Impressum

Alexander Kröger

Mimikry

Science Fiction-Roman

 

ISBN 978-3-95655-676-0 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1996 im Krögervertrieb Cottbus. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle erschien.

 

© 2016 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

Prolog

Zunächst durchdrang ein Sausen die Schwärze, ein zartes, leises, das rhythmisch in kurzer Folge auf- und abstieg. Ein Schimmer dämmerte heran, als dringe trübes Licht durch einen Wattebausch. Dann von weit her ein Brummen, anschwellend, schwindend ...

Da formte es sich ... eine Frage ...: >Was ist ...?< Die Gedanken gewannen an Kraft: >Was ist?<

Als laste ein Gewicht auf den Lidern, öffnete Ursula Brest langsam die Augen. Träge glitt das graue Weiß ins Lichte. Ganz allmählich stieg Bewusstheit auf. >Ich ... ich ... Wo bin ich?<

Das weiße Gesichtsfeld blieb, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie auf eine Zimmerdecke starrte, auf eine Lampenschale, und wieder war da die Frage, drängender als vordem: >Wo bin ich?< Plötzlich spürte Ursula ihren Atem, wurde gewahr, dass ihre rechte Hand die linke umschloss, ihr Kopf sich in ein Kissen schmiegte, sie in einem Bett lag, und sie fühlte die Wärme. Was sie von ihrem Oberkörper sah, war eingehüllt in einem blaugepunkteten leichten Hemd. Hinter sich vernahm sie ein stetiges leises Piepen. Und da war abermals ein entferntes Brummen, das lauter wurde und verebbte. >Ein vorbeifahrendes Auto ...?<

Ursula stützte sich auf die Ellenbogen, sank zurück. Ein leichter Schwindel hatte sie befallen, ihre Oberarme und Schultern schwächelten. Angst kroch in sie. Sie wendete den Kopf so gut sie es vermochte. >Ein Krankenzimmer! ... das obligatorische Patientenhemd ...< Der piepsende Computer schräg hinter ihr mit bizarren Kurven auf dem Monitor, ein Ständer mit einer Flasche daran, Steckdosenleisten, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Nachtkasten, zwei Türen - ein Fenster hinter einem geschlossenen Vorhang, der dem Tag den Eintritt verwehrte. Erst jetzt bemerkte Ursula den dünnen Schlauch, der ihre rechte Hand mit dem Tropf verband. Daneben lag eine Schnur, ein Schalter daran mit einem roten Knopf. Ursula griff hastig danach, drückte ihn ununterbrochen, im Versuch, einem Panikanfall zuvor zu kommen.

Sehr bald näherten sich eilende Schritte, zwei Weißgekleidete, eine Frau und ein Mann, stürzten ins Zimmer, verhielten kurz.

»Endlich!«, rief die Krankenschwester.

Der Mann beugte sich über Ursula, legte ihr die Hand auf die Stirn und sagte froh: »Willkommen! Es wird alles gut. Ich bin Doktor Hiroshi.«

Ursula blickte ängstlich. »Was ...« Sie musste das Sprechen erneut ansetzen, im Hals schmerzte es, die Stimme klang rau. »Was ist mit mir?«, und sie versuchte abermals, sich aufzurichten, wurde aber sanft vom Arzt gehindert.

»Sie lagen im ... haben elf Tage geschlafen«, erklärte die Schwester freundlich.

»Aber warum?« Jetzt gelang es Ursula, sich auf die Ellenbogen zu stützen. Sie blickte unstet, beunruhigt. Doch plötzlich war sie da, es überfiel sie schlagartig die Erinnerung: Der Blick zur Uhr: verdammt, ich komme zu spät zur Dienstberatung ... Zum Schrank, Kittel aus, der Strich übers Haar und - plötzlich gleitet da der Boden weg, ich verliere den Halt, stürze. Der offene Schrank stülpt sich über mich ... Poltern und prasseln ... schwarz, nichts ...

»Sie waren verschüttet«, erklärte Dr. Hiroshi. »Das Erdbeben ...«

Er sah den Schreck in Ursulas Gesicht.

»Keine Angst«, setzte er schnell, beruhigend hinzu. »Ein paar Prellungen, eine Gehirnerschütterung, Erschöpfung ... Man hat sie rechtzeitig gefunden. Noch einige Tage bei uns, und sie können nach Hause.«

Ursula sank zurück, schwieg. Die Schwester griff nach ihrer Hand.

Nach einer Weile fragte Ursula stockend: »Die - Kollegen ...?«

Dr. Hiroshi blickte zum Fenster. Die Schwester verstärkte den Druck auf Ursulas Hand.

»Ihre Kollegen befanden sich zum Zeitpunkt alle im Tagungsraum«, sagte er leise. »Die Decke stürzte ein, das gesamte Gebäude ...«

Lange Sekunden herrschte Schweigen. Dann bat Ursula: »Ich möchte bitte allein sein.«

Der Arzt und die Krankenschwester verließen das Zimmer.

