Impressum

Herbert Remmel

Von Köln nach Ballinlough

Eine deutsch-irische Nachkriegskindheit

ISBN 978-3-95655-707-1 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-706-4 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Helmut Sander.

 

Das Buch erschien erstmals 2006 im Eigenverlag, 2009 in englischer Sprache.

 

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Ein Wort vorweg

In den Nachmittagsstunden des 27. Juli 1946 legte das aus Liverpool kommende Fährschiff im irischen Hafen Dun Laoghaire an. Ihm entstiegen etwa 60 deutsche Kinder. An diesem Tag begann auch meine »irische Biografie«, die ich aus Anlass der 60. Wiederkehr dieses Tages vornehmlich für meine Kinder niedergeschrieben habe.

Ende des Jahres 1945 rief die Irische Rot-Kreuz-Gesellschaft eine Kinderhilfsaktion ins Leben, die sie Operation Shamrock nannte. Irland wollte deutsche Kinder ins Land holen, die für drei Jahre in irischen Familien leben sollten. Ich gehörte zu den glücklichen Kindern, die diese Reise aus einem darniederliegenden, zerstörten und hungernden Deutschland in ein völlig fremdes und friedvolles Land antreten durften. Die nahezu drei Jahre in Irland zähle ich zu den glücklichsten und interessantesten Jahren meiner Kindheit. Nachdem ich meinen eigenen Kindern und auch meinen Verwandten und Freunden immer wieder bruchstückhaft von meinem Leben unter Iren erzählt habe, wurde ich von allen lange Zeit gedrängt, meine »irische Biografie« zusammenhängend niederzuschreiben. Das habe ich hiermit getan und dabei meine Kindheit vor meinem Irland-Abenteuer mit einbezogen, wobei ich meine damals kindliche Sicht der Ereignisse zu wahren suchte. Den Anspruch, Literatur zu schreiben, hatte ich nicht.

Pinnow im September 2006

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Irischer Rot-Kreuz-Mitarbeiter mit einem deutschen Kind während der Operation Shamrock (Foto: Irish Red Cross Society)

 

An diesem Sommertag waren wir zum Heuwenden in der unteren Wiese gleich am Tawny Lake. Heiß war es, und ich war müde geworden von der eintönigen Arbeit. Die Heuschwaden auf nahezu der halben Wiese hatten Eugene und ich schon gewendet und dabei die schönen geraden Reihen abgemähten Grases mit unseren hölzernen Heuharken stark zerzaust. Die Wiese stieg vom See aus langsam an, und als ich mit meiner Reihe oben angekommen war, machte ich eine Kehrtwendung, um mit der nächsten Schwadreihe seeabwärts zu beginnen.

Während dieser Drehbewegung musste ich ihn im Augenwinkel erfasst haben: den silbernen Punkt am sommerblauen Himmel. Na klar, ein viermotoriger Bomber, Höhe etwa 6000 bis 7000 Meter. Ich behielt diesen Punkt fest im Auge, stützte mich an der Harke etwas ab, ließ mich auf den noch ungewendeten Schwad nieder, lag dann auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick zum Himmel und wartete. Gleich mussten die schwarzen Sprengwolken der Flakgranaten dieses Silberfischchen da oben einrahmen. Im selben Moment aber wurde mir bewusst, dass es hier keine Flak gab und dass der Punkt da oben kein Bombenflugzeug sein konnte.

Seitdem ich hier in Ballinlough im Westen Irlands auf der Farm der Nallys lebte, hatte ich nur selten Gedanken an mein fernes Zuhause in Köln, und wenn, dann war es meist ein äußerer Anstoß, der solche Erinnerungen wach rief. Wie jetzt der silberne Punkt dort oben am Himmel.

 

Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen hatte ich inmitten meiner Spielkameraden trotz des Fliegeralarms oft an der Autobahnböschung in Köln-Höhenhaus gelegen und den Pulks der einfliegenden Bomber zugeschaut. Hunderte Silberfischchen, die schon Minuten vorher durch ein unheimlich tiefes und zitterndes Brummen ihr Erscheinen ankündigten. Unsere Erfahrungen sagten uns, wann die Flakbatterie auf dem nahe gelegen Emberg, die wir stets nur »unsere« Flak nannten, anfangen würde zu schießen. Ebenso wussten wir, dass der Schall der Abschüsse uns eher erreichen würde als die Flakgranaten ihre Ziele am Himmel, und dass wir uns nicht allzu lange nach dem Erscheinen der ersten Sprengwolken unter die Autobahnüberführung Berliner Straße verdrücken mussten, weil dann die gefährlich scharfzackigen Flaksplitter heruntersausen würden. Ja, wir acht-, neun- und zehnjährigen Bengels waren schon erfahrene »Krieger«, zumindest was den Bombenkrieg betraf. Die B17 (den »Viermot«), die Lightning, die Mustang, die Mosquito konnten wir mit vielen technischen Daten herunterbeten und selbst wenn sie sehr hoch flogen noch ansprechen. Die achteckigen Stabbrandbomben bargen für uns kein Geheimnis und die Wirkung einer Luftmine hatten wir gespürt, als in unserer Siedlung Neurath der halbe Wohnblock im Bleicheroder Weg von einer solchen Mine weggesprengt worden war, auch der Nachbarblock in Trümmern lag und die meisten Dächer der anderen Wohnblocks ihre Dachdeckung verloren hatten. Eine andere Luftmine kam am Sandberg herunter ohne zu detonieren. Sie war noch tagelang im Garten des dortigen Gesindehauses als »anglo-amerikanische Terrorwaffe« zur Zwangsbesichtigung freigegeben worden. Ich kann mich noch gut an diese überlange Blechtonne erinnern, die geborsten in einem kleinen Trichter lag und aus der eine grünlich-gelbe Masse quoll. Flaksplitter, Bordwaffenmunition und besonders das Plexiglas der Kanzeln abgeschossener Flugzeuge waren für uns Kinder der Siedlung begehrte Sammel- und Tauschobjekte. Und wer aus einem abgeschossenen Flugzeug etwas demontieren konnte, der war König.

