Impressum

Alexander Kröger

Nimmerwiederkehr

Das zweite Leben, 3. Teil

 

ISBN 978-3-95655-678-4 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2009 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.

 

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Prolog

Nur eine Lampe mit schwarzem Schirm projizierte auf die Schreibtischplatte einen begrenzten Lichtfleck, dessen Reflexion die Wände des Zimmers nicht erreichte. Wären nicht ab und an Hände ins Licht geraten, dann, wenn sie eine Seite in einem nostalgischen Ordner umlegten, man hätte meinen können, nichts als dieses Leuchten existiere im Finstern - unterstrichen von lastender Lautlosigkeit.

Nach seinem Klopfen und einem undeutlichen »Herein« trat der Mann ein und blieb überrascht von der Lichterscheinung stehen. »Oh«, sagte er - dann gefasst ins Dunkle hinein: »Ich grüße dich!«

»Augenblick!« Erst wenig später zeichneten sich Umrisse von dem, der sprach, und von einem Stuhl vor dem Schreibtisch im aufdimmenden Licht einer Wandleuchte ab. Ein leises Knacken unterbrach das Hellwerden. Im Raum blieb es dennoch dämmrig. »Du bist also Thore Merx. Nimm Platz!« Der Name wurde betont ausgesprochen.

»Ja, Thore heiße ich. Meine Eltern schlossen sich dem Trend, Kinder nach Himmelsobjekten zu nennen, nicht an. Ich bin auch nostalgisch gezeugt, wenns interessiert. Dies und der Name sorgten für Spott, möglicherweise mit ein Grund, weshalb ich zum Außenseiter und später zum Kriminellen wurde.« Thore sagte das mit lustvoller Selbstironie daher, vielleicht auch mit ein wenig Bitternis, auf jeden Fall unangemessen zu einer ersten Kontaktnahme.

»Jemanden aus Eifersucht krankenhausreif zu prügeln, ist zwar verwerflich; aus meiner Sicht aber nur bedingt kriminell.«

»Gut, aus deiner Sicht. Die Ahndung wäre vielleicht auch glimpflicher ausgefallen, wenn der Betroffene nicht ausgerechnet einem Mitglied des Obersten Rates nahe stünde.«

»Nun, das ist allemal menschlich.« Christian von Steinhammers rechte Hand tauchte in den Lichtkegel und wischte gleichsam das Thema hinweg.

»Menschlich ist wohl auch, die Erinnerung an ein solches Ereignis wach zu halten.« Thores Rede klang wie zu sich selbst gesprochen.

»Ja, vielleicht die Wurzel einer möglichen gemeinsamen Mission ...« Die Worte standen im Raum, und, als wolle Christian von Steinhammer sie wirken lassen, schwieg er lange Sekunden. Dann erhob er sich, blieb jedoch hinter dem Schreibtisch, drehte dem Besucher den Rücken zu. Als schwarze Silhouette zeichnete er sich gegen die Wand ab. »Du weißt, dass unser Zusammentreffen absolute Verschwiegenheit erfordert, Späteres nur auf bedingungslosem Vertrauen beruhen könnte.«

Nach einer Weile fuhr er mit verändertem Tonfall fort: »Was würdest du sagen, wenn nie Dagewesenes, Unerhörtes entstünde, von dem du ebenso profitieren würdest wie etliche andere integre Mitstreiter? Könntest du dir solches vorstellen?« Mit den letzten Worten drehte sich Christian von Steinhammer Thore zu, stützte sich mit beiden Armen auf den Schreibtisch und beugte sich erwartungsvoll vor. Sein von schulterlangem, graumeliertem Haar umrahmtes Gesicht geriet ins Licht. Der dichte, kurzgehaltene Vollbart verbarg den zu einem Spalt geöffneten Mund nicht. Dieser, der Blick der grauen Augen und die in leichte Falten gezogene Stirn signalisierten Spannung.