 

Physisch erholte sich Ursula in der Tat schnell. Sie telefonierte mit ihrer Mutter, beruhigte die Besorgte, denn natürlich hatte sie von dem Beben Kenntnis. Aber tief in ihr Bewusstsein drang Ursula die Katastrophe lange nicht. Die Kollegen waren ihr gegenwärtig, enthusiastisch, besessen von der Arbeit, freundlich jene, die die zunächst Fremde aus dem anderen Kulturkreis so kameradschaftlich, hilfsbereit und zuvorkommend aufgenommen und anerkannt hatten. Ursula wollte nicht realisieren, dass mit einem Schlag das, was so erfolgversprechend, so hoffnungsvoll und zukunftsträchtig, so freudvoll verlaufen ist, aus, vorbei, gelöscht sein sollte. >Wenn auch ein engerer Kontakt zu den Kollegen fehlte - wir haben uns verstanden, respektiert und vorbehaltlos unterstützt; ein außergewöhnliches, freundschaftliches Team ...<

Ständig geriet Ursula in den Tagen der Genesung die Begegnung mit Akira in die Erinnerung, Akira, der Spiritus Rector, der hervorragende Wissenschaftler und Eigentümer des Unternehmens: Die Überfahrt mit dem kleinen Boot zur Insel, Seekrankheit - ihr heulendes Elend, sein tröstender Beistand ... Gespräche, gemeinsam in der Touristengruppe, überraschend die Feststellung, an der gleichen Universität in derselben Fachrichtung studiert zu haben; er drei Jahre vor ihr. Und dann sein Angebot, zaghaft zunächst, nicht drängend, aber ernsthaft werbend und ungeheuer verlockend: Mit „Zellwandlung“ hatte er es umschrieben - absolutes Neuland und beste Bedingungen mit der Gewissheit, dass einem im Leben nur einmal solches widerfährt. >Ha, sogar die Bedenkzeit habe ich verkürzt. Ein Glücksfall, dass ich die Kündigungsfrist bei „Florafarm“ nicht einhalten musste. Dann Mutter getröstet und ab nach Japan. Akira ist tot, erschlagen wie die anderen ... Der Wandler ... kurz vor dem Erfolg - noch ein Jahr vielleicht hätte es gedauert - futsch ist er. Der alte Planet, er räuspert sich, und wir erbärmlichen Würmchen mit all unserer gepriesenen Technik - sind hin!

 

Schon am dritten Tag nach ihrem Erwachen konnte Ursula aufstehen und im frühlingssprießenden Park spazieren. Sie erfreute sich am frischen Grün und an der unnachahmlichen Gestaltung des japanischen Gartens. Es gelang ihr so, das niederschmetternde Ereignis, den Schmerz um die Kollegen und unerquickliche Gedanken an die ungewisse, nicht zu definierende Zukunft, ein Stück in den Hintergrund zu drängen.

An einem Nachmittag suchte sie ein Vertreter der örtlichen Behörde auf, ein junger Mann, der schlechtes Englisch sprach, sie als Überlebende des Bebens beglückwünschte und registrierte, und - nachdem er so ihre Identität festgestellt hatte - ihr erfreut mitteilte, dass der Gebäudekomplex, im dem sich ihre Wohnung befand, nur leicht beschädig sei und dass sich das aus den Trümmern des Instituts Geborgene in einem Depot befinde. Sie solle dieses alsbald besichtigen und über noch Brauchbares bestimmen.

Dieser Hinweis machte Ursula hellhörig. Sie fragte nach und erfuhr, dass Angehörige der Verstorbenen über das, was sich zuordnen ließ, bereits befunden hätten und keine weiteren Ansprüche geltend machten. Es sei aber einiges an Geräten und Akten sicher gestellt worden ... Und da sie die einzige Überlebende der Forschungsgruppe sei und den Fachverstand habe, solle sie über den verbleibenden Nachlass verfügen.

In Ursula sträube sich etwas gegen solches Ansinnen, sie fühlte sich einfach noch nicht in der Lage, sich so unmittelbar nach dem schmerzlichen Geschehen mit derart profanen Verrichtungen zu befassen. Natürlich verstand sie das Anliegen der Behörde, die Angelegenheit so schnell als möglich regeln zu wollen, vielleicht auch, weil es sich mit ihr um eine Ausländerin handelte.

 

Nach neun Tagen wurde Ursula mit guten Wünschen als wieder hergestellt aus der Klinik entlassen. Da sie nur ein leichtes Bündel geschenkter Kleider trug, ging sie zu Fuß; ihre Wohnung befand sich nur einen 20-Minuten-Marsch entfernt. Oft blieb sie unterwegs überrascht stehen und sah sich um. Sie hatte sich das Ausmaß der Zerstörungen größer vorgestellt: Da und dort eine geborstene Mauer, ein Riss in der Straße, wenige Häuser gänzlich eingestürzt. Angesichts dessen begriff sie, dass das Beben insgesamt, im Vergleich zu ähnlichen Katastrophen, glücklicherweise nur 11 Todesopfer gefordert hatte und sie verstand nicht, dass allein vier davon ihre Kollegen waren.

Ursula schlug einen Umweg ein, passierte den kleinen Park, der unmittelbar an das Grundstück grenzte, das zu Akiras Villa gehörte, welche zum kleinen, aber exquisiten Forschungsinstitut umfunktioniert wurde, in dem sie zwei Jahre so erfüllt gewirkt hatten.

Von Weitem hörte sie die Arbeitsgeräusche. Dann erblickte sie es: Ein Überkopflader schichtete sperrige Trümmer und Schutt auf einen Lastwagen. Die Umfassungsmauern des Erdgeschosses der Villa standen noch. Die zwei Etagen darüber waren eingebrochen; in der ersten hatte sich der Tagungsraum befunden ... Die Decke des flachen Laboranbaues, halb eingestürzt, bildete eine schiefe Ebene. >Das Loch dort, da stand der Schrank, da haben sie mich wohl rausgeholt ...<

Lange lehnte Ursula an einem Baum und sah hinüber zu den Maschinen. Sie empfand nicht den Lärm, und sie hätte nicht zu sagen vermocht, was in diesen Minuten durch ihre Gedanken lief.