Eines Nachts bohrte sich ein angeschossener englischer Bomber, der seine Bombenlast schon abgeworfen hatte, keine 50 Meter neben der Siedlung auf Höhe des Fäkalienhäuschen (Jauchebüdsche) am Flachsroster Weg in den Boden, etwa dort, wo heute die Kirche Sankt Hedwig steht. Knapp vor dem Aufschlag musste eine Tragfläche abgebrochen sein, die auf einen der Wohnblocks stürzte, wobei der Benzintank explodierte. Noch tagelang erzählten die Erwachsenen vom qualvollen Tod eines Hausbewohners, der lange, lange Zeit im brennenden Haus um Hilfe geschrien habe, unerreichbar für die Männer der Feuerwehr.

Bruder Hans war nach dem Aufschlag des Flugzeugs mit anderen Hausbewohnern aus dem Keller geeilt, wo sich die vier Familien des Aufgangs wegen des Fliegeralarms versammelt hatten. Ich aber musste unter Aufsicht von Cousine Leni im Keller bleiben, hatte Ziegenpeter oder so etwas. Auch am nächsten Tag musste ich das Bett hüten, während sich Hans mit den Spielgefährten am Flugzeugwrack zu schaffen machte. Trotz Bewachung des Wracks durch den Luftschutzwart konnte Hans aus dem Armaturenbrett der Maschine ein uhrähnliches Instrument demontieren, mit dem er triumphierend nach Hause kam. Hans war König und der kleine Bruder voller Neid.

Die Siedlung Neurath

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Wohnblock der Siedlung Neurath in Köln-Höhenhaus

Überhaupt diese Siedlung Neurath im Kölner Vorort Höhenhaus, rechtsrheinisch gelegen, gleich hinter Köln-Mülheim - rheinabwärts gesehen. De schäl Sick, wie die Kölner sagen. Hier wurde ich geboren, im Goslarer Weg Nr. 2, 1. Etage links. Hausgeburt, wie sich das gehörte für eine Arbeiterfamilie im Jahre 1936.

Die Siedlung Neurath war ein Produkt des sozialen Wohnungsbaus in den 1920er Jahren. Ursprünglich als Notunterkünfte mit begrenzter Lebensdauer geplant, entschied man sich letztlich doch für Massivbauten mit Einfachwohnungen. Es entstanden lang gestreckte Wohnblocks mit jeweils acht Eingängen, einfachste Bauweise, zweigeschossig, aber - nach menschlichem Maß. Im Vorfeld hatte man sich nicht gescheut, zwei halbe Wohnblocks als Modelle im Maßstab 1:1 aus Lattengerüst und Pappe aufzubauen; sie müssen wohl den Vorstellungen entsprochen haben. Der Abstand der Wohnblocks voneinander war groß, groß genug für eine Bleichwiese und für die vier Familien des jeweiligen Aufgangs ein paar Quadratmeter Garten, zudem für jede Familie einen Kirschbaum. In der Mansarde jedes Aufgangs befanden sich zwei Zimmer mit Wasseranschluss, aber ohne Toilette. Links und rechts der Bodestraße erstreckten sich die Blocks mit ihren Wohnwegen, jeweils benannt nach einem Ort im Harz. Eingangs der Bodestraße war der Flachbau der »Eintracht« (später Konsum) mit Bäcker, Milchmann, Metzger, und an den Giebelseiten der Wohnblocks befanden sich noch kleine Läden. Die nördliche Wohnblockreihe wurde in der Mitte durch eine große Freifläche unterbrochen, auf der sich Sandkästen zum Spielen und ein Kindergarten befanden; später wurde hier ein Feuerlöschteich angelegt, in dem ich, etwa fünfjährig, beinahe ertrunken wäre. Loni Krupp, ein junges Mädchen aus unserem Block, rettete mich sowohl aus dem Wasser als auch mit Wiederbelebungsübungen, denn das Bewusstsein hatte ich bereits verloren. Angrenzend an den Flachsroster Weg befand sich hier auch eine der beiden »Jauchebuden«, in denen die Fäkalien der Siedlung gesammelt und dann abgepumpt wurden. Die Siedlung Neurath liegt seitwärts der nach Köln-Mülheim führenden Berliner Straße und ist zum einen über die zentrale Bodestraße zu erreichen und zum anderen an der südlichen Seite durch einen schmalen Gartenweg entlang der Schrebergärten an der Autobahn. Der unbefestigte Flachsroster Weg läuft entlang der nördlichen Seite der Siedlung auf den Schönrather Hof zu, direkt an der Giebelseite des Goslarer Weges vorbei, in dem wir wohnten. Die nördliche Seite des Flachsroster Weges wurde damals von Schrebergärten flankiert.

