Impressum

Alexander Kröger

Chimären

Roman

 

ISBN 978-3-95655-652-4 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2002 im Krögervertrieb Cottbus.

 

© 2016 EDITION digital®
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1. Kapitel

Obwohl er zur nicht geringen Freude seiner Mitarbeiter entgegen seiner Gewohnheit beinahe eine Stunde vor dem allgemeinen Dienstschluss das Institut verlassen hatte, begab sich Dr. Uwe Lehmann nicht auf den Heimweg. Inge würde ohnehin mit den Kindern noch nicht zu Hause sein; aber das war keineswegs der Grund seines merkwürdigen Verhaltens, zu dem auch gehörte, dass er seinem Chauffeur freigegeben, den Wagen auf dem Institutsparkplatz stehen gelassen hatte und zu Fuß dem Stadtzentrum zustrebte. Seine seit Stunden wirren Gedanken machten ihn an diesem Tag umtriebig, konfus, über alle Maßen erregt und unentschlossen. Obendrein mischten sich in das Chaos seiner Gefühle Freude und Stolz und eine Ahnung von Großem, vage noch und ungerichtet.

Die Stadt spie, wie täglich um diese Zeit, eine Vielzahl ihrer Bewohner auf die Straße.

Lehmann wandelte ziellos, kaum darauf bedacht, den Eilenden und Bummelnden auszuweichen. In seinem Kopf rotierte ein Kreisel wie eine nostalgische, fehlerhafte Schallplatte, die stereotyp die primitive Frage wiederholte: ,Wie weiter, wo liegt die Chance, die Chance für mich?’

Der sommerliche Spätnachmittag ließ sich frisch an; der Wind blies böig scharf. Dennoch wallte in Lehmann wechselnde Hitze. Mechanisch öffnete er das Jackett. Und erst als die kalte Luft im empfindlichen Rachen unangenehm kratzte, nahm er peu à peu seine Umgebung wahr. An einer Auslage, die eine Unmenge Schuhe präsentierte, blieb er stehen, ohne die angeblichen, in Schlagzeilen gepriesenen Vorteile der farbenfrohen Fußbekleidungen wahrzunehmen. Erst als seine heiße Stirn die kühle Glasscheibe berührte, fand er endgültig in den Alltag zurück.

Langsam schritt Uwe Lehmann weiter, bemüht, niemanden anzurempeln. Dann sah er das oben über den Fußweg ragende Reklameschild seiner Biermarke.

Er betrat die Gaststätte, einen durch eine dreiviertelwandhohe Holztäfelung düster wirkenden Raum, in dem er zu diesem Zeitpunkt der einzige Gast war. Er wählte einen Tisch mit Blick aus dem Fenster, schaute auf die draußen vorbeieilenden Passanten, ohne wirklich etwas zu fixieren, und wieder begann sich der Kreisel in seinem Kopf zu drehen, sodass er ein wenig erschrak, als der beleibte, schmuddelig gekleidete Wirt nach seinem Begehr fragte.

Lehmann bestellte ein großes Bier, blickte zu dem Mann hinter dem Tresen, ohne ihn eigentlich wahrzunehmen. Als dieser ihm den gläsernen Humpen mit einem „Wohl bekomms“ heftig auf den eichenen Tisch gesetzt hatte, nahm er das Gefäß mit beiden Händen, hob es an und trank es zu einem Drittel leer. Er wischte mit dem Handrücken über den Mund und lehnte sich zurück. Langsam begannen sich seine Gedanken zu ordnen. -

 

Träfe man Dr. Lehmann außerhalb seines Reiches, hielte man ihn für einen jener Dutzendmenschen, einen Eisenbahner, Bandarbeiter, Versicherungsagenten, einen angestellten Programmierer vielleicht, keineswegs aber für ein Genie, eines, dem es vergönnt sein sollte, den Hebel der Schöpfung in einen anderen, einen schnelleren Gang zu legen.

Mittlerer Wuchs, kleiner Bauchansatz, leichte O-Beine, ein runder Kopf mit schütterem Haar - Merkmale, die ihn in nichts von Hunderttausenden unterschieden. Aber seinen flinken, grauen Augen entging kaum etwas, und mit scharfem Verstand pflegte er anderen, Widersachern wie Gleichgesinnten, im Denken und Entscheiden Längen voraus zu sein, sodass seine Erfindergabe auf einen exzellenten, glasharten und skrupellosen Geschäftssinn stieß. Und obwohl man ihm den Familienmenschen nachsagte - sein Privadeben hielt er bedeckt -, gab er sich als unbarmherzigen, kalten und autarken Vorgesetzten, der das Letzte aus den ihm Unterstellten herauspresste.

Keines von diesen Merkmalen war an diesem Mittwoch in dem Bier trinkenden Mann namens Lehmann geblieben.