Sie fand in die Wirklichkeit zurück, als drüben ein Personenwagen hielt, ein gut gekleideter Mann ausstieg, der Maschinist den Motor des Laders abstellte und die beiden Männer miteinander sprachen.

Ursula trat hinzu.

»Ja?« Der im dunklen Anzug sah sie an, unterbrach seinen Disput.

»Ich habe hier gearbeitet«, erklärte Ursula bewegt.

Der Mann nickte. »Tut mir leid - aber ...« Er hob die Schultern.

»Ich verstehe nicht, dass gerade dieses Haus ...« Ursula hob zaghaft den Arm und wies über die Trümmer.

Der Mann zog eine Grimasse, die vielleicht Zorn oder Verachtung ausdrücken mochte. »Es gibt leider noch einige mehr davon ... ein elender Baupfusch! Man müsste die Verantwortlichen einsperren.«

»Baupfusch«, echote Ursula. Aber sofort fiel ihr ein, dass Akira, ihr Chef und Millionenerbe, nicht der Bauherr war, sondern das Objekt gekauft hatte. Sie wandte sich ab. >Baupfusch!<, dachte sie bitter und: >Vielleicht haben es die von der Behörde deshalb so eilig, den Vorgang um das Restinventar schnell abzuschließen, weil sie womöglich befürchten, ich könne Schadenersatz ...< Ursula lächelte traurig. >Sie müssen sich keine Sorgen machen.<

Der Mann setzte sein Gespräch mit dem Maschinisten fort.

 

Der Schaden in Ursulas Wohnung hielt sich zum Glück in Grenzen: Das Bild, das den Heiligen Berg zeigte und ein Geburtstagsgeschenk der Kollegen war, lag mit gesplittertem Rahmen und Glas auf dem Boden des Wohnzimmers. Die chinesische Vase, umgestürzt und zerbrochen, hatte einen hässlichen Wasserfleck und Reste von Sonnenblumen auf dem Parkett hinterlassen. In der kleinen Küche waren Teller und Tassen aus dem Schrank gerutscht, der größte Teil in Scherben zerborsten. Der Kühlschrank stand offen, sein Inhalt überzogen mit einem grünlichen Pelz ... Das Traurigste an dem Anblick waren die Zimmerpflanzen, die die lange Durststrecke nicht überstanden hatten.

Am Gebäudeeingang hatte Ursula den Hausmeister getroffen, und er hatte ihr zugesichert, dass er sogleich zu ihr kommen und den Wasser- und Stromanschluss in ihrer Wohnung kontrollieren und frei schalten wolle.

 

Mechanisch räumte Ursula auf, beseitigte die Scherben und wehmütig die Pflanzenleichen, putzte den Kühlschrank. Sie duschte, legte sich zum Ausruhen hin - und dann kam über sie die Leere. Träge ging das Denken. Ganz im Unterbewusstsein klopfte der Drang, sich bald entscheiden zu müssen. Doch da war auch die verschwommene Frage: >Wozu, wohin ...?< Einmal wurde ein Gedanke, die Besichtigung der Überbleibsel aus dem Institut einfach abzusagen, in ihrem Sinnieren schärfer, doch er schwand wieder. Antriebslos rollte sich Ursula zur Seite. Noch einmal dachte sie, es müsse etwas geschehen ... dann schlief sie ein.

Grimmiger Hunger weckte sie. Sie stand auf, fühlte sich irgendwie erfrischt, und ihr fiel ein, dass sich in der Wohnung nicht das geringste Essbare befand. >Einkaufen!<

Gleich als sie auf die Straße trat, war sie eingehüllt in Emsigkeit: In jedem Blickwinkel gewahrte sie mindestens einen Menschen, wenn nicht größere Gruppen, der oder die mit der Beseitigung von Schäden und Trümmern befasst waren. Auch der Alltag hatte wieder Einzug in das Städtchen gehalten: Leute bummelten, eilten, schwatzten, lachten. Im kleinen, gut besuchten Straßencafé genoss man den Müßiggang in der frühnachmittäglichen Sonne.

Ursula gesellte sich zu jenen, bestellte Tee und ein Gebäck, das sie nicht kannte, und mit jedem Schluck des belebenden Getränkes wuchs Zuversicht in ihr. >Es wird, es muss weitergehen! Also auf zur Stadtverwaltung, schau’n was übrig geblieben ist von dem, worauf wir unsere Hoffnung gesetzt hatten!< In der Gewissheit, es wird nicht viel sein, machte sie sich auf den Weg.

 

Ursula meldete sich im Büro des Bürgermeisters. Als sie ihr Anliegen vorgetragen hatte, war die Sekretariatsdame dort sofort im Bilde.

Ein freundlicher junger Mann führte Ursula in eine geräumige Lagerhalle, die offenbar auch für das Deponieren herrenloser Güter diente. In niedrigen, abgeteilten Boxen befanden sich Möbel, technische Materialien, in Folien verpackte Textilien und Stapel von Kartons - all dies feinsäuberlich beschriftet. >Ein ordentliches Volk, diese Japaner<, dachte Ursula anerkennend schmunzelnd.

Vor einer dieser Boxen mit dürftigem Inhalt blieb ihr Begleiter stehen, wies höflich mit einem Lächeln hinein, verbeugte sich leicht, ging etliche Schritte zurück und nahm eine abwartende Haltung ein.

Zögernd trat Ursula näher.