Die Bergische Löwenbrauerei lag etwas abseits der Siedlung an der Berliner Straße, dominierte mit ihrem hohen Schornstein und der Brauerei-Villa Ecke Berliner Straße / Flachsroster Weg die Gegend. Gleich an der Höhenhauser Stadtteilgrenze, aber wohl schon auf Mülheimer Gebiet, lagen die Tropon-Werke, benannt nach dem künstlichen Eiweiß »Tropon«, das hier fabrikmäßig als Nahrungsergänzungsstoff hergestellt wurde.

Die Siedlung Neurath zeichnete sich durch die Schlichtheit ihrer Bauweise ebenso aus wie deren Bewohner durch ihre einfache Lebensweise und - durch ihre nachbarschaftliche Wärme. Einfache Leute waren hier zu Hause, Arbeiter, vornehmlich aus den Köln-Mülheimer Industriebetrieben wie dem Carlswerk, der Kabelfabrik von Felten & Guilleaume, wo auch Vater arbeitete, und den Betrieben Deutz Motoren, Böcking, Liesegang ... Hier in Neurath waren alle nahezu gleich, Dünkel wohl unbekannt. Man teilte sich die Gemeinschaftsbadewanne im Keller ebenso wie die Waschküche und gelegentlich auch Salz, Zucker, Mehl und Brot, die man beim Nachbarn mal kurz auslieh. Hier sprach man ausschließlich Kölsch-Platt; wer es mit Hochdeutsch versuchte, der wurde mitleidig belächelt, denn heraus kam stets nur »Huhdeutsch met Knubbele«.

Arme-Leute-Siedlung wurde Neurath außerhalb oft genannt. Dabei war es das Milieu jener Arbeiterfamilien, die das Glück hatten, den dumpfen Hinterhöfen der Stadt hier nach Neurath entronnen zu sein. Neben der Drei-Zimmer-Wohnung inklusive Wohnküche, eingebauter Speisekammer und Innentoilette gab es hier saubere Luft und Licht. Deswegen und wegen der offenen Landschaft rundum hatten Vater und Mutter um die Einweisung in eine dieser Wohnungen gekämpft. Ihre Kinder sollten in gesunder Umgebung aufwachsen.

Mutter und Vater, Oma und Opa

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Mutter mit ihrer Mutter, Oma Groß

Mutter wurde als jüngstes Kind einer Angestelltenfamilie am 20. April 1906 in Daun, Eifel, geboren. Sie hatte noch fünf Geschwister, vier Schwestern und einen Bruder. Meine Dauner Großeltern habe ich nie kennengelernt. Opa Franz Groß war im Ersten Weltkrieg Soldat an der Ostfront, wurde bei 25 Grad Minus während eines Artillerie-Angriffs in einem Schützengraben verschüttet und erst nach mehreren Stunden geborgen. Als Kriegsinvalide entlassen, erholte er sich nie wieder von den erlittenen Verletzungen und starb noch vor Kriegsende. Vordem war er Arbeiter, hatte sich jedoch hochgearbeitet und war zuletzt angestellter Brunnenmeister bei der Mineralwasser-Firma Gerolstein. Nachdem auch die Dauner Oma Anfang der 1920er Jahre gestorben war, gab es für Mutter in Daun kein Halten mehr und sie folgte ihren beiden Schwestern Barbara (Tante Bäb) und Hedwig (Tante Hed) nach Köln. Ihre beiden anderen Schwestern, meine Tanten Dina und Maria, hatten Amerikaner geheiratet, die nach Ende des Ersten Weltkriegs kurzzeitig als Besatzungssoldaten in der Eifel stationiert waren. Mit ihnen zogen sie in die USA. Mutters Bruder Nikolaus (Onkel Klöös) hatte im Kölner Braunkohlerevier Arbeit gefunden. Mutter besuchte in Daun die Volksschule, fand dort jedoch weder eine Lehrstelle noch hatte sie, ebenso wie ihre Geschwister, aufgrund der häuslichen Verhältnisse eine Chance auf Weiterbildung. In Köln arbeitete sie in der Kabelfabrik von Felten & Guilleaume als Arbeiterin in der Kabelfertigung.

Vater stammt ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie und wurde am 15. September 1904 in Köln-Mülheim geboren. Vater hatte noch zwei Geschwister, Tante Grete und Onkel Willi; zwei weitere Brüder starben jeweils im ersten Lebensjahr. Vaters Eltern, meine Oma Gertrud (geb. 1875) und mein Opa Johann (geb. 1871), stammten ebenfalls aus bescheidenen Verhältnissen. Omas Vater, Johann Eudenbach, war Schuhmacher in Refrath bei Köln; Opas Vater Tagelöhner in Schweinheim, ein inzwischen nach Köln-Dellbrück eingemeindetes Dorf. Oma war als Hausmädchen und später bis zu ihrer Heirat als Köchin in »herrschaftlichen« Häusern tätig. Opas Vater starb früh und Opas Mutter, meine Urgroßmutter, die dem familiären Gemunkel nach an Religionswahn litt, hatte für meinen Opa den Beruf eines katholischen Priesters vorgesehen.