,Was für ein Tag!’, dachte er verwundert. ,Da ärgert man sich schon beim Frühstück über den Lümmel Stephan, der einem noch in aller Eile und Hoffnung, man erfasse deshalb nur oberflächlich, die miserable Mathematikarbeit zur Unterschrift vorlegt, gerät natürlich in einen Stau, kommt zum ersten Termin zu spät, und dann widerfährt einem so etwas!’ -

 

Uwe Lehmann entstammte einer mittelständischen Familie. Die Großeltern väterlicherseits, nachkriegsgebeutelte Umsiedler, schufen mühsam die Voraussetzungen, dass Uwes Vater ein Hochschulstudium erfolgreich abschließen, die kleine Familie gründen und dem Sohn Uwe sowie seiner um zwei Jahre jüngeren Schwester eine sorgenfreie Jugend und eine solide Ausbildung ermöglichen konnte. Wie viele Menschen, die sich von der Natur benachteiligt glauben - Uwe war von mittlerem, eher kleinem Wuchs, neigte zur Korpulenz -, entwickelte er bereits als Schüler einen egozentrisch gesteuerten Ehrgeiz, der zu hervorragenden Leistungen, aber nicht zu freundschaftlichen Beziehungen in seinem sozialen Umfeld führte. Diese Art, sich zu geben, setzte er während seines Mikrobiologie-Studiums fort. Er jobbte nebenbei in einem Tierheim, wurde seiner hervorragenden Leistungen wegen beizeiten Hilfsassistent, promovierte nach dem Studium in auffallend kurzer Zeit mit einem Ergebnis, das die Fachwelt aufhorchen ließ: Er schuf die gentechnischen Voraussetzungen zur fortpflanzungsfähigen Verquickung der Tomate mit der Kartoffel. Die neue Pflanze wurde unter der Markenbezeichnung Tomoffel bekannt. Er gründete nach drei Jahren weiterer erfolgreicher Arbeit in einem Ingenieurbüro für Biotechnik sein eigenes Institut, das Institut für Anthropomorphische Anwendungen. Als fachliche Sensation ließ er sich ein Verfahren patentieren, das die Unverträglichkeit zwischen gewissen Fremdgenen in der zweiten und dritten Stufe zu verhindern gestattete. Menschen mit implantierten Organen - auch wenn diese Tieren entnommen waren - erfreuten sich dadurch bester Überlebenschancen. Die kommerziell-clevere Ausbeute dieser Erfindung bildete die finanzielle Grundlage zum Ausbau des Instituts mit seinen Niederlassungen. Lehmann warb weltweit exzellente, ehrgeizige Wissenschaftler, deren moralische Loyalität er sich in außergewöhnlichen Verträgen sicherte. Unter solchen Voraussetzungen Erfolg zu haben, barg also kaum etwas Überraschendes. -

 

Dr. Lehmanns Gedanken lösten sich langsam aus der Vergangenheit. Ja, Erfolg lässt sich programmieren - bis zu einem gewissen Grad. Aber das, was heute geschah ...’ Er dachte an den morgendlichen Frust wegen seines Zuspätkommens, den gehetzten Termin und dann die routinehafte Turnus-Berichterstattung am Quartalsende mit der ärgerlichen Einleitung der Susan Remp, der Computer sei abgestürzt, weswegen der Bericht über den Stand der Arbeiten an L 143 nicht fertiggestellt werden konnte.

,Ausgerechnet L 143, die letzte Verträglichkeitshürde.’ Lehmann nahm einen Schluck aus dem Glas. ,Wenn sich aber die mündliche Aussage Suleimans dazu als richtig erweist, sind wir einen Schritt weiter, einen großen.’ Er wischte über den Mund und lehnte sich zurück. Langsam stellte sich Entspannung ein. ,Dieser Laurents! Ob er ahnt, was sein Ergebnis beinhaltet? Ahnen vielleicht. Der Trägerorganismus bestimmt das Wachstum des Okulats! Und die Lindsey legt mir vor, dass die Hirnstammzellen anschlagen. Was für ein Tag! Und dabei hat er so mies begonnen. Überhaupt die Lindsey!’

In Uwe Lehmanns Kopf formte sich eine Idee, eine faszinierende, haarsträubende. Diese neuen Ergebnisse trieben, nein, peitschten förmlich zum Experiment!

Für Bruchteile von Sekunden überfiel ihn ein Schwindelgefühl. Einen winzigen Augenblick lang dachte er an Gesetzlichkeit und Kodex. Er wischte den Gedanken mit einer heftigen Handbewegung hinweg und hätte dabei beinahe das Bierglas umgestoßen.

Der Wirt äugte argwöhnisch zu seinem Gast.

,Warum kommt mir diese Idee im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Arbeiten der Lindsey ...?’

Lehmanns analytisches Denken setzte ein. ,Master Shirley Lindsey! Sie wäre ehrgeizig und skrupellos genug, mit mir ...’ Seine aufwallende Erregung verhinderte, dass er zu Ende dachte. „Einen Korn“, rief er zum Wirt gewandt. „Einen doppelten!“ -

2. Kapitel

„Kollegin Lindsey, einen Augenblick!“

Die Dienstbesprechung war zu Ende. Lehmanns engste Mitarbeiter rafften ihre Unterlagen und verließen den Raum.

Master Shirley Lindsey, ebenfalls im Begriff zu gehen, blickte wenig überrascht auf, nickte und nahm eine abwartende Haltung ein. -

 

Die junge Frau, eine von der Natur begnadete Person. Ihr Äußeres bediente nicht das Klischee einer ehrgeizigen, weltfremden, verknöcherten Wissenschaftlerin. Sie erinnerte eher - hochgewachsen, schlank und flachbusig - an eine Barbiepuppe mit dem hübschen Allerweltsgesicht und dem blonden, langen Haar. Sie trug es vorwiegend offen. Selbst ihr mitunter etwas einfältig wirkendes Gesicht und der manchmal träumerische Blick konnten den Eindruck vertiefen, dass sie eine jener oberflächlichen personifizierten Modeerscheinungen aus der Jungmädchenstube sei.