Einige verschrammte Kleinmöbel aus dem Labor erkannte sie sofort. Sie stand eine Weile da und betrachtete wehmütig, was sonst noch aus dem vertrauten Umfeld übrig geblieben war. In einem Regal lag Kleinzeug: Kabel, feinsäuberlich aufgerollt, Elektroverteiler, eine Tastatur, ein Telefonapparat und mehrere, leicht lädierte Aktenordner. Ursula lächelte traurig, als sie ihren „Ritschi“, den kleinen Stoff-Koala entdeckte, ihren Glücksbringer, der - vordem auf ihrem Schreibtisch sitzend - ihr Trost bei zuweilen fruchtlosem Nachdenken spendete.

Ursula nahm einen der Ordner zur Hand, blätterte: Zahllose Vorgänge über Materialbestellungen, üblicher Schriftverkehr ... In einer nächsten, gut erhaltenen Mappe: Konstruktionszeichnungen. Diese legte sie zur Seite.

Ein Karton stand da, gefüllt mit Datenträgern. Dem wandte sie sich interessiert zu, griff willkürlich einen heraus und erkannte sofort die Kennzeichnung: ihre eigene Handschrift! Ohne sich noch weiter mit dem Inhalt des Behältnisses zu befassen, stellte sie es zu dem bereits Aussortierten. Ihr Herz schlug schneller. >Wenn noch mehr brauchbare Daten ...< Sie dachte nicht zu Ende. >Doch nicht alles zerstört, vielleicht?<

Die Entnahme des Kartons hatte den Blick auf einen kleinen Metallkoffer frei gemacht, dessen Oberfläche zwar zerkratzt war, er im Ganzen aber intakt schien.

Ursula stieg eine siedend heiße Welle zu Kopfe. »Der Impulsgeber!«. Sie sagte es laut, ehrfurchtsvoll gerührt, ungläubig. Ihr Begleiter schaute aufmerksam.

>Das Herz des Wandlers - es ist nicht alles verloren.< Sie atmete zutiefst erleichtert aus, setzte sich auf eine Kiste, benötigte Sekunden bis ihre Glückswallung nachließ. Ihr Begleiter betrachtete die j unge Frau mit staunendem Interesse, veränderte seine Haltung jedoch nicht.

Dann stand Ursula entschlossen auf, musterte flüchtig die noch vorhandenen anderen Gegenstände, legte noch zwei Messgeräte zu ihrer Ausbeute, wies auf die kleine Anhäufung des Aussortierten und sagte: »Das hier.« Den kleinen Metallkoffer behielt sie an der Hand.

Der junge Mann nickte, verschwand, kam nach kurzer Zeit mit einem stabilen Umzugskarton und einem Formular zurück, ließ sich von Ursula die ausgewählten Gegenstände, die er Stück für Stück mit in das Behältnis packte, bezeichnen - was sie zerstreut verkürzt tat. Sie unterschrieb den Empfang, überflog flüchtig die Klausel, die besagte, dass mit der Übernahme des Nachlasses in ihr Eigentum die Verwahrungspflicht der Behörde erloschen sei und sie keine weiteren Ansprüche geltend machen könne. >Schon recht<, dachte sie und verschloss eilig den Karton, den ihr der hilfsbereite Begleiter zum Taxistand trug.

Ursula folgte in einem Zustand, wie er vielleicht jemanden befallen mochte, der das Große Los gezogen hat. Zwar sah sie nach wie vor die Zukunft mehr als verschwommen, aber sie trug den Impulsgeber und besaß vielleicht wesentliche Teile der Software für den Wandlungsprozess.

1. Kapitel

Wegen einer Oberleitungsstörung, wie im Zugfunk verkündet, kam der Zug arg verspätet, bereits weit nach Einbruch der Dunkelheit, in Ahrensbach an. Wenige Leute stiegen aus, und alsbald stand Ursula inmitten ihres Gepäckstapels verloren auf dem Vorplatz des ziemlich tristen Bahnhofs. Sie ging auf ein einsam stehendes Taxi zu und stellte fest, dass es in der Tat einsam war; denn es fehlte der Chauffeur.

Zu allem Überfluss begann es zu nieseln.

Auf der dem Platz gegenüber einmündenden Straße verschwand der letzte der mit ihr angekommenen Zugfahrer, ein Mensch, den sie hätte zum Beispiel nach einem Hotel fragen können.

Überaus müde, angeschlagen von der langen Reise und irgendwie enttäuscht auch - ihre Ankunft in der Stadt ihrer künftigen Wirkungsstätte hatte sich Ursula anders, viel fröhlicher ausgemalt. >Wenn mich nun dieser Berger nicht haben will ...?<

Sie trat des Nieselns wegen unter das Schleppdach über dem Bahnhofsportal.

Links von ihr, hinter dem Gebäude hervor, entstand aus einem Schemen ein Mann, der dem Taxi zu strebte.

»Sind Sie ...?«

»Ja, ich bin«, kam ihr der Mann, ihre Frage unterbrechend, zuvor. »Wohin?«

»Ein Hotel...?«

»Hm.« Es klang unwirsch. Mit einem Blick auf Ursulas Koffer dann freundlicher: »Zum >Löwen< also. Wir haben nur eines; gleich um die Ecke ...« Seine Enttäuschung über das Minigeschäft war noch herauszuhören.

Die Antwort auf Ursulas Frage während der Fahrt nach der BERGER-FORSCHUNGS-GmbH fiel so einsilbig aus, dass ihr der erhoffte Informationsgewinn versagt blieb.