Dementsprechend hielt sie ihn fern von den Sünden dieser Welt und möglichst auch vom Besuch der Schule. Noch vor seiner Volljährigkeit büxte Opa Johann von zu Hause aus nach Köln und arbeitete u. a. in der Motorenfabrik in Köln-Deutz als Gussputzer. Opa war aufgrund der ihm vorenthaltenen Schulbildung nahezu Analphabet. Er schloss sich noch vor seinem 20. Geburtstag der Sozialdemokratie an, besuchte fleißig die von den Sozialdemokraten initiierten Arbeiter-Bildungsvereine, lernte dort nicht nur Lesen und Schreiben sondern eignete sich ein ganz beachtliches Wissen an. Als die Sozialdemokraten 1914 im Reichstag den Kriegskrediten zustimmten, verließ Opa Johann ob dieses Verrats an den Idealen der Sozialdemokratie unter lautstarkem Protest die Partei, um nie wieder einzutreten. Opa Johann wurde irgendwann um 1890 zum Militär eingezogen und in der Kürassier-Kaserne in Köln-Deutz stationiert. Obwohl er stolz war, in der Kaserne zu weilen, in der August Bebel geboren worden war, hasste er das preußische Militär wie die Pest. Sorgsam züchtete er sich mit Rasiermesser und Nikotinbrühe einen Furunkel am Nacken, dessen permanente »Blühdauer« zu seiner Entlassung vom Militär führte.

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Goldene Hochzeit von Oma und Opa Remmel 1949

Oma und Opa Remmel waren uns Kindern gute und vor allem lustige Großeltern; mit Opa konnte man Pferde stehlen, und er war voller Lebensweisheiten und Sprüchen: »Seit der Tod aufgekommen ist, ist man seines Lebens nicht sicher. Gebt acht, wenn Pfaffen, die gerade mal zwischen Köln und Stammheim in den Rhein gepisst haben, in die Politik gehen.«

Vater hatte auch nur die Volksschule in Köln-Mülheim besucht und ebenso wie sein Vater eignete er sich in Abendschulen eine umfassende Bildung an. Unter anderem war Vater Esperantist und Mitglied im Arbeiter-Esperanto-Bund. Ende der 1920er Jahre nahm Vater am Internationalen Arbeiter-Esperanto-Treffen in London teil. Er war der erste in der Familie, der ins Ausland reiste. Vater war zudem ein leidenschaftlicher Radio-Hörer, und er erzählte immer wieder, dass er sich von seinem ersten Lohn einen Empfänger kaufte, damals noch ein einfaches Quarzgerät. Später hatte er ein tolles Gerät seiner Lieblingsmarke Loewe-Opta. Ich erinnere mich des magischen Auges dieses Radios, das bei der Feineinstellung der Sender fächerartig grün aufleuchtete bzw. in sich zusammenfiel. Einen Beruf hatte Vater nicht erlernt. Er arbeitete als Gelegenheitsarbeiter in den AKLA-Lederwerken in Köln-Bucheim und auf dem Bau. Etwa von 1926 an war er zuerst Lagerarbeiter und dann Ausfahrer bei der Lebensmittelgroßhandlung Schmitz in Köln-Dellbrück.

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Vater (r.) als Ausfahrer bei der Lebensmittelgroßhandlung Schmitz, Köln Dellbrück

Vater erzählte gerne von dieser Zeit und davon, wie er als Ausfahrer auf einem damals »schweren« Dreitonner-Lkw, der auf der Plane den großen Werbezug »Frauentrost Kaffee« trug, Waren ins Bergische Land ausgefahren hat. 1933 wurde der Firmenbesitzer Schmitz von den Nazis gezwungen, Vater aufgrund dessen Zugehörigkeit zur KPD zu entlassen. Vater fand dann Arbeit ebenfalls bei Felten & Guilleaume in Köln-Mülheim.

Frühzeitig wurden Vater und seine beiden Geschwister politisiert, vermutlich durch Opa, sicher aber durch die Zeit der Weimarer Republik, in die sie hineinwuchsen. 1922 trat Vater in den Kommunistischen Jugendverband (KJVD) ein und 1925 in die KPD. Ebenfalls Mitglied in diesen Organisationen waren seine Schwester Gertrud (Tante Gret) und sein Bruder Willi. Als die Partei 1933 in die Illegalität gehen musste, übernahm Vater die Funktion eines Emigranten-Versorgers. Seine Aufgabe bestand anfänglich darin, Genossen der Partei, die in der Illegalität lebten und von der Gestapo gesucht wurden, zu betreuen und ihnen behilflich zu sein, Deutschland über die Grüne Grenze zu verlassen. Später, als die antifaschistische Arbeit nur in kleinen Dreiergruppen durchgeführt wurde, brachte Vater gemeinsam mit seinem Freund Heinrich Dachtier, der ein schweres amerikanisches Motorrad Marke Indian besaß, die Emigranten in dessen Beiwagen selbst zur Grünen Grenze bei Belgien und Holland und brachte diese dort in Sicherheit.