Vom spießigen, konservativen, familiären Milieu einer Vorstadtkneipe Oxfords beizeiten frei gemacht, faszinierte sie das Flair des universitären Gehabes, das die Stadt und die Klientel der elterlichen Gaststätte prägte, - ihr Traum, zum Stand solcher Akademischen zu gehören.

Obwohl sie nach dem Wunsch ihrer Erzeuger als einzige Erbin das gut gehende Haus einmal übernehmen sollte, finanzierten sie halbherzig das Studium der Tochter.

Sie erreichte nach sehr guten Examina eine Anstellung im Biotechunternehmen THERAPEUTIC im US-Staat Virginia und konnte dort die Erkenntnisse in der Xenotransplantation bemerkenswert bereichern - der Grund für Uwe Lehmann, sich für Shirley Lindsey zu interessieren. Nachdem ihr weitgehende Selbstständigkeit in ihrer Arbeit und ein Gehalt zugesagt worden waren, das sogar das der Amerikaner beachtlich übertraf, zögerte sie nicht, zumal sie Karriere hindernde private Bindungen in ihren Entscheidungen nicht beeinträchtigten - obwohl es ihr an Anträgen und Möglichkeiten nicht mangelte. -

 

Shirley Lindsey stand abwartend. Sie betrachtete ihre hellblau lackierten, sehr gepflegten Fingernägel, die sie offensichtlich farblich ihrer spitz ausgeschnittenen sportlichen Bluse angepasst hatte.

Lehmann sortierte und besah Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. „Nehmen Sie doch Platz“, gebot er ohne aufzusehen und seine Geschäftigkeit zu unterbrechen, offenbar in der Absicht, sein Anliegen erst dann vorzubringen, wenn sich die Tür hinter dem Letzten geschlossen haben würde.

Master Shirley Lindsey setzte sich betont nur auf die Stuhlkante, um anzudeuten, dass sie nur einen kurzen Aufenthalt erwartete und sie von ihrer Arbeit auch nicht lange abgehalten werden wollte.

„Ich nehme an, dass das, was in Ihrem letzten Bericht steht, nicht über das Leitungsteam hinaus bekannt ist?“ Lehmann fragte es obenhin, ohne sein Gegenüber anzusehen.

Shirley Lindsey runzelte die Stirn. „Selbstverständlich nicht, Herr Direktor“, entgegnete sie betont. „Vertragsgemäß“, setzte sie ein wenig ironisch hinzu.

„Wie geht es dem Welpen? Ich möchte ihn sehen.“ Lehmann hob den Kopf.

Die Frau straffte sich. „Welchem Welpen?“, fragte sie hinhaltend, Ungemach ahnend.

„Na der, dem Sie den Hirnstamm okuliert haben!“ Er legte übertriebenes Staunen in seine Stimme ob ihrer Begriffsstutzigkeit.

„Den - den gibt es nicht mehr“, antwortete sie verunsichert.

„Wie, gibt es nicht mehr?“, fragte Lehmann aufmerksam zurück.

In Lindseys Gesicht stand Empörung. „Ich habe ihn selbstverständlich eingeschläfert!“, brachte sie patzig heraus.

Dr. Lehmann lehnte sich heftig zurück, sodass der Sessel stöhnte. „Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“, fragte er eher sanft und verwundert als ärgerlich.

„Wieso denn?“ Die Frau reagierte aufgebracht. „Es entspricht doch wohl der Regel. Wenn der Kodex ...“

„Hören Sie doch auf!“, herrschte Lehmann sie nunmehr scharf an und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Wir sind gesetzlich angehalten, lebensfähige Fehlbildungen nach dreißig Tagen ...“ Shirley Lindsey blieb hartnäckig.

„Sie müssen mich nicht belehren!“, unterbrach Lehmann heftig. Nach einer kleinen Pause fuhr er versöhnlicher fort: „Und, wer redet von Fehlbildungen ... Sie sagten lebensfähig’? Wie lange?“ Er neigte sich vor.

„Das ist doch gleichgültig.“

„Bitte auf eine sachliche Frage eine sachliche Antwort!“

„Ich habe den Versuch nicht ausgetestet.“

„Ihre Meinung!“

„Bislang sind Grenzen nicht absehbar.“ Lehmann lehnte sich erneut zurück, stützte beide Hände auf die Tischplatte, sah seiner Mitarbeiterin eindringlich ins Gesicht und sagte nach einer kleinen Weile: „Erläutern Sie, um was für ein Wesen es sich handeln würde, welche Eigenschaften es hätte, und wie verhielte es sich?“

Shirley Lindsey zögerte einen Augenblick. Sie sah Lehmann verunsichert an und kam seiner Forderung dann verhalten, um Sachlichkeit bemüht, nach: „Es wäre dieses Wesen vom Körper her Tier, Wirtstier sozusagen, mit Verstand. In welchem Grad, lässt sich nach jetziger Erkenntnis schwer sagen. Er richtet sich nach dem Schädelvolumen, der Zeit des Wachstums ...“

„... die sich, wie Sie berichten, nach der des Wirtskörpers richtet ...“

„Ganz recht.“ Die erneute Unterbrechung hatte die Frau irritiert. „Das Verhalten dieser ... - ich würde sie Canismuten nennen - ist sicher abhängig davon, wie umfänglich sich das Gehirn ausprägen wird - und natürlich, wie weit das notwendigerweise verbleibende Rudiment des eigenen ... Aber darüber lässt sich nichts - noch nichts - sagen.“

„Weil Sie ...“, warf Lehmann heftig ein, vollendete den Vorwurf jedoch nicht. In geändertem Tonfall fuhr er nach einer Pause fort: „Könnten Sie sich vorstellen, Master Lindsey, dass solchermaßen auch etwas - Nützliches, dem Menschen Nützliches, entstehen könnte, etwas, das man haben, verwenden möchte?“ Er sah sie durchdringend an.