Das Ambiente des „Löwen“ hob Ursulas Stimmung etwas. An der Rezeption empfing sie eine freundliche, ältere Dame - ein wohltuender Gegensatz zum mürrischen Taxifahrer, den auch das reichliche Trinkgeld nicht umzustimmen vermochte.

Das gut behangene Schlüsselbrett ließ auf wenige Gäste schließen. Nur die Frage nach dem Berger-Institut fand auch hier keinen Widerhall: Außer mit den notwendigen Vokabeln und Handgriffen für das vordergründige Hotelgeschehen, kannte sich die Freundliche hinter dem Tresen mit nichts aus. »Ich bin türkisch«, erklärte sie fröhlich-bedauernd.

Nach dem Bezug des einigermaßen gediegenen Zimmers wurde Ursula, trotz der fortgeschrittenen Stunde, ein schmackhafter Imbiss nach Hausmannsart bereitet, und sie sah nach ausgiebigem Duschen und der befriedigenden Liegeprobe gedämpft optimistisch dem Morgen entgegen.

2. Kapitel

>Das also ist es!< Ursula Brest stand nach einigem Suchen vor einem langgezogenen, einstöckigen, schmucklosen Gebäude, das sich - als Bestandteil eines ehemaligen, abseits von der Straße gelegenen Fabrikkomplexes - mit freundlicher Fassade von dem toten Ziegelgemäuer ringsum abhob. Neben dem breiten Eingang zeugten einige Hinweisschilder davon, dass der Bau von mehreren Firmen genutzt wurde; auf einer dieser Tafeln stand: BERGER-FORSCHUNGS-GmbH.

Ursula trat ein und folgte einem Pfeil, der ebenerdig in einen Korridor wies. Dann stand sie vor einer Tür mit der Aufschrift: Berger, Direktor. Nun spürte sie doch merklich ihren Puls, schalt sich albern, klopfte und trat ein, ohne eine Reaktion abzuwarten.

Hinter einem kleinen Schreibtisch saß eine Barbie-Blondine, die ihre Stirn in Falten zog. Doch noch ehe sie sich äußerte, grüßte und erklärte Ursula: »Guten Tag, Brest. Ich bin angemeldet.«

Die Furchen auf der Stirn der Dame vertieften sich, wodurch das Puppengesicht unvorteilhaft lang zu geraten schien. »So?«, sagte sie unverbindlich und begann, in einem Kalender zu blättern.

»Telefonisch!«, half Ursula.

»Telefonisch?«, wiederholte jene, und es klang ungläubig. Sie griff zum Wechselsprecher. »Eine Frau Brest, angeblich telefonisch ...« Offenbar wurde sie unterbrochen. »Bitte!« Sie wies, als sei sie gekränkt, nach rechts auf die gepolsterte Tür. Da Ursula nichts auf dieser fand, was ein Klopfen sinnvoll gemacht hätte, trat sie entschlossen ein.

Was sofort beeindruckte, war die Größe des Raumes. >Das müssen zehn Meter sein<, dache Ursula, als sie die Entfernung zwischen sich und der vor der durchgehenden Fensterfront fast schwarzen Silhouette eines mächtigen Schreibtisches und dem darüber hinausragenden Oberkörpers eines Menschen schätzte. >Aha, er schafft verunsichernde Distanz! < Aber da hatten Ursulas Augen akkommodiert. Im forschen Nähertreten musterte sie den Mann: Hermann Berger war etwa einsfünfundachtzig groß, nicht eben schlank. Ein schmales Gesicht mit spitzem Kinn, dünnlippigem Mund und engstehenden, dunklen Augen gaben seiner Erscheinung Härte, die das volle, graumelierte, leicht naturgewellte Haar milderte. Er trug einen knittrigen, beigefarbenen Flanellanzug und hatte eine Krawatte um, die seinem Wandbild - ein grellbuntes, abstraktes Aquarell - in nichts nachstand. Ungewöhnlich für einen Männerschmuck fiel ein großer, plangeschliffener Onyx an seiner linken Hand auf, gefasst in protzigem Weißgold. Berger, der Hauptgeschäftsführer der BERGER-FORSCHUNGS-GmbH, ihr Gründer und Inhaber der Majorität. Etwas Unbestimmtes in diesem Gesicht mahnte Ursula zur Zurückhaltung.

Berger beugte sich vor, ohne sich jedoch gänzlich zu erheben, reichte der inzwischen an den Schreibtisch Getretenen die Hand und wies auf einen vor dem Möbel stehenden Stuhl. »Es ist ungewöhnlich, dass sich jemand telefonisch um ein Vorstellungsgespräch ... Und im Allgemeinen ...« Er sprach mit hoher Stimme. Was im Allgemeinen war, blieb verborgen. »Also?«, fügte er hinzu.

Ursula hatte Platz genommen, die Beine leger übereinandergeschlagen und sich zurückgelehnt. >Er soll nicht annehmen, dass ich mich einschüchtern lasse. Akira hatte ein ganz anderes Format, und weiter in der Arbeit als dieser Berger waren wir auch, ganz sicher.< Ursula erinnerte sich an ihre umfangreiche Recherche auf der Suche nach einem neuen Tätigkeitsfeld. >Neben den großen, meist universitären Instituten, in denen ich eine unter Vielen gewesen wäre, fällt die BERGER-FORSCHUNGS-GmbH schon auf ... Aber der Chef ... Keine voreiligen Schlüsse, Ursula!<

»Ich würde gern bei Ihnen arbeiten.« Es klang wie beiläufig.