»Ich bin zwar ein Vorbestrafter, aber kein Heimtücker und Schuft. Sag, was verlangt wird, und ich sage dir, ob ich mitmache. Wenn nicht, hat das Treffen nie stattgefunden.« Thore sagte das forsch, obwohl er sich irgendwie merkwürdig beeindruckt fühlte: Der überraschende Anruf am Vortag und nun der sonderbare theatralische Empfang mit Lichteffekt und erst recht diese eigenartigen Anspielungen.

»Gut!«

Mattes Leuchten einer Stehlampe erhellte plötzlich eine lederne Sitzecke zwischen üppigen Pflanzen. Von Steinhammer wies lässig dorthin. »Machen wir es uns bequemer.« Er ging schlaksig die paar Schritte und schenkte Weinbrände ein.

Jetzt, mehr im Hellen und in der Bewegung, wurde Christian von Steinhammers Erscheinung deutlich. Ein Mittfünfziger, mindestens einsneunzig groß. Hager, mit langen Armen und knochigen Fingern, in einem grauen, flattrigen Anzug, schwebte er gleichsam beherrschend über den Sitzen. Verstärkt wurde der Eindruck noch durch bizarre Schattenbilder, die die Lampe an die Wand und einen Teil der Zimmerdecke warf.

Thore kam der Aufforderung träge nach. Er trug einen weiten Halk, der jedoch einen sportlichen Körper ahnen ließ. Der schmale Mund, deutlich hervortretende Kaumuskeln und Augen mit leicht asiatischem Schnitt ließen nicht nur auf seine Altvorderen, sondern auf Entschlusskraft und Willensstärke schließen.

»Eine Parabel«, begann Christian von Steinhammer nach einer Pause, in der er zu einem Schluck aus den Cognacschwenkern animierte. »Gesetzt den Fall, es gelänge jemandem, den Prozess des Alterns eines Organismus zu ergründen und gentechnisch mit verhältnismäßig einfachen Mitteln zu stoppen. Im Zusammenwirken mit Therapien und Medikamenten könnte man auf diese Art vielleicht das durchschnittliche Menschenalter, sagen wir, zunächst verdoppeln. Was meinst du dazu?«

Thore lächelte, zögerte einen Augenblick mit der Antwort und sagte dann: »Widernatürlich wäre das schon.«

»Langsam! Seit dem Mittelalter hat sich die Lebenserwartung des Menschen einfach durch die Verbesserung seines sozialen Umfeldes ohne jegliche Genmanipulation verdoppelt.«

»Eben - ohne Manipulation.«

»Ich meine: Hieltest du eine solche Möglichkeit für wünschenswert?«

»Hm, reizvoll schon. Die Folge allerdings wäre eine Überalterung, eine sprunghafte Zunahme der Bevölkerung mit unüberschaubaren horrenden Einflüssen auf die Infra- und Sozialstruktur.«

»Nun, eine Zunahme der Bevölkerung wäre unter unserem gegenwärtigen Dilemma nach der Katastrophe nicht das Problem - jedenfalls aus der Sicht des Obersten Rates. Wozu sie jedoch wieder führen könnte, hat die Entwicklung bis zu diesem HAARP gezeigt. Ich halte die absolute Vernunft der Menschheit für eine Utopie.«

»Und, was willst du damit sagen?« Thore Merxs Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. >Bin ich deswegen dem dubiosen Anruf des Christian von Steinhammer folgend in dieses Institut gekommen, um mir obskure pseudophilosophische Ansichten über eine imaginäre Evolution der Menschheit anzuhören? Was soll das Ganze?<

»Deshalb ... Du sagtest reizvoll. In der Tat, das wäre es! Ein Vergnügen, ein Privileg für jene, die sich eine solche Möglichkeit geschaffen haben und die es verdienen. Erlebende Chronisten auch, Beobachter ...« Von Steinhammer schwieg. Sein Blick, von seinem Gegenüber gelöst, hatte sich an den Blättern einer Monstera verfangen, schien ins Träumerische geraten zu sein.