,Aha’, dachte Shirley Lindsey, ,er lässt die Katze aus dem Sack!’ Natürlich ahnte sie, eigentlich seit Beginn des Gesprächs, worauf der Direktor hinaus wollte. Sein Geschäftssinn war sprichwörtlich, jeder Mitarbeiter hatte sich dem unterzuordnen - wie es der Arbeitsvertrag auch vorsah. ,So leicht mache ich es dir nicht, mein Lieber!’, dachte sie.

„Sie wissen besser als ich, Chef,“, sagte sie dann leicht überheblich, „dass dem juristische Festlegungen zu Ethik und Moral entgegenstehen und dass der Gesetzgeber bei Verstößen hart durchgreift. Denken Sie an den letzten Fall des Stammzellenschmuggels ..."

Lehmann lachte gekünstelt auf. „Dass ich nicht lache!“, rief er. „Sie meinen es nicht so, hm? Dazu halte ich Sie für zu klug. Genau wie ich wissen Sie, dass ethische und moralische Erwägungen in der Menschheitsgeschichte niemals eine entscheidende Rolle gespielt haben, wenn Wissen, Profitstreben und Kapital zusammentrafen. Schon Kreuzritter haben im Namen des Herrn ...“, sein Tonfall wurde ironisch, „Frauen und Kinder abgeschlachtet. Honorige Farmer haben auf erbärmliche Weise Menschen zu Sklaven erniedrigt, Rothäutige skalpiert, ihre Ernährungsgrundlage verbrecherisch zerstört.“ Lehmann sprach sich in Rage. „Es war für die Herrschenden stets moralisch, Vernichtungskriege zu führen - versehen mit dem Heiligenschein der Liebesprediger. Und wo blieben die Ethiker, als Atombomben fielen, Millionen Menschen verstrahlt wurden, als Leute, die die Menschenrechte gepachtet zu haben glauben, riesige Areale vergifteten, Kinder in Napalm grillten? Tausende kamen im Kerosininferno im Namen Allahs um. Armselige Habenichtse wurden zerbombt - bis in die jüngste Zeit hinein. Hinterher versucht man stets zu kitten, hinterher!

Aber was rede ich!“ Lehmann winkte ab. „Sie wissen das alles. Ich wollte nur darauf hinweisen, was ich von diesen scheinheiligen Schwätzern, Ignoranten und gutgläubigen Klugscheißern halte, die geifern, als ob es das alles nie gegeben hätte. Ein kluger Mensch hat einmal sinngemäß prophezeit: Eine spätere Generation wird das tun, was sie für sich von Nutzen hält, gleichgültig, was wir Heutigen darüber gedacht haben mögen. Also - entscheiden Sie sich, Master Lindsey, entscheiden Sie sich jetzt, wozu Sie gehören wollen, zu den Gestrigen oder jenen, die die Zukunft vorbereiten - und das würde Ihr Schaden nicht sein.“ Er lächelte, und es klang keineswegs pathetisch, wie er das sagte.

Shirley Lindsey lächelte zurück. ,Na also’, dachte sie. „Aus dem nämlichen Wurf existieren noch weitere vier Welpen - Schäferhunde.“ Sie nickte. „Es dauert kein Jahr, da sind sie ausgewachsen. Dann wissen wir mehr.“

„Gut, gut.“ Dr. Lehmann senkte wie gedankenabwesend den Kopf. „Nicht mehr als eine Hand voll äußerst zuverlässiger Leute werden damit befasst. Ich verlasse mich auf Sie! Und Sie wissen: Letztens liegen die Verantwortung, das Risiko laut Vertrag bei mir.“ Er lächelte abermals.

„Okay. Die Remp?“

Lehmann überlegte einen Augenblick. „Die Remp werden Sie schon einbeziehen müssen. Wer sollte sonst analysieren, die Reihen auswerten? Ich bürge für sie. Wir verbleiben so?“ Unvermittelt stand Lehmann auf und reichte seiner Mitarbeiterin die Hand. „Ich wusste es“, bemerkte er selbstsicher.

„Wir verbleiben so!“, antwortete die Frau. Sie erhob sich und schritt mit widerstreitenden Gefühlen zur Tür. ,Skrupel? Nein! Bedenken höchstens, dass man die Geister, die man ruft, nicht beherrschen könnte. Ein wenig Angst um die Karriere, falls ... Unsinn! Ohne Risiko kein Schritt ins Neuland! Er lässt mir freie Hand!’

Shirley Lindsey schloss die Tür hinter sich.

Aus dem gegenüberliegenden Raum trat Susan Remp ins Vorzimmer.

„Wir müssen dringend reden“, sprach Shirley Lindsey sie an. „Nicht jetzt, aber bald. Ich muss erst ein Konzept haben.“

„Das klingt ja wie eine Verschwörung“, scherzte Susan Remp.