»Aha - im Allgemeinen ...«

>Vielleicht erfahre ich jetzt, was im Allgemeinen ...<, dachte sie.

»... sind schriftliche Bewerbungen ... Sie erwähnten eine Besonderheit am Telefon ...?« Die Frage klang, als sei er gelangweilt.

»Ich war zwei Jahre bei Doktor Akira auf O-shima tätig und habe ...«, Ursula zögerte, »auf dem Gebiet >Zellstrukturen< gearbeitet. Ich dachte, das könnte Sie interessieren.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Berger schraubte an einem goldschimmernden Füllhalter.

Ursula sah sich zurückhaltend im Raum um: Rechter Hand eine wuchtige Sesselecke unter gut gepflegten Gummibäumen und Monsterae. Hinter Bergers Sessel, am Trennpfeiler der Glaswand, hing das dekorative, sehr farbintensive, im Wesentlichen geometrische Figuren darstellende, nichts aussagende Bild. Links eine wohlgefüllte Bücherwand, die in der Nähe der Tür in eine Reihe geschlossener Aktenschränke überging. Dem gegenüber eine Fensterflucht, auf deren Bank Zierkästen mit einer Kollektion prächtig blühender, unterschiedlicher Orchideen.

»Ich habe von der Katastrophe gehört, es tut mir leid«, sagte Berger dann. »Und?«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu. Ursula hatte den Eindruck, ein wenig lauernd.

Sie löste den Blick von der Blütenpracht. »Ich bin ...«, wieder zögerte sie, »... Mitinhaberin einiger Patente; beziehungsweise alleinige ..., nach dem Unglück.«

Berger lehnte sich zurück, musterte die Besucherin. »Sie haben - Unterlagen?«, fragte er wieder wie beiläufig.

»Ja, und ...«

>Und den Impulsgeber für die Zellwandlung<, wollte sie sagen, verkniff es sich im letzten Augenblick. »... und einige Software«, setzte sie fort.

»Und weshalb meinen Sie, könnte das für mich von Interesse sein? Sie wissen, dass die BERGER-FORSCHUNGS-GmbH zu achtzig Prozent in die Züchtung resistenter Nutzpflanzen und neuer Sorten involviert ist. Davon existiert sie.« Er sah sie nicht an, betrachtete eingehend die Feder seines Füllers.

>Tu nicht so! Du, Berger, weißt, woran wir gearbeitet haben, kennst unsere Veröffentlichungen<, dachte Ursula, und sie hob lächelnd die Schultern. »Weil Sie außerdem in ähnlicher Richtung wie wir in O-shima forschen, ich eine gewisse Erfahrung habe und einiges weiß, was bisher nicht bekannt gemacht wurde«.

»Das wäre ...?«

Ursula zögerte einen Augenblick, dann sagte sie obenhin: »Nun, zum Beispiel: wir stehen kurz davor, standen ..., das Wachstum von Zellen, pflanzlichen und auch ...«, sie nickte mit einem Anflug von Stolz, »tierischen, sagen wir: richtungsgesteuert, in kürzester Zeit zu beeinflussen.«

Berger lehnte sich zurück, legte das Schreibgerät aus der Hand und betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Falls - ich sage falls - wir ... und Ihr Angebot für uns tatsächlich brauchbar wäre - was stellen Sie sich vor?«

3. Kapitel

Nach wenigen Tagen Aufenthalt in einem Hotel bezog Ursula, vermittelt von ihrem neuen Arbeitgeber, eine geräumige, praktisch möblierte Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines Altbaumietshauses in der Kantstraße, unweit von ihrer Wirkungsstätte, die sie gut zu Fuß erreichen konnte. Eine so genannte Abstellkammer bot Platz genug, um für ihre Privat-Forschung den Laptop, einen kleinen Maskenfräser und einige Labor-Hilfsutensilien, Ständer und Halterungen unterzubringen. Der Raum war auch bestens geeignet, ihr heimliches Tun zu verbergen, falls sich unverhoffter Besuch einstellte.

Obwohl sie ab und an die schmerzliche Erinnerung an O-shima und die verunglückten Kollegen heimsuchte, waren die neuen Eindrücke, das reibungslose Fußfassen, insbesondere aber der kontinuierliche Übergang in eine ihr sehr geläufige Tätigkeit, in der sie sich Dank ihrer Vorkenntnisse durchaus als Primus inter Pares fühlte, Wundpflaster, die linderten und ablenkten.

Schon nach vier Wochen fühlte sich Ursula Brest auch einigermaßen in die Obliegenheiten der BERGER-FORSCHUNGS-GmbH eingearbeitet. Man forschte in der Tat in der gleichen Richtung, war aber, was den erreichten Stand betraf, so schätzte Ursula, mehrere Jahre hinter dem auf O-shima Erreichten zurück.

Ursula arbeitete in einer Dreiergruppe gemeinsam mit dem hochgewachsenen, hageren Christof Küppeling, einem Elektroniker aus Ostfriesland, und Tamara Koltschenova aus Russland. Christof gab sich freundlich, nordisch-klischeehaft wortkarg, fachlich sehr versiert und von einer hervorragenden Auffassungsgabe. Tamara, eine rundliche, redselige Blondine, die sich an ihrem holprigen Deutsch mit hartem Akzent nicht im Geringsten störte. Sie verstand es hervorragend und absolut zuverlässig, die langweiligsten, weil oft endlosen Versuchsreihen auszuwerten und zu interpretieren.

