in den Abend.

Besonders im Winter, wenn die Dunkelheit bereits alles einhüllte, als hätte der Himmlische eine schützende Hülle über Mensch und Landschaft gestülpt.

Der MANN lächelt bei der Erinnerung an die Worte und Sprüche der Großmutter, den Himmlischen betreffend. Zu gern hätte sie den JUNGEN während der Ferien, die er meistens bei den Großeltern verbrachte, mit in die kleine Kirche genommen, wenn sie am Sonntagmorgen zum Gottesdienst ging. Im alten Schmuck der Gegend, langem Rock mit Spitzen, weißer Rüschenbluse, Brusttuch und Haube, stand sie wartend im Flur. Doch längst hatte der Großvater verkündet, dass er den JUNGEN als Handlanger für diese oder jene wichtige Arbeit am oder im Haus brauche. Allein käme er dabei nicht zurecht. Aber gern wolle er fertig sein, wenn der Kirchgang beendet war und die Großmutter heimkehrte.

Das gefiel dem JUNGEN besser, als auf Wunsch der Großmutter dem Himmlischen zu Diensten zu sein. Als er aber wieder einmal der Aufforderung der Großmutter gefolgt war und den ungeübten Chor der Kirchgänger unterstützte, hatte er sich gefreut, dass seine Stimme laut mitschwang, als wäre er das tägliche Singen gewöhnt. Ihm schien es, als wäre seine Stimme die Stütze des ganzen Chores und nahm erfreut den aufmerksamen Blick des Pfarrers wahr. Verwundert hatte er jedoch bald die strafenden Blicke der Banknachbarn sowie der Großmutter bemerkt. War er etwa nicht im Gleichklang mit den Übrigen? Also holte er tief Luft und stieß sie, dabei die Textbuchworte formend und die Melodie intonierend, ungehemmt wieder aus.

Im gleichen Augenblick spürte er den Rippenstoß seines Nachbarn, der seinen Ellenbogen gebraucht hatte, sodass der JUNGE den Text in ein lautes „AU!“ enden ließ. Von nun an schwieg er. Erst nach dem Gottesdienst meinte die Großmutter, dass es wohl besser sei, wenn er beim Gesang schweigen würde. „Du brummst zu laut. Da kommen alle anderen aus dem Text.“

An diesem Abend belauschte er die Großeltern in ihrer kleinen Stube; er hockte hinter der Tür der handtuchschmalen Kammer, in der außer einem Waschhocker und einem Schrank nur das große Bett stand, das die Wände fast zu sprengen drohte. Darin hätte auch die Mutter noch Platz, falls sie wirklich einmal die Zeit für eine Übernachtung finden würde.

„Als wenn er schon Stimmbruch hat, so brummt der Bengel“, beklagte die Großmutter und der JUNGE stellte sich den Großvater vor, der im trüben Lichtschein der Stehlampe neben sich ungestört die Schachpartie des amerikanischen Großmeisters gegen den ebenso bekannten Russen nachspielte.

Wie nahezu jeden Abend. Es schien, als könne er die Strategie der Großmeister niemals erfassen und nachvollziehen.

Der JUNGE hörte ihn etwas antworten, kurz und wie immer schwer zu verstehen. „Wortknauser“ hieß er darum bei der Großmutter, die ebenfalls oft nicht heraushörte, was der Großvater meinte.

„Stimmbruch, habe ich gesagt. Er hat schon den Stimmbruch. Er brummt, wenn er singt. Alle Leute gucken mich dann an, als hätte ich was begangen. Was Schlimmes, meine ich, bloß weil mein Enkel brummt und damit den schönen Chorklang stört.“

Noch einmal schien der Großvater zu antworten.

„Was heißt, dann lass ihn doch hier ... Der Himmlische wird es verzeihen, der ist großmütiger als das Volk in den Kirchenbänken ... Nein, ich will ihn nicht hier lassen ... Ach, das sagst du bloß, weil du nicht allein sein kannst. Der hat doch zwei linke Hände, der Bengel, sagst du doch selbst ... Ach, plötzlich nicht mehr, ist ja ganz was Neues, ist ja das ... Ach, ’ne große Hilfe ist er für dich. Das lass ihn bloß nicht hören, der glaubt das vielleicht noch, der Bengel, glaubt das noch und bildet sich was ein ...“

Der JUNGE hatte genug gehört. Er kroch wieder in das große Bett und versuchte einzuschlafen. Sie hatten ihn gern, die beiden, darum wollte jeder von ihnen, dass er, der Enkel, möglichst lange und oft bei ihnen blieb und am liebsten immer nur bei einem. Deshalb stritten sie. Aber viel lieber als bei Großmutters Himmlischem hielt er sich bei Großvaters „Karnickeln“ auf oder stemmte sich gegen die Leiter, wenn der alte Mann hinaufsteigen musste, um das Dach zu dichten.