In Thore baute sich Spannung auf. >Was hat dieser von Steinhammer gesagt? ,Nie Dagewesenes, Unerhörtes ...’ Ein Spinner? Oder sollte gar ein realer Hintergrund?< - »Also - weshalb bin ich hier?«, fragte er. Es klang, als sei es angesichts des Entrückten eine unbotmäßige Störung.

»Tja ...« Von Steinhammer gab sich einen Ruck. Er breitete in unbestimmter Geste die langen Arme. »Angenommen, es gäbe eine solche Möglichkeit und alle, die es wünschten, würden sie nutzen - glaub mir, es wären viele, sehr viele ... Abgesehen von der bereits bedachten Überbevölkerung würde sich, lediglich auf einem höheren, sagen wir: Alterspegel, ein Zustand einstellen, der zweifellos zum Chaos, zur Katastrophe, zum dann sicher endgültigen Untergang der Menschheit fuhrt. Insofern haben wir mit HAARP noch Glück gehabt, und wir haben eine unglaubliche Chance.«

»Das, Herr Professor, ist nicht die Antwort auf meine Frage!« Thore Merx lächelte.

Christian von Steinhammer lächelte zurück. Es sah aus, als wolle die über die Knochen gespannte Gesichtshaut den Muskelbewegungen nicht nachgeben. »Immer gesetzt den Fall ... Das Ganze hätte dann Sinn, wenn die, die sie haben, ihre Privilegien bewahren. Nur so ließen sich Vorteile - auch«, er klopfte nachdrücklich mit den Handknöcheln auf die Tischplatte, »für die Allgemeinheit! - realisieren. Kurz gesagt: Privilegien und Privilegierte sollten geschützt, abgegrenzt sein. Gleichzeitig aber müsste einerseits der Kreis derer, die in einen solchen Genuss kommen, durch geeignete, das heißt ausgewählte integre Leute vergrößert werden. Ihre durch längeres Leben angereicherten Erfahrungen wären für die Gesellschaft, für unsere jetzt überschaubare Welt unschätzbar, schafften natürlich auch Einfluss.« Von Steinhammer schwieg, als sollte die Bedeutung gerade dieser Aussage unterstrichen werden. »Andererseits«, fuhr er fort, »die Anzahl derer, die nicht privilegiert sind, die große Mehrheit also, dürfte dann natürlich nur in Grenzen wachsen, wenn das Ganze Sinn machen soll. So!«

Vom Schwärmerischen glitt sein Ton ins Sachliche: »Es müsste dann, Thore, Mitstreiter geben, die für eine solche Gemeinschaft, die eine verschworene wäre, Regeln entwirft, organisiert und ... eben das macht, was einen Bund bindet.« Von Steinhammer produzierte ob dieser Formulierung einen kurzen, trockenen Lacher. »Also - könntest du dir vorstellen, immer nur hypothetisch natürlich, in einem derartigen Projekt mitzuwirken?«

Thore antwortete eine Weile nicht. >Was will der von mir?<, dachte er. >Doch ein Spinner? Immerhin Professor ... Master Christian von Steinhammer ist nicht irgendwer. Er berät den Obersten Rat, ist der einzige namhafte Molekularbiologe, der die Apokalypse überlebt hat. Und der sollte spinnen? Nun ja, etliche haben über die Ereignisse den Verstand verloren, andere scheitern im Aufbaustress oder verkraften die schwindelerregenden Chancen nicht, die sich plötzlich aufgetan haben. Aber dieser von Steinhammer? Was will er mit seinen Konjunktiven? Und was redet er von ,gesetzt den Fall’, ,nehmen wir an’, ,hypothetisch freilich’ ... Ja, Unerhörtes, Ungeheuerliches könnte sich hinter seinen schwammigen Formulierungen verbergen. Noch einmal: Um jemanden zu haben, der sich das anhört, dazu hat er mich nicht hergeholt!< Thore beugte sich vor: »Ich habe dir vorhin zu verstehen gegeben: Entweder ja, oder das Treffen hat für mich nicht stattgefunden. Also, leg ohne Umschweife die Karten auf den Tisch!«