Ursula hätte nicht zu sagen vermocht, warum - aber sie gab ihr mitgebrachtes Material nur zögernd, in kleinen Schritten preis, keineswegs dieser Kollegen wegen. Sie empfand diese als ausnehmend kooperativ, zuvorkommend und vertrauenswürdig. Schon zwei Mal in der kurzen Zeit, in der sie in Ahrensbach weilte, war sie mit ihnen nach der Arbeit in der „Destille“ und es wurden vergnügliche Abende. Nein, Berger, seine Art, wie er sie ausfragte, gleichsam belauerte, ihr auch schmeichelte, wenn sie das eine oder andere aus ihrem Wissensvorsprung einbrachte, machte sie misstrauisch.

Sie bauten an einem komplizierten Haltegestell, gedacht für die Aufnahme der Hohlmasken, die einem lebenden Körper angepasst und in welche die stimulierte Zellsubstanz hineinwachsen würde. Vorgesehen für den Versuch war ein halbwüchsiges Schwein, dessen Hinterkeulen auf diese Weise an Masse um das Doppelte zunehmen sollten - im Zeitraum von drei Wochen. Insgeheim fühlte sich Ursula erheitert, denn ähnliche Versuche hatte sie vor zwei Jahren bereits erfolgreich durchgeführt. Die Masken bildeten mit ihrer inliegenden Elektronik und den feinmotorischen Infiltriermechanismen den neuralgischen Punkt des Manipulators. Und hier konnte Ursula, schon um ihr im Einstellungsgespräch Versprochenes einzulösen und damit glaubwürdig zu bleiben, aus den mitgebrachten Unterlagen Ergebnisse beeinflussen, die den Fortgang der Arbeit wesentlich beschleunigten. Den Impulsgeber aber hielt sie zurück. Seine Integration in die Geräteanordnung hätte die Dauer des Versuchs von Wochen auf Stunden reduziert.

Ursula verbrachte Tage in der gut ausgestatteten Werkstatt, um Teile ihre Software den Feinmaschinen anzupassen oder neue mechanische Elemente gemeinsam mit Bergers Leuten nach Plänen zu entwickeln, die sie in O-shima im Nachlass vorgefunden hatte.

Für sich, geschickt und in ganz kleinen Schritten - strikt darauf achtend, dass es bei den Mechanikern unbemerkt blieb - knüpfte sie auch an den Stand der Arbeiten an, den sie bei Akira erreicht hatten. Zupass kam ihr, dass ihr Berger, wie den Kollegen auch, großzügig vom Anfang an ein separates, geräumiges Arbeitszimmer zugewiesen hatte, dessen eine Hälfte sie alsbald für ein kleines Elektronik-Labor nutzte. Bewusst gestaltete sie dieses so unübersichtlich, leicht chaotisch, dass ihre Nebenbei-Machenschaften selbst ihren Kollegen verborgen blieben, die übrigens - üblich in dem Hause - die Individualsphären gegenseitig respektierten.

4. Kapitel

Der Versuch verlief erfolgreich.

Berger kontrollierte den Stand täglich. Er zeigte sich sehr zufrieden, mahnte jedoch zur Eile bei der Weiterentwicklung der Masken.

Ursula konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass des Chefs Interesse und sein Drängen zur Vervollkommnung noch ein anderes Ziel als lediglich das schnelle Wachsen von Zellen verfolgten.

>Wäre es nicht schon eine Sensation, zum Beispiel die Größe einer Frucht ohne Qualitätseinbuße in kurzer Zeit zu verdoppeln oder ein Kotelett, solange die Muskelzellen lebensfähig sind, zu vergrößern? Und es lässt sich absehen: Die Entwicklung könnte dahin gehen, dass die Erzeugung von Fleisch weitgehend von der aufwendigen, kostenintensiven Tieraufzucht befreit wird. Die notwendigen Nahrungs- und Aufbauelemente lassen sich weitaus rationeller, direkt mit einer nahezu hundertprozentigen Ausbeute bereitstellen. Und der medizinische Aspekt? Im Nu könnten Wunden geschlossen sein, und es ist nicht abzusehen, was durch die Stimulierung von Stammzellen ...<

»Könnte man dieser Schweinehinterbacke auch eine andere Form, ein Profil geben?« Diese, von Berger mit einem hintergründigen Lächeln gestellte Frage auf einem seiner Kontrollgänge, hatte Ursulas misstrauische Gedanken angeregt, insbesondere, weil er sie ganz offensichtlich ihr gestellt hatte und zwar in einem Augenblick, als Christof und Tamara die Zufuhr der Futteranlage für das Versuchstier nachregelten und dadurch abgelenkt waren.

Ursula zögerte mit einer Antwort. Bergers Frage bestärkte sie in ihrem Misstrauen. Einen Augenblick kam ihr Akiras Vision ins Erinnern: >Es wird in Zukunft keine durch Unfälle verunstaltete Gesichter mehr geben ..., und wir waren sehr nahe an der Verwirklichung!< Ursula hob die Schultern. »Denkbar«, antwortete sie.

Eine Sekunde lang betrachtete Berger die Frau mit höchster Aufmerksamkeit. Dann wandte er sich der Versuchsanordnung zu und fragte: »Wann, meinen Sie, könnte das Verfahren frühestens - bei höchster Priorität selbstredend - serienreif sein?«

Tamara und Christof wandten sich ihm zu. »... zwei Jahre«, sagte Tamara.