Zu der Zeit halfen sie nicht nur mehr ihren kommunistischen Genossen, sondern auch Personen in Not, die aus Nazi-Deutschland aus politischen oder rassischen Gründen flüchten mussten, darunter auch Juden. Auch seinem eigenen Bruder, meinem Onkel Willi, konnte er helfen, 1935 nach Holland zu emigrieren. Onkel Willi ging 1936 aus dieser Emigration heraus als Freiwilliger nach Spanien und kämpfte (dreimal verwundet) im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der legalen Republik in den Internationalen Brigaden (Ernst-Thälmann-Bataillon) gegen die faschistischen Franco-Putschisten und ihre nazideutschen Helfer der Legion Condor. Von 1939 bis April 1945 litt Onkel Willi in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Mauthausen, wo er von der Roten Armee befreit wurde.

Am 9. Dezember 1933 heirateten Vater und Mutter. Obwohl beide in dem gleichen Betrieb arbeiteten, lernten sich Vater und Mutter am Büüdsche (Kiosk) gegenüber der Einmündung Keupstraße in die Gladbacher Straße in Köln-Mülheim kennen. Noch 1997 zeigte mir Mutter die Stelle und erzählte die rührende Geschichte ihres Kennenlernens. Das Büüdsche steht übrigens heute noch dort.

1935 wurde mein Bruder Hans geboren, und noch im gleichen Jahr gelang es meinen Eltern, eine Wohnung in der Siedlung Neurath in Köln-Höhenhaus zugewiesen zu bekommen. Besonders Vater gefiel die neue Umgebung, war er doch hier unter Freunden und Genossen.

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Mit Mutter

Diesem Arbeitermilieu in Neurath rückten die Nazis gleich nach ihrer Machtergreifung zu Leibe, lebten hier doch zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, weshalb Neurath auch die »Rote Siedlung« oder aber »Klein-Moskau« genannt wurde. Später erzählte mir Vater, wie die Nazis kurz nach der Machtergreifung die Siedlung stürmten, die Bodestraße absperrten, alle bekannten Sozialdemokraten und Kommunisten scharenweise aus den Häusern holten und nach Deutz ins Messegelände (dem späteren KZ-Außenlager) oder ins Kölner El-De-Haus brachten, dem Sitz der Gestapo (Geheime Staatspolizei). Die meisten kehrten nach Verhören und oft auch Folterungen nach Tagen, manchmal Wochen und Monaten zurück zu ihren Familien. Manche kamen nie wieder. Von drei Widerstandskämpfern auf der Flucht wurde immer wieder erzählt, die sich im Keller einer der Wohnblocks versteckt hatten und verraten wurden. Stundenlang soll die Belagerung durch die Nazi-Polizei gedauert haben. Bei einem der Schusswechsel verlor ein Polizeioffizier sein Leben. Daraufhin sei der Keller gestürmt und die drei Widerstandsleute niedergemacht worden, woraufhin man deren zerschossene Leiber längere Zeit auf dem Bürgersteig der Bodestraße zur Abschreckung habe liegen lassen.

Spiele mit Knuutse und Staniolstreifen

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Reitersmann

Noch lange nachdem Höhenhaus 1914 nach Köln eingemeindet worden war, nutzten drei Gutshöfe das Areal westlich der Berliner Straße als Acker- und Weideflächen. Dort hinein baute die Gemeinnützige Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (GAG) in den Jahren 1931/32 die Siedlung Neurath, benannt nach dem alten Gutshof Neurath, der heute völlig verschwunden ist. Gut Schönrath lag gleich hinter der Siedlung, von dieser nur durch den Sandberg, die Eisenbahnlinie Köln-Mülheim-Düsseldorf und eine Pferdekoppel getrennt. Die Familie Litz, europaweit bekannt durch ihre Kaltblut-Pferdezucht, besaß seit Generationen dieses Gut, weshalb es stets nur »dä Litze Hoff« genannt wurde. Zum Gut gehörte ein angrenzender Wald mit mächtigen, uralten Bäumen - »Litze Bösch« genannt. Der Litze Bösch war 1935 durch die Trasse der Reichsautobahn (heute A1) zerschnitten worden, und zur Einweihung dieses ersten Autobahn-Teilstücks war Adolf Hitler persönlich erschienen, worauf sich in Neurath aber niemand etwas einbildete. Der Rodderhof lag auch auf der Höhenhauser Gemarkung in Richtung Emberg, aber mitten im Ackerland, für uns Kinder folglich uninteressant.