Christian von Steinhammer antwortete nicht sogleich. Dann lehnte er sich zurück, nahm den Kopf in den Nacken, dass der Adamsapfel kantig hervortrat. Er stand spontan auf, begab sich rasch zum Schreibtisch, nahm den Pappordner auf, hielt ihn in die Höhe und sagte: »Die Amerikaner waren viel weiter als wir Europäer mit unseren amtlich idiotisch beschränkten Möglichkeiten. Es könnte funktionieren, Thore!«

1. Kapitel

Das Leuchtband tauchte die Fußwege auf beiden Seiten des Boulevards in sanftes bläuliches Licht, das in einem merkwürdigen Kontrast zum gelben Hell der Schaufenster stand. In großen Abständen rollten fast lautlos Mobile in beiden Richtungen die Fahrbahn entlang. Nur wenige Fußgänger waren zu dieser nächtlichen Stunde unterwegs, eilig einige ihrer Heimstatt zustrebend, bummelnd andere, Auslagen betrachtend oder einen harmonischen Abend im Spazierschritt ausklingen lassend. Ein leichter Wind spielte in den Kronen der üppigen, die Straße säumenden Lorbeerbäume, deren glänzende Blätter eigenartig vibrierende Reflexe erzeugten. Wo die Wipfel in den dunklen Nachthimmel übergingen, unterhielten sich leise zwitschernd Schwalben. Nur die Lichtpünktchen einiger heller Sterne hatten eine Chance gegen die Ausleuchtung des Boulevards.

Kassio Brendal hatte sich dem Schritt der Bummelnden angepasst, die Hände in den Hosentaschen, sein Päckchen unter den linken Arm geklemmt. Er achtete darauf, das sich der Abstand zum vor ihm eng umschlungen flanierenden Pärchen nicht verringerte, und er musste deswegen sein Schrittmaß - gegen den inneren Drang kräftiger auszuschreiten - des Öfteren korrigieren. Schon sah er die auf gelbes Blinken geschaltete Ampel, dort, wo sich Teslar-Boulevard und 48-ste Straße kreuzten, dort, wo er nach rechts abbiegen musste und es nur noch wenige Minuten bis zu seinem Ziel waren. Je näher er diesem kam, desto höher schlug sein Puls und um so mehr musste er den Wunsch, schneller zu gehen, bezähmen. Als steuere ihn ein Navigator: Kreuzung bis zur Achtundvierzigsten, dann diese nach rechts, hundertfünfzig Meter bis zum Abzweig, dann nach links in die Achtundvierzig A und noch siebzig Meter bis zum Ziel ... Es war, als hämmere eine Automatenstimme ihm immer wieder diese Wegbeschreibung ein, eigenartigerweise eine weibliche, langweilige Stimme. Aber sie schaffte es, alles weitere Denken, alle Zweifel, die ihn tagelang heimgesucht hatten, zunächst zu verdrängen; sie gab seinem - wie er meinte - unumstößlichen Vorsatz Impuls und Richtung zugleich.

Noch immer im erzwungenen Bummelschritt erreichte Kassio die Kreuzung. Das Pärchen schlenderte selbstvergessen geradeaus weiter; Kassio beschleunigte beim Überqueren der Fahrbahn den Schritt. Als er die andere Straßenseite erreichte, befand sich das nächste Fahrzeug immer noch mindestens 50 Meter entfernt.

Kassio zwang sich erneut ins Spaziergängertempo. Der Weg führte an einer dichten, mannshohen Wacholderhecke entlang. Ein Wagen huschte in gleicher Richtung vorbei. Auf der anderen Straßenseite kamen zwei Männer entgegen, die sich lautstark über irgend eine Veranstaltung unterhielten. Ansonsten zeigte sich dieser Teil der 48-sten Straße menschenleer.