„Es ist eine.“ Shirley Lindsey lächelte. -

3. Kapitel

Shirley Lindsey briet in der Mittagsonne am Gezeitenbecken des kleinen Küstenfleckens. Ein niedriger Wall aus Lavabrocken schützte sie vor dem ständig wehenden Passat, nur ab und an strich sanft ein kühlender Hauch über ihre heiße Haut, täuschte über die Sonnenbrandgefahr hinweg. Die Flut drückte das Wasser des Atlantik über die Klippen, dass es hoch aufspritzte. Bald würde das Becken gefüllt: und Zeit sein, eine Runde zu schwimmen. –

 

Obwohl Shirley Lindsey danach gierte, mit dem Großversuch, den Lehmann überraschend vorfristig angeordnet hatte, zu beginnen, war sie auf seinen Vorschlag eingegangen, ein paar Tage auszuspannen. Unterdessen würden die für das umfangreiche Experiment notwendigen Voraussetzungen im Institut - ein Anbau, Sicherheitseinrichtungen und Anschaffungen - getroffen sein.

Kurz entschlossen hatte sie als Last-minute-Reise 14 Tage auf der Kanareninsel Lanzarote gebucht, einen kleinen, schlichten Selbstversorger-Bungalow auf der Ostseite der Insel in einer idyllischen FKK-Kolonie gemietet, gleich am Flughafen ein kleines Auto geliehen und alsbald festgestellt, sich goldrichtig entschieden zu haben.

Zunächst ein wenig erschrocken über das scheinbar Unwirtliche der Vulkaninsel, empfand sie alsbald deren herbe Schönheit und genoss während der Autotouren und Wanderungen jenseits der Urlauberzentren die bizarre Landschaft, den Ordnungssinn und die Ergebnisse des Fleißes der Inselbewohner. In der Siedlung selber kümmerte sich keiner um den anderen, ideal, Körper und Seele ungestört baumeln zu lassen. Erst in diesem Umfeld spürte Shirley Lindsey, wie wohl ihr das lang entbehrte Ausspannen tat, wie sie es brauchte.

So war es bis zum Vortag.

Seit dem Abend hatte sie ein Teil ihres Unbeschwertseins verlassen. -

 

Mechanisch betupfte Shirley Arme und Beine mit Sonnencreme, verrieb diese, und eher belustigt als ärgerlich dachte sie im Kreis: „Was das wohl werden soll?“ Und sie wunderte sich über sich selber, sich auf so etwas überhaupt eingelassen zu haben.

Sie hatte tags zuvor der Bequemlichkeit halber auf das Fahren mit ihrem Mietauto verzichtet und für einen Ausflug in den Nationalpark zu den Feuerbergen einen Busplatz gebucht.

Der Fremdenführer verstand es ausgezeichnet, die Attraktionen des Vulkans an den Mann zu bringen. Shirley selbst geriet ins Staunen, als aus einer Bohrung eingegossenes Wasser nach Sekunden als Dampffontäne hervorschoss oder ein Reisigbündel im Lavaspalt entflammte. Und sie aß mit Vergnügen ein in Erdhitze gegrilltes Hähnchenbein.

Als die Reisegruppe den Bus verließ, fiel Shirley ein Mann auf, der auch Alleinreisender zu sein schien. Er hatte ihr beim Verlassen des Fahrzeugs galant helfend die Hand gereicht und ihr einen sehr aufmerksamen Blick geschenkt.

Beim gemeinsamen Mittagessen im Tal der tausend Palmen bei Haria, saß er - Zufall? - mit ihr am gleichen Tisch, und sie führten ein angeregtes Gespräch über diese abartige Insel, den Passat und den Vulkanismus. Auf dem Aussichtspunkt, dem grandiosen Mirador del Rio, richtete er es unaufdringlich ein, neben ihr zu stehen. Sie kommentierten den herrlichen Ausblick und schlenderten gemeinsam durch die Panoramaräume. Auf dem Weg zum Bus meinte es der Passatwind besonders gut, da hängte ihr der Begleiter seine Strickjacke um die Schultern. Auf der Rückfahrt schließlich saßen sie nebeneinander im Bus und tauschten sich über die Tageserlebnisse aus.

Und dann kam das, was Shirley Lindsey sosehr irritierte: die Verabredung.

Welchen Unterschied, zum Teufel, gab es zwischen dieser und ähnlichen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht? Freilich, Shirley erinnerte sich, einige dieser Kontakte waren heftig, intensiv aber schließlich ohne jede Konsequenz oder Verbindlichkeit. Und hier? Ein harmloses Geschwätz während eines Pauschalausflugs. Und danach eine immerhin nicht unaufwendige Verabredung. Was war anders? Der Mann? Was an dem Mann? Ein besonderer? Sympathisch, aber kein besonderer! Shirley holte ihn in ihre Erinnerung: Ein rundes Gesicht mit hoher Stirn und sogenannten Geheimratsecken, also nichts klischeehaft Kantiges. Groß ja, aber kein sportlicher Typ. ,Schöne, gleichmäßig aufgereihte Zähne und eine einfühlsame dunkle Stimme hat er. Diese Stimme - ist sie es, die ihn so anziehend macht? Gepflegte Fingernägel - auch ein Plus, ein wenig breite Hände ... Und Nichtraucher ist er! Eine gute Allgemeinbildung? Auf keinen Fall eine aufdringliche. Höflich ist er und galant - meine Güte - ist das etwas Positives heutzutage? Er tanzt und kocht gern, sagt er. Gott, worüber wir uns alles unterhalten haben. Ein Softi! Und so ein Mann läuft frei herum? Eine Alleinreise, Shirley, ist kein Kriterium! Kunsthandwerker ist er, und er logiert am anderen Ende der Insel. Trotzdem die Verabredung hier bei mir, obwohl er kein Mietauto ... Oje - ich habe vergessen, ihm mitzuteilen, dass dies hier eine FKK-Kolonie ist. Um siebzehn Uhr werde ich ihn nicht nackt empfangen ... Ob er prüde ...? Kann ich mir nicht vorstellen.