Der Litze Bösch, der Sandberg, der unmittelbar anschließende Bahnübergang des Flachsroster Weges mit Bahnwärterhäuschen und Läutewerk und die damals nur halbfertige Autobahnabfahrt Köln-Mülheim waren meine bevorzugten Spielwiesen, wenn ich mit meinen Spielkameraden nicht gerade in der Siedlung selbst herumtobte. Dann war da noch, gleich neben dem Tropon-Werk, das Fort XI b, das zum 1870 gebauten Befestigungsgürtel um Köln gehörte. Eigentlich nur eine Kehlkaserne als Zwischenwerk, aber ein abenteuerlicher Spielplatz. Das Vorgelände dieser Kehlkaserne war in den 1920er Jahren im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu einer Parkanlage umgestaltet worden. Hier befand sich auch die Endstelle (Schleife) der Straßenbahnlinie 2.

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Mit Vater

An Spielen und Spielideen mangelte es uns Kindern nicht. Beliebt war »Knuutse« oder »Ömmern« (beides für Murmeln), wozu mit dem Schuhabsatz ein »Küla«, eine kleine Kuhle in den Boden gedreht wurde, in die man die schönen bunten Glasmurmeln aus einer festgelegten Entfernung »schibbele« musste. Alte, speichenlose Fahrradfelgen wurden mit einem Stock und unter großem Lärm durch die Siedlung getrieben. Im Herbst bastelten wir Räucherbüchsen - durchlöcherte und mit einer Drahtschlinge versehene Konservendosen. Mit Laub gefüllt, angezündet und anhand der Drahtschlinge herumgewirbelt, hüllten wir so manchen Wohnweg der Siedlung in dichten Qualm. Großer Spektakel der Hausfrauen, wenn bei diesen Räucher-Aktionen, diesem »Ussröschere«, die gute Weißwäsche auf der Bleiche lag.

Die Wohnwege der Siedlung wurden damals von Maulbeerhecken eingefasst, in denen dicke fette, wunderschön grün schimmernde wulstige Seidenraupen lebten, an deren hinteren Ende sich ein großer, nach vorn gebogener Stachel befand. Nahezu alle Spielgefährten hatten kleine, mit Maulbeerblättern ausgelegte Kisten, Kartons oder sonst was, in denen jeder »seine« Seidenraupe verwahrte. Wie groß war meine Überraschung und auch Verzweiflung, als eines Tages meine Seidenraupe aus der verschlossenen, nur mit kleinen Luftlöchern versehenen Zigarrenkiste verschwunden war. Als ich unter Tränen meinem Vater diese Tragik berichtete, klärte der mich auf: Die Raupe hatte sich verpuppt, und ich hatte das Gespinst, das irgendwo unter den Blättern in einer Ecke der Kiste lag, nicht beachtet.

Landabstechen ging schon in eine martialischere Spielrichtung: Mit Messern, Dolchen und auch Schraubenziehern mussten auf dem Boden eingezeichnete Kreise durch »Brückenabstechen« erobert werden, wodurch sich unter den Kindern perfekte Messerwerfer herausbildeten. Immer wieder aber wurde Kriegszeug in die Spiele integriert. Beim Anfertigen von Katapulten (Forcke) etwa bewährten sich als Zuggummis die in schmale, lange Streifen geschnittenen Schläuche der Flugzeugreifen abgeschossener Bomber. Die zur Täuschung des deutschen Radars abgeworfenen Staniolstreifen ließen sich als schön glitzernder Indianerschmuck verwenden, und der »Fortschritt« im Luftkrieg bescherte uns Kindern erste Erfahrungen in der Seefahrt: Als nämlich die amerikanischen Mustang-Jagdflugzeuge die Bomberpulks zu deren Schutz bis tief in das Reichsgebiet begleiten konnten, warfen die ihre leer geflogenen Außentanks einfach ab. Mancher Vater oder aber auch größere Jungs schnitten mit Blechscheren viereckige oder runde Sitzöffnungen in diese der Rohstoffablieferung entgangenen, aerodynamisch geformten Aluminiumbehälter und fertig war das Kanu. Allerdings mussten wir Kinder in der Praxis - in einem riesigen mit Grundwasser voll gelaufenen Bombentrichter - erfahren, dass die Dinger nicht zu handhaben waren und zum Überrollen neigten. Am Boden mit Sandsäcken als Ballast beschwert, ließen sich dann aber die ungewollten und gefährlichen Eskimo-Rollen meistens vermeiden. Natürlich spielten wir am Sandberg auch »richtig« Krieg mit Stöcken als Gewehre und Konservendosen als Handgranaten. Einen echten Helm der Franzosen hatte Hans irgendwo aufgetrieben und mit dem auf dem Kopf war einer von uns Stoßtruppführer. An der Eisenbahnlinie brach unser Stoßtrupp unter »feindlichem Feuer« zusammen und wir wurden schwer verwundet. Unsere Sanitäterrinnen mussten uns verbinden und bemuttern. Als die aber vornehmlich Unterleibsverwundungen forderten und begeistert unsere Hosen aufknöpften, wurden wir stutzig. Im Zuge der Gleichberechtigung schickten wir dann auch mal eine oder zwei Soldatinnen ins gegnerische Feuer, und nun gewährte uns unser Einsatz als freiwillige Sanitäter tiefe Einblicke.

Was aber waren diese Kinderspiele gegenüber den »Kriegsspielen« der Erwachsenen am Himmel und auf der Erde, deren Gefährlichkeit nur langsam in unser Bewusstsein drang. Vorerst war alles nur interessant, abenteuerlich und aufregend.