Aber nicht immer stimmte, was der Großvater vorgab. Viel öfter holte er Brett und Figuren hervor und bestimmte den JUNGEN auf den Platz ihm gegenüber. Dann nahm er je eine der Figuren, schloss seine Fäuste darum und überließ seinem „Gegner“ die Wahl.

Bei dieser Erinnerung nickt der MANN, als müsse er einem anderen jene Schachkämpfe bestätigen. Sie spielten ohne Uhr, jedoch gegen die Zeit des Kirchgangs. Auf diese Weise hatte der JUNGE schnelle Entscheidungen zu treffen gelernt, was ihm zur Gewohnheit geworden war, es bis heute geblieben ist. Als wäre die ihm verfügbare Zeit stets von der Dauer eines Kirchgangs bemessen.

Das Wort hatte damals in den Ohren des JUNGEN gedröhnt: Stimmbruch. Er hatte es nie zuvor gehört.

Konnte eine Stimme brechen? Wie ein Bein oder der Finger?

Mit dem Vorsatz, nach seiner Heimkehr die Mutter danach zu fragen, schlief er ein.

Aber seitdem hatte ihn die Großmutter nicht wieder aufgefordert, wie alle übrigen ein Gesangbuch vom Stapel zu nehmen, der gleich am Eingang der kleinen Kirche aufgebaut war. Doch auf seine Begleitung hatte sie dennoch nicht verzichten wollen. Davor, dass er die Großmutter bei jedem Kirchgang begleiten musste, schützte ihn jedoch weiterhin der Großvater, der immer zur richtigen Zeit im oder am Haus zu werkeln hatte und auf die Hilfe seines Enkels nicht verzichten konnte. Jedenfalls gab er dies dann vor.

Enttäuscht war die Großmutter allein ihren Kirchweg gegangen, das Gebetbuch als einziges Beiwerk in der Hand. Das unverzichtbare Taschentuch war in den Rüschen ihres Blusenärmels verborgen.

Der Himmlische sehe und merke sich, wer sich ihm zuwende, meinte sie später. Auch, wer sich von ihm abwende und als Gottloser durchs Leben ginge.

Aber niemals war sie böse zu dem JUNGEN und bewies ihm auf diese Weise ihre Lebensart als Gottesfürchtige. Zur Lebensart der Mutter des JUNGEN gehörte es, ihm die „Charakterlosigkeit“ seines Vaters auszumalen, wobei ein Bild in düsteren und misslichen Farben entstand, in dessen Mittelpunkt sich eine finstere Gestalt befand, die der, die er vom einzigen Foto des Vaters kannte, nicht ähnlich war. Es zeigte ihn in der Uniform eines Feldwebels und der JUNGE hatte, wenn vom Vater gesprochen worden war, den merkwürdigen Begriff „Schirrmeister“ aufgeschnappt und sich zuerst vorgestellt, dass der Vater in der Feldküche mit Töpfen und Pfannen beschäftigt sei, was ihm weniger gefährlich erschien, als wenn er eine Kanone bediente. Bis ihn der Großvater aufgeklärt hatte, dass der Vater für die Fahrzeuge des gesamten Standortes zuständig wäre und zu verantworten hätte, dass alle zu jeder Zeit fahrtüchtig und zum Einsatz bereit wären. Das mache der Schirrmeister. Sein Vater.

 

Nun jedoch fuhr der JUNGE nach „Drüben“, wie die Erwachsenen jenen anderen Teil des Landes getauft hatten, seit es in diese vier Zonen aufgeteilt worden war. Allein. Dort, wo er erwartet wurde, war seine Mutter unerwünscht. Er durfte zum ersten Mal Weihnachten bei seinem Vater verbringen, an den er sich nicht erinnern konnte und nur vom Foto kannte, das ihm die Mutter am Morgen in den Strumpf geschoben hatte. Er solle es immer gut versteckt halten, hatte sie gefordert, denn die uniformierten Kontrolleure wären nicht zimperlich, wenn sie das Soldatenbild bei ihm entdecken würden. Der MANN trug es jetzt in seiner Brieftasche. Es war blass geworden und von Rissen gezeichnet und gab nur noch wenig von dem zu erkennen, was es einst deutlich abgebildet hatte. Nach fast vierzigjähriger Trennung konnte der MANN den alten Herrn endlich wiedersehen.

Der JUNGE aber hatte damals den ganzen Tag lang die Stundenschläge der altertümlichen Standuhr in der Zimmerecke gezählt und mittags vor Aufregung nicht schlafen können, nachdem die Mutter darauf bestanden hatte, dass er sich hinlegte.

„Du musst die ganze Nacht fahren“, mahnte sie. Aber gerade darin bestand für den JUNGEN das Abenteuer - zu sehen, wie draußen die Lichter vorüberflogen, und zu wissen, dass in den Städten, durch die sie fuhren, die Erwachsenen längst schliefen, während er im D-Zug durch das nächtliche Land brauste. Durch jenes andere Land sogar, das „Drüben“ hieß und ihm sehr geheimnisvoll erschien. Wo der ehemalige Schirrmeister, dessen Foto seinen Körper berührte, eine Autowerkstatt betrieb.