Was ist los mit dir, Master Shirley Lindsey? Warum machst du dir Gedanken um einen Kerl, einen, den du flüchtig kennengelernt hast und überhaupt? Gut - zur Verabredung stehst du, und das war’s dann!’ -

 

Als Manuel am Tag nach der Verabredung Shirley gegen Mittag für Stunden verlassen hatte, um sein Quartier zu kündigen, tauchte sie in den kühlen Ozean, folgte den schroffen Pfaden über die Klippen und versuchte Gedanken und Gefühle zu ordnen. Eines wusste sie mit Gewissheit: So durcheinander waren diese noch niemals in ihrem Leben, und sie hätte es nicht für möglich gehalten, jemals in ein solches Chaos zu geraten. Solches wäre verschossenen Teenagern vorbehalten, der Fantasie einer Courths-Mahler oder anderer gleichgearteter Liebesromanschreiber, hätte sie gedacht.

Es half nichts. Shirley musste sich eingestehen, so sehr sie sich zunächst gegen den Gedanken wehrte: ,Ich habe mich verliebt! Ich dumme alte Kuh habe mich verliebt! Und ich bin obendrein darüber keineswegs unglücklich!’

Beinahe gewaltsam holte sie die Erinnerung an das Institut, die Heranwachsenden, den bevorstehenden Großversuch und das damit verbundene Risiko in ihr Denken. ,Es wird schon werden! Noch habe ich ein paar Tage Urlaub, und abends ist Manuel wieder hier ...’ –

 

4. Kapitel

Manuel Georges hatte nach einem aufregenden Scheidungsdrama auf Lanzarote Entspannung gesucht, gleichzeitig aber das Wirken des legendären Caesare Mandrique vor Ort kennenlernen, studieren wollen. Seine eigenen künstlerischen Ambitionen gingen in ähnliche Richtung wie die dieses Inselgenies. Ganz Lanzarote war von dessen Visionen geprägt, und auf seinen Spuren verflüchtigten sich Kummer und Ärger über das Scheitern der Partnerschaft. Die Absicht, eine neue Beziehung einzugehen, hatte er unter keinen Umständen. Er fühlte sich vom Magnetschlag mit Shirley Lindsey ebenso überrascht wie diese. Schon nach den wenigen Stunden des Zusammenseins waren beide fest entschlossen, ein gemeinsames Leben zu probieren. Und da Manuel ohnehin vor einem Neubeginn stand, sollte das bei Shirley stattfinden, vorerst in der ausreichend geräumigen Wohnung der Frau. Manuel spielte mit dem Gedanken - bestärkt von Shirley - sich selbstständig zu machen, eine eigene Firma zu gründen. Mit dem guten Einkommen der Frau - im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Experiment von Lehmann sogar noch großzügig aufgestockt - ließ sich jede Anfangsflaute überbrücken. Die wenigen Tage, die Shirley noch auf der Insel verblieben - für Manuel gab es keine zeitliche Grenze - wollten die beiden als eine Art Probezeit ansehen. -

5. Kapitel

Mit den vier Schäferhundwelpen, zwei Mitarbeitern und zwanzig weiteren Jungtieren zog Master Shirley Lindsey in den renovierten, zum Teil erweiterten, streng von den anderen abgetrennten Trakt des Instituts, der ihr Reich sein sollte, für den und alles, was sich darin tat, sie die Verantwortung zu tragen hatte.

Was sich Lehmann eigentlich von dem Großversuch versprach, ließ er nicht verlauten. Seine Aussage war lediglich: Für derart Revolutionäres sei Sicherheit des Funktionierens allerhöchstes Gebot. Dass das Experiment einmal gelungen war, könne Zufall sein, auf keinen Fall ein Ereignis, das die Fachwelt überzeugen müsse, zumal man den Weg zum Erfolg aus Wettbewerbsgründen nicht preisgeben werde.

Auf Shirley Lindseys Einwand, es werde keine Fachleute geben, die zu überzeugen wären, da die Arbeiten gesetzwidrig, geheim und unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit stattfanden, hatte Lehmann gelächelt und gemeint, es sei nicht aller Tage Abend. Zahlreiche bedeutende Erfindungen sind im Geheimen entstanden, andere habe man zunächst verlacht oder als Höllenzeug verteufelt. Vor den ersten Automobilen in England musste ein Mensch mit einer Fahne vornweg laufen, um die Passanten vor dem anrollenden Vehikel zu warnen. Auch das hatte der Gesetzgeber so gewollt ...

Das sei wohl schwerlich vergleichbar, hatte Shirley gemeint.

Doch, nur auf der Entwicklungsspirale ein höherer Level, so Lehmann ... -

6. Kapitel

Im flachen, quadratmetergroßen Flechtkorb balgten vier niedliche Welpen, Schäferhundwelpen. Ihr Gebaren unterschied sich in nichts von dem ihrer Artgenossen. Betrachtete man jedoch genauer, gewahrte man, dass die Köpfe zweier dieser drolligen Vierbeiner ein wenig unproportional zum Körper geraten schienen. Die Augen standen verhältnismäßig breit, und der Blick dieser Augen irritierte ... Die Kopfhaare stachen von denen des übrigen Körpers ab, so strähnig und lang, wie sie waren. Außerordentlich überrascht wäre ein fremder Betrachter - nicht so Shirley Lindsey - als aus dem Korb nach einem heftigen Gewirre der harte Ruf „Au“ erschallte. Die Stimme klang rau, das Wort verschliffen, aber noch durchaus verständlich.