Der Neurather Bunker

Mit zu meinen fest eingeprägten Erinnerungen zählt der Bau des Hochbunkers am Ende der Bodestraße. Das muss im Winter 1941/42 gewesen sein, da war ich fünf Jahre alt. Das »Führersofortprogramm« zum Bunkerbau war im Oktober 1940 erlassen worden. Unser Opa war Wachmann auf der Baustelle dieses Bunkers, denn Opa war zu dieser Zeit Angestellter der Wach- und Schließgesellschaft, trug eine dunkelblaue Uniform und eine Mütze mit zwei gekreuzten Schlüsseln anstelle einer Kokarde und am Koppel eine riesige Pistolentasche mit Inhalt. Oma und Opa wohnten im Goslarer Weg 2 in der Mansardenwohnung über uns. Wenn Opa gut drauf war und Oma erschrecken wollte, dann zog er zu Hause hin und wieder diese riesengroße Pistole, wohl eine Parabellum, und fuchtelte damit herum, wobei Oma jedes Mal kreischend schrie: »Johann, hür op dornet, dat es doch jefährlisch!« Opa aber zwinkerte seinen Enkelsöhnen vertraulich zu, wir nämlich wussten von ihm, dass er zur Pistole gar keine scharfen, sondern nur Platzpatronen hatte. Opa jedenfalls saß mit Einbruch der Dämmerung (wegen der Fliegergefahr durfte am Bunker nicht unter Flutlicht gearbeitet werden) in seiner Wachhütte auf der Bunker-Baustelle. Das von den Arbeitern hinterlassene Koksfeuer in einem eisernen Gitterkorb ließ er noch einige Zeit brennen. Wir Kinder durften dann herumliegendes Moniereisen im Feuer glühend machen und in den Schnee stecken, was so wunderbar zischte.

Als im Mai 1942 der erste Großangriff auf Köln stattfand - der erste 1000-Bomber-Angriff auf eine deutsche Stadt überhaupt - war der Bunker gerade fertig geworden, provisorisch noch, denn um hineinzugelangen, musste man über eine Holzrampe steigen. Als wir nach dem Angriff und der Entwarnung den Bunker verlassen konnten, wirbelte überall Papier vom Himmel. Ich erinnere mich, dass Mutter ein solches Papier (die Rechnung einer Ehrenfelder Firma) aufhob und sagte: »Ach, du leever Jott, dat kütt us Ihrefeld.« Die über dem Kölner Flammeninferno aufsteigende Heißluft hatte das Papier von Köln-Ehrenfeld bis in das etwa zwölf Kilometer (Luftlinie) entfernte Höhenhaus getragen. Überhaupt dieser Bunker: Über Jahre war er so etwas wie das zweite Zuhause der Familien nicht nur der Siedlung Neurath, sondern später auch von ausgebombten Familien aus Köln, besonders aber aus Mülheim. Auch in unserer Familie hatten wir alle ein persönliches Alarm-Köfferchen oder einen geschnürten Karton mit den notwendigsten Utensilien, der griffbereit neben dem Bett lag. Wenn dann in der Nacht der schrille an- und abschwellende Ton der Sirene Fliegeralarm gab, krochen wir aus den Betten, zogen uns noch völlig verschlafen an und eilten hinaus in die wegen des Verdunklungsbefehls stockfinstere Nacht zum Bunker. Die eigenartige Atmosphäre auf den Wohnwegen und in der Bodestraße ist mir unvergesslich: Hunderte Menschen liefen, stolperten und tasteten sich über die Straße, es wurde leise geschimpft, geflucht aber auch gelacht. Etwa wenn man unbeabsichtigt mit jemanden zusammenstieß. »Ach, du leever Jott, Frau Trimborn, Sie sin dat.« »Jo, Frau Remmel, et nächste mol klääv ich mr e Katzeoog an minge Fott.« Eines Nachts hatten wir den Vor- und Vollalarm wohl verschlafen und kamen zu spät aus den Federn. Als wir dann zum Bunker liefen, da brummten schon die Bomber über uns und die bellenden Abschüsse der Flak gaben ihren Ton dazu. Vor dem Bunker blieben wir wie gebannt stehen und schauten über die Schrebergärten hinweg zum Emberg, von wo aus die Kegel der Suchscheinwerfer die Spitze des Bomberpulks erfasst hatten und von wo aus »unsere« Flak aus allen Rohren wütend Sperrfeuer schoss. Meterlange Feuerschlangen spuckten die Rohre bei jedem Schuss aus und tauchten die Gegend für Sekundenbruchteile in ein faszinierendes Licht. Wir hatten noch Glück, dass der Bunkerwart gerade im Begriff war, die große Stahltür des Bunkers zu schließen, uns dennoch unter Beschimpfungen hineinließ. Ansonsten galt die eiserne Regel: Ist die Tür bei Vollalarm einmal geschlossen, wird sie nicht mehr geöffnet, selbst wenn draußen verzweifelte Schutzsuchende panikartig gegen die Tür hämmern. Schaurig schön auch die »Christbäume«, die oft bei nächtlichen Alarmen minutenlang über Köln schwebten und den Bombenschützen das Zielareal markierten, in das sie ihre Bomben zu werfen hatten.