Die Mutter, die in Eile war, der Zug sich aber verspäten würde, hatte ihn auf dem Bahnsteig in die Nähe einer Frau geführt, die in ihrem groß karierten Mantel auffiel und der Mutter wohl vertrauenswürdig schien. In ihrer Nähe solle er bleiben, sagte sie. Dann war er allein.

Dort, wo neben ihm der Bahnsteig sich nicht mehr unter das schräge Dach zwängen ließ, war der Vortagsschnee entweder vom Wind zusammengetrieben oder von einem Bahnarbeiter aufgeschichtet worden. Wo der JUNGE sich nahe der Karomantelfrau aufgestellt hatte, um auf den Interzonenzug zu warten, waren die schachbrettgroßen Betonplatten trocken und sauber. Vierundsechzig von ihnen würden wiederum ein Schachbrett bilden, und der MANN erinnert sich, dass der JUNGE abzuzählen begann, wo das Schachbrett, das er sich vorstellte, enden würde. Und dann dachte der JUNGE daran, dass er noch vor wenigen Tagen mit dem Großvater vor dem Schachbrett gesessen hatte, weniger lustlos als sonst, obwohl er auch dieses Mal wusste, dass er nicht gewinnen würde. Bei dem Spiel jedoch konnte die Zeit schneller vergehen und sich das Warten auf den Tag der Reise verkürzen, sodass es ihm ausnahmsweise gleichgültig war, wieder der Verlierer zu sein.

Einen geschenkten Sieg, den ihm der gutmütige Großvater einmal zukommen ließ, wollte der JUNGE nicht.

Als spielte es ebenfalls Schach, hüpfte dann plötzlich ganz in seiner Nähe ein dünnes Mädchen von einer Betonplatte zur anderen. Aber es war ein Schach, wie es nur von Mädchen gespielt wurde, die nichts von den strengen Regeln des königlichen Spiels wussten. Böse blickte der JUNGE das Mädchen an, das ihn beim Abzählen der Felder störte. Es war kleiner und jünger als er und trug einen Mantel, der bis an die Knöchel reichte und das Mädchen beim Hüpfen behinderte. Es sah darin aus, als würde es in einem Sack stecken.

„Schwarz, weiß, schwarz, weiß!“, rief es bei jedem Sprung abwechselnd, und der JUNGE blickte dabei auf den dicken Zopf, der unter der Wollmütze hervorkam und auf dem Mädchenrücken hin- und herschwang und für einen Augenblick stellte er sich vor, dass am Ende des Zopfes eine Glocke hinge, die bei jeder der heftigen Bewegungen des Mädchens einen Ton von sich gäbe. Wie die Gehörnte des Großvaters, der Ältesten in der kleinen Ziegenherde, die mit ihrem Geläut den Weg vorgab, dem die anderen zu folgen hatten. Der JUNGE glaubte fast, ihn hören zu können. „Schwarz, weiß, schwarz, weiß!“ Einige Felder vor dem JUNGEN blieb das Mädchen stehen, als wollte es mit seiner ganzen unscheinbaren Größe Schach bieten. „Warum lachst du?“

„Ich?“ Der JUNGE schüttelte den Kopf und sah auf den straff fallenden Zopf, der über der Schulter des Mädchens hing. „Denke gar nicht daran!“

„Und doch lachst du! Ich sehe es ja.“

„Quatsch! Blöde Ziege!“

„Selbst blöd!“ Unbeeindruckt nahm das Mädchen sein Spiel wieder auf, und der JUNGE wandte sich um.

Was hatte er mit der dünnen Zopfschwenkerin zu tun? Wenn sie wenigstens eine Glocke an ihrem Zopf hätte wie die Gehörnte eine an ihrem Hals! Eine Ziege ist sie trotzdem, dachte er und spürte plötzlich, dass er jetzt tatsächlich lachte. Aber das Mädchen hatte es nicht bemerkt.

„Schwarz, weiß, schwarz, weiß!“ Erneut hatte das Mädchen die Nähe des JUNGEN gesucht, blieb stehen und dröselte das Zopfende zu einer Quaste auf.

„Ich fahre nach dem Westen. Mit meiner Tante.“

„Ich auch. Allein. Zu meinem Vater. Der hat eine große Autowerkstatt. Ich kann bis nach Weihnachten bleiben und so viel Schokolade und Bananen essen, wie ich will.“ „Kann ich auch. Mein Onkel ist Klavierspieler. Sie ist seine Schwester.“ Das Mädchen zeigte ungeniert mit ausgestrecktem Finger auf die Frau in dem groß karierten Mantel, neben der zwei große, abgeschabte Fiberkoffer standen, die sie mit prüfenden Blicken bewachte. „Sie nimmt mich mit. Aber schwarz“, sagte das Mädchen leise. „Ich fahre schwarz“, erklärte es und blickte den JUNGEN aus den Augenwinkeln erwartungsvoll an.