Shirley Lindsey durchströmte ein ungeahntes Glücksgefühl, gemischt mit Stolz. ,Sie werden sprechen, werden sprechen!’ Der Satz füllte ihr Denken. ,Eine Sensation! Man wird jedes Organ züchten und okulieren können, ich werde es können, ich?

Die Frau trat an den Korb, wählte und nahm eines der Geschöpfe auf den Arm. Befriedigt betrachtete sie die kleine Narbe an dessen Kopf. Bald würden Haare sie verdecken und unsichtbar machen. „Lux“, hauchte sie in das kupierte Ohr, „Lux.“

Der Kleine stutzte, suchte Blickkontakt. Dann öffnete er das Maul, erzeugte ein gutturales Geräusch, in dem man bei genauem Hinhören das Wort „Lux“ erkannte.

„Bravo, bravo!“, lobte Shirley Lindsey. Sie setzte das Tier befriedigt in den Korb zurück.

Der Sicherheitsautomat der Tür summte; Boris Remikow betrat den Raum.

„Probleme?“, fragte die Lindsey.

„Keine Probleme.“ Er hantierte mit dem Futternapf.

„Fortschritte?“

„Sie brabbeln wie - wie Einjährige, meine ich. Eigene Erfahrungen habe ich keine.“ Ein langer Satz für den wortkargen Russen.

„Was sich hier tut, bleibt absolut unter uns, unter uns beiden! Auch Demond und die Masmer werden hier nicht einbezogen. Sie betreuen die Zugänge. Dem Chef berichte ich.“

Der Angesprochene nickte. „Ich bin im Bilde“, entgegnete er zweideutig.

„Die Tomogramme ohne Kommentar. Sind die letzten schon im Speicher?“

„Ja. Sechs Prozent.“

„Sechs Prozent Wachstum in drei Wochen ...“ Shirley Lindsey dachte laut. „Die Remp soll eine Übersicht, am besten ein Diagramm entwerfen, das den Zuwachs in Abhängigkeit der Hauptparameter ... Na, das Übliche. Den Ursprung aber braucht auch sie nicht zu erfahren.“

„Wenn sie größer werden, werde ich es allein kaum mehr schaffen.“

Shirley Lindsey überlegte einen Augenblick. „Darüber reden wir, wenn es so weit ist. Es wird sich ohnehin einiges ändern müssen, wenn erst die Außenstellen und Zweigniederlassungen des Instituts überall etabliert sind. Übrigens - keine schlechten Karriereaussichten für zuverlässige Leute.“ Aus dem letzten Satz klang ein wenig Spott. -

7. Kapitel

Shirley Lindseys Zweisamkeit mit Manuel Georges ließ sich besser an, als heimlich von beiden erwartet.

Die Frau hätte sich nicht für fähig gehalten, in einer derart überraschend kurzen Zeit und überhaupt sich um- und auf einen anderen Menschen einzustellen, sich allzu leicht in eine romantische Stimmung versetzen zu lassen, Zärtlichkeiten auszutauschen ...

Und er, der das Vertrauen zu einem harmonischen Miteinander verloren hatte und daher meinte, wie ein gebranntes Kind das Feuer meiden zu müssen, wäre nunmehr für seine Shirley durch jedes Feuer gegangen.

Sie verließen täglich gemeinsam die Wohnung, Manuel zunächst auf der Suche nach geeigneten Räumen für seine künstlerische Tätigkeit und nach behördlicher Unterstützung, während Shirley zum Institut zu ihren Schöpfungen eilte. Und sie hatte durchaus den Eindruck, dass die neu erworbene Lebensqualität, gipfelnd in der Partnerschaft mit Manuel, ihren Arbeitselan beflügle. Ihr ging vieles leichter von der Hand, und das, obwohl die Anforderungen beträchtlich zugenommen hatten und die Zahl der Mitarbeiter aus begreiflichen Gründen lediglich um die Tierärztin Yvonne Magik erweitert worden war.

Boris Remikow, ein finster blickender, wortkarger Russe, ein begnadeter Chirurg und der quirlige, eigentlich unernste Franz Breitner, der Gentechniker, konnten unterschiedlicher in ihrem Wesen nicht sein. Beide verband jedoch brennender, skrupelloser Ehrgeiz und der Status, unabhängig zu sein. Sorgfältig von Lehmann persönlich ausgewählt, bildeten sie die Stützen des unerhörten Vorhabens, in das natürlich alle relevanten globalen Forschungsergebnisse einflossen, und dabei spielten die aus dem Institut selbst eine entscheidende Rolle, insbesondere, was die Bereitstellung von entsprechendem manipulierten Material betraf.