Im Bunker teilten wir mit anderen eine fensterlose Zelle mit mehreren hölzernen Doppelstockbetten, die kaum Platz zum Stehen ließen. Die Luft darin war schlecht, es roch nach den Ausdünstungen des Betons und der Menschen.

Nach kurzer Zeit war der Bunker verwanzt, und zum bereits gewohnten Geruch kam der der Kammerjäger, die regelmäßig die Zellen vergasten - ohne Erfolg. Letztlich griff man zum radikalsten Mittel: Alle Holzbetten wurden hinausgeschafft und vor dem Bunker verbrannt. Kurz nur war die Linderung, ging dann mal das Licht an, dann bewegten sich wieder Wanzenkolonnen entlang der Bettpfosten. Wanzenknacken war angesagt. Sie stanken furchtbar, und die Wanzenstiche wuchsen sich stets zu großen Placken aus. Im Bunker, der bei Fliegeralarm zumindest alle Einwohner der Siedlung beherbergte, herrschte in den Gängen, im Vorraum und auf den Treppen reges und lautes Treiben. Kinder tobten schreiend durch die Gänge, Erwachsene schimpften und manch nachbarschaftlicher Streit wurde hier fortgesetzt. Kam es während des Fliegeralarms zu Abwürfen, ob in Köln, in Mülheim oder auch mal in Höhenhaus, dann hatte die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) oft noch vor der Entwarnung in der Wendeschleife der Bodestraße lange Tische aufgebaut, mit Brotschnitten beladen, die fingerdick mit Butter bestrichen und mit Wurst belegt waren. Dazu oft auch »echten« Bohnenkaffee, richtiger Kaffee also, kein Muckefuck, wie der Ersatzkaffee aus Zichorien oder Gerste genannt wurde. Man konnte sich nehmen, kostenlos. Die Moral der Leute musste aufrechterhalten werden. Diese Fettlebe hielt jedoch nicht lange an.

Bruder Hans vermag sich an ein weiteres Erlebnis im Neurather Bunker zu erinnern: Im Jahre 1944 hatte es Mutters Schwester, Tante Hed (Hedwig), die in der Köln-Mülheimer Altstadt in der Bachstraße wohnte, es dort nicht mehr ausgehalten. Die hoch gefährdete Bachstraße befand sich nur wenige hundert Meter von der Auffahrt zur Mülheimer Rheinbrücke entfernt, die zunehmend Ziel auch von Einzelangriffen wurde. Tante Hed war daraufhin mit ihren Töchtern Betty und Leni sozusagen in ihre »Zweitwohnung«, in den Neurather Bunker gezogen. Ihr Ehemann, Onkel Hans, und Sohn Lud (Ludwig) blieben in der Bachstraße. Am 14./15. Oktober 1944 erfolgte nach vielen vorherigen ein weiterer Luftangriff auf Köln-Mülheim, den die Bomberflotte nahezu im Tiefangriff ausführte, die Luftabwehr war zu dieser Zeit schon machtlos. Onkel Hans und Ludwig überlebten halb verschüttet im Keller in der Bachstraße den Angriff, wobei Onkel Hans erblindete, zeitweilig, wie sich zum Glück später herausstellte. Nach dem Angriff schleppten sich beide nach Neurath in den Bunker. Onkel Hans an der Hand von Lud, der den Vater durch das flammende Inferno von Köln-Mülheim mehr trug als führte. Bruder Hans erinnert sich: »Plötzlich ging bei uns im Bunker die Zellentür auf und dort standen Onkel Hans und Lud. Einige Sekunden lang starrten wir sie an, und zu aller Tragik und zu allem Leid der beiden dann brüllendes Gelächter. Beide sahen aus wie Wurzelmänner vom Köhlerhof: Die Kleidung hing ihnen in Fetzen herunter, versengt und angebrannt; rabenschwarz die Gesichter, aber vom Staub grau überpudert; die angesengten, ebenfalls grau überpuderten Haare standen hoch zu Berge, Farbe hatten nur ihre Lippen. Onkel Hans zudem mit geschlossenen Augen und einen alten Sack mit den Habseligkeiten der Familie auf der Schulter. Der >Spaß< war schnell vorbei und beiden wurde natürlich geholfen. Onkel Hans erlangte nach Wochen sein Augenlicht wieder.«

Der Angriff vom 14. 15.10.1944 kostete in Köln-Mülheim 543 Menschen das Leben, 87 blieben vermisst. 2239 Wohnhäuser waren total zerstört, über 8500 Menschen obdachlos. Köln-Mülheims Altstadt war ausgelöscht, die wunderschöne, hellgrün gestrichene Mülheimer Hängebrücke nun endgültig zerstört.

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Privatevakuierung nach Hindenburg, Oberschlesien

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Mit Leni (rechts) und Tante Bäb (Mitte) in Hindenburg/Oberschlesien

 

Der erste Großangriff auf Köln im Mai 1942 brachte für mich und Hans eine einschneidende Veränderung. Mutter und Vater, beide berufstätig, wollten ihre beiden von der Oma tagsüber betreuten Söhne aus der Gefahrenzone bringen.