»Das ist...« Es klang unwirsch. »Was meinen Sie, Frau Brest?«

Ursula schüttelte leicht den Kopf. »Schneller nicht. Bedenken Sie, das ist...«, sie wies auf die Apparatur, »gebastelt. Für eine breite Anwendung: Eine Produktionslinie für die Motorik, Sicherheit ... Wahrscheinlich eine juristische Regelung, um Missbrauch auszuschließen ...«

Berger winkte ab, unterbrach: »Ich erwarte höchsten Einsatz, und ...«, er blickte herausfordernd, »vielleicht haben Sie, Frau Brest, noch etwas Japanisches im Zylinder?« Wieder huschte ein hintergründiges Lächeln über sein Gesicht.

 

Sie beendeten den Versuch bereits nach 15 Tagen als gelungen. Insbesondere Tamara hatte darauf gedrungen zu verkürzen, um dem Schwein weitere Quälereien zu ersparen. Beruhigungsdrogen stellten es zwar ruhig, aber es musste zwangsernährt und in der Apparatur fixiert werden. Nach einigen Stunden Erholung watschelte es munter im Labor umher, durch das deutlich vergrößerte Hinterteil, mit dem es sich offenbar schnell abgefunden hatte, eine ulkige Figur abgebend.

»Leider wird es nicht lange Freude haben«, bedauerte Tamara, eingedenk des weiteren Versuchsverlaufes, der unweigerlich über die Schlachtbank führte. Ein von Berger höchst persönlich ausgewählter Fachmann sollte das hinzugewonnene Fleisch gründlich begutachten, ohne dass seine Herkunft preisgegeben wurde. Ein weiterer Fakt, der Ursulas Vertrauen zur Lauterkeit der Absichten des Chefs nicht gerade stärkte. Sie nahm sich vor, ihre heimlichen eigenen Arbeiten noch mehr versteckt zu betreiben, da diese in die Richtung gingen, die Berger angefragt hatte und auf die sie um keinen Preis aufmerksam machen wollte.

5. Kapitel

Berger hatte nicht zum Platznehmen aufgefordert. »Es dauert nicht lange. - Kollegen, wir müssen die Genstrecke dringend ausbauen. Ich bin überzeugt, dass die Ergebnisse der Amerikaner - zunächst bei Mais, Bohnen und wer weiß, was sich bereits noch in den Tresoren befindet - sehr bald auf Europa überspringen werden, insbesondere auf Deutschland. Was die USA anbelangt, waren wir schon immer die größten Katzbuckler. Trotz der hiesigen engstirnigen, zum Teil hirnrissigen, kontraproduktiven Regelungen, wird die Gentechnik um uns keinen Bogen machen. BERGER-FORSCHUNG wird nicht das Schlusslicht sein. Also, Herr Küppeling, Frau Koltschenova, Sie verstärken ab nächster Woche das Gen-Team. Ihre Arbeitsplätze sind im Labor zwei ...«

»Und Zellwandlung?«, unterbrach Tamara überrascht.

»... bleibt bei Frau Brest! Die Serienproduktion der Geräte vorzubereiten verlangt ohnehin weniger Forschung als eine eigene Logistik. Also, noch Fragen?«

Tamara zuckte mit den Schultern, Christof fixierte das Gemälde über Bergers Schreibtisch.

Ursula bedauerte, dass das Zusammenwirken mit den beiden sympathischen Kollegen so jäh beendet werden sollte. Sie hatten sich eingespielt. Der lange Christof bemühte sich rührend um sie; vorauseilend nahm er ihr Handgriffe ab, überraschte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten, und manchmal hatte Ursula den Eindruck, als führe er absichtlich-versehentlich eine Berührung ihrer Hände herbei. Und sie gestand sich ein, dass ihr das so unangenehm nicht war. Trotzdem empfand sie die Entscheidung des Chefs genugtuend. Sie fühlte sich durchaus in der Lage, die laufenden Arbeiten an der Zellwandlung allein weiter zu betreiben, zumal ihr Vorsprung aus O-shima noch längst nicht aufgeholt war. Christof und Tamara waren nicht aus der Welt. Sie traute Berger nicht. Freilich, die Gentechnik wird kommen, trotz der Schwarzmaler und Feldvandalen. Einen Fuß in der Tür zu haben, zeugte schon von einer gewissen Weitsicht des Chefs. In der biotechnischen Abteilung arbeiteten jedoch drei versierte Leute, die sich gewiss ohne Hilfe auf dem Laufenden halten konnten - trotz des sicher zunehmenden Drucks der Konkurrenten. Mehr Personal ist also so dringend nicht. Dass Berger die Zellwandlung vernachlässigen würde, glaubte Ursula auf keinen Fall, bei dem Interesse, das er daran bisher zur Schau gestellt hatte und dem Zeitdruck ... Sie hatte vielmehr den Verdacht, als wolle er den Kreis der Eingeweihten klein, und wie es aussah, ganz klein halten. >Also wirst du wachsam sein, Ursula.< Auf Bergers Frage schüttelte sie mit dem Kopf.

Er beendete abrupt die Zusammenkunft. »Das wars!«, sagte er mit einer flüchtigen Handbewegung zur Tür hin.

Die drei Überraschten sahen sich an, zögerten. Dann hob Ursula die Schultern und wandte sich zum Gehen. Tamara und Christof schlossen sich an. Sie waren schon an der Tür, als Berger rief: »Frau Brest, einen Augenblick!«

Im Umdrehen raunte Ursula Tamara, die bereits einen Fuß im Vorzimmer hatte, zu: »Um sieben in der „Destille“, ja?«

»Ja bitte?«, fragte sie zu Berger gewandt und schritt zögerlich zum Schreibtisch.

»Nehmen Sie Platz!«

Ursula folgte verdutzt.