Lux war ein drolliges Kerlchen, gelehrig und verspielt. Shirley hatte ihn auf ihre Art lieb gewonnen. Das hieß, er sollte der Träger all ihres Wissens und Könnens, ein Wesen werden, das die Welt in Erstaunen versetzt, gleichgültig, ob zu seinen Lebzeiten oder, wenn diese Welt jetzt dafür noch nicht reif ist, später in akribischer Dokumentation. Sie brannte darauf, so schnell als möglich zu operieren. Boris Remikow riet jedoch, Lux an zweiter Stelle zu behandeln, um so sein Risiko zu verringern. Shirleys Zuneigung zu dem Tier war allenthalben offenkundig, und es sollte natürlich den komplizierten Eingriff überstehen. -

 

Die beiden Erstmanipulierten sollten einen Entwicklungsvorlauf von mindestens einem Vierteljahr gegenüber dem Gros erhalten, um den Erfolg beurteilen zu können, zumal - und das hatte Shirley Lindsey dem Institutseigner zunächst verschwiegen - sie das Experiment erweitert hatte: Nicht nur der Hirnstamm würde verändert, ausgetauscht werden, sondern auch der des Stimmapparates. Remikow war vom Erfolg des Versuchs überzeugt, sodass sich Shirley entschlossen hatte, dieser Operation nicht nur den Probanden zu unterziehen, auch Lux sollte die Chance bekommen. Kein Wunder also, dass die Frau, leicht nervös und aufgeregt, die Entwicklung ihres Schützlings ungeduldig und fürsorglich beobachtete.

Den ersten Anlass zur Freude gab es, als sich herausstellte, dass Lux nicht nur den Eingriff gut überstanden, sondern sich während seiner Rekonvaleszenz weiterentwickelt, an Gewicht zugenommen hatte und sogar - zumindest schien es Shirley so - bereits Anzeichen erkennen ließ, die sie der Manipulation zuschrieb. Ihr kam es vor, als verbreitere sich die Stirn, als bekämen seine Augen einen anderen Ausdruck und es klinge das Bellen verändert. Zum Vergleich holte sie häufig einen der Welpen aus dem gleichen Wurf heran, eines von Lux’ Geschwistern, und dann konnten auch die Mitarbeiter nicht umhin, die Abweichungen festzustellen. Schließlich wurde von Yvonne Magik, der Tierärztin, das Anwachsen des Gehirnvolumens anhand von Tomogrammen bestätigt.

Natürlich durften Lux und Schäffi - sein Pendant, das sich übrigens ebenfalls gut und aktiv entwickelte - vorerst in der Gruppe der Welpen verbleiben, mit ihnen spielen und tollen. Alsbald stellte sich jedoch heraus, dass die beiden eine Führungsrolle übernahmen, wobei Lux noch vor Schäffi rangierte. Sie wurden schneller verständiger als die anderen, parierten wesentlich besser und entwickelten sich rasant zu einer Art Wunderkinder. Sie apportierten nicht nur zuverlässig, sondern konnten die Gegenstände sortiert nach Farbe und Form ablegen.

Obwohl die äußeren Veränderungen der beiden Versuchstiere zumindest anfangs nur durch die vier Eingeweihten wahrgenommen wurden, blieben sie streng vor allen anderen Angehörigen des Instituts verborgen. Lediglich Susan Remp, die die Dokumentation zu verwalten hatte, war durch die Berichte und Fotos, mit denen sie die Datenbank zu beschicken hatte, zumindest formal-theoretisch informiert - und knapp Dr. Lehmann, der Institutsinhaber, natürlich.

In der Morgen- oder Abenddämmerung allerdings ließen es sich Shirley Lindsey und Boris Remikow, den zu Schäffi eine eigenartige, weil nicht zugetraute Zuneigung erfasst hatte, nicht nehmen, mitunter längere Spaziergänge in der weiteren Umgebung des Instituts zu machen. Schließlich brauchten die Schützlinge andere Eindrücke von der Welt, als ständig jene aus dem Institut – so hatte sich Shirley eine Rechtfertigung gegenüber Lehmann vorgenommen, falls er etwas gegen ihre Eigenmächtigkeit vorzubringen hätte, die immerhin einen Verstoß gegen die von ihm festgelegte strenge Geheimhaltung darstellte und in der Tat ein gewisses Risiko barg.

Während eines solchen Abendspaziergangs geschah für Shirley Lindsey das Wunder: Sie führte Lux an der Leine in einer wenig belebten Straße eine Reihe parkender Autos entlang. Als sie auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite die Grünanlage erreichen wollte, rollte unversehens ein PKW heran. Sie hielt Lux kurz und verharrte. „Ein Auto!“, rief sie warnend.

Guttural, aber für Shirley deutlich zu verstehen sagte Lux „Auto“ und blickte treuherzig zu ihr empor.

Shirley Lindseys Herz machte buchstäblich einen Hopser. Sie beugte sich zu Lux hinab und drückte ihn heftig an sich „Hast du eben ,Auto’ gesagt? ,Auto?“

Und er sah sie an und knurrte kehlig „Auto“. –

8. Kapitel

Nach Hörensagen und eigenem Vorstellungsvermögen glaubte Shirley Lindsey zu wissen, wie mit Kleinkindern umzugehen sei und wie diese sich im Allgemeinen entwickeln. Mit einer derartigen Rasanz aber hatte sie bei Lux nicht gerechnet - was dessen geistige Fortschritte anbelangte. Die körperlichen blieben ohnehin nicht vergleichbar, da Hunde - anders als der Mensch - nicht zu ausgesprochenen Nesthockern zählten.

Da im Institut herausgefunden wurde, dass sich das Wachstum des Eingepflanzten nach dem des Wirtsorganismus richtet, war das Ergebnis natürlich nicht überraschend, aber wie ein Wunder dennoch.