Zum ersten Mal blickte Kassio sich um. Niemand befand sich hinter ihm. Und wieder die imaginäre Weisung: Die nächste rechts, dann links ...

Obwohl die Nachtkühle den Wärmestau des Tages längst aus der Stadt hinausgedrängt hatte, spürte Kassio den kalten Schweiß in den Achselhöhlen, und er war sich sicher, dass sich auch seine Stirn feucht anfühlen würde.

Als er die 48A erreichte, stockte er, blieb stehen. >Es muss sein, verdammt!< Er gab sich einen Ruck, blickte sich abermals um und schritt, nun hastiger, weiter. Die Hände hatte er aus den Taschen genommen; das Päckchen drückte er sich mit dem rechten Arm gegen die Brust.

Dann stand Kassio vor dem Haus Nummer sieben - ein unscheinbarer Profanbau, gegenüber der Fassadenflucht um einige Meter eingerückt. Wenige Stufen führten nach oben zum kurzen Eingangsflur.

»Inspektion Menschenrecht.« Kassio las verächtlich murmelnd die in goldenen Buchstaben ausgeführte Aufschrift auf der breiten, gläsernen Eingangstür.

Mit einem Mal, am Ziel angekommen, verstummte in ihm die monotone, wegweisende Stimme. Mit ihr schwand auch der Schutz gegen anbrandende Zweifel. Unbarmherzig fielen sie über ihn her, hundertmal gedacht, dem Sinn nach vorgebracht von den Freunden und von Meda.

>Meda!<

Als ihm der Name einschoss, fühlte Kassio beinahe körperlich, wie seine Courage schwand. Er setzte sich auf die obere Stufe, legte das Päckchen neben sich und barg das Gesicht in die Hände. >Sie wird mich vielleicht verstehen, aber billigen wird sie mein Tun niemals. Den Alleingang, den Vertrauensbruch wird sie mir nicht verzeihen. Unsere Beziehung wird nicht mehr sein wie vordem.< Kassio atmete tief durch. >Noch hast du die Wahl, Kassio<, sagte er sich. >Noch kannst du umkehren!< Er straffte sich, schubste das Päckchen wenige Zentimeter von sich. >Und ich? Gehe ich reumütig zurück in die Reihen der Diskutanten, derer, die da wünschen und fordern, man müsste etwas tun, ohne dass auch nur einer bislang einen Finger gerührt hätte? Werden sie jetzt, mir zur Seite, offen für unsere Idee eintreten oder sich hinter eine So-war-es-nicht-gemeint-Barriere zurückziehen? Ich bleibe dabei! Es muss ein Zeichen gesetzt werden, und sie, meine Gesinnungsgenossen, werden Farbe bekennen müssen! Ja ich, ich zunächst allein, stelle mich offiziell gegen die Gesellschaft, gegen ihre Regeln. Und ich rüttle auf. Wenn sie hundertmal sagen werden: Ich falle zurück ins Archaikum, sei ein Terrorist - sollen sie! Es wird niemand zu Schaden kommen, ich setze lediglich ein Menetekel und hoffe, dass ich verstanden werde, von Meda, den Gleichgesinnten und anderen, die nebulös, ungelenk noch, vielleicht mit ähnlichen Zukunftsvisionen wie ich, wie wir ...< - »Ich tu‘s!«

Kassio erhob sich, stieg die Stufen hinab, tat die wenigen Schritte bis zur Straße, blickte sich um: Keine Menschenseele. Die in diesem Viertel überwiegenden Verwaltungsgebäude lagen im Dunkel. Entfernt, dort wo sich die Straße im Schein der Leuchtbänder und in den Bäumen verlor, schimmerten einige helle Flecke: Licht, das aus Fenstern fiel.

Langsam ging Kassio zurück, nahm das Päckchen, legte es unmittelbar an der Glastür ab und wickelte es auf. Ein kleiner antiquierter Reisewecker, eine Batterie und eine Kopfleuchte klapperten auf den Stein. Kassio legte die Lampe an, entnahm dem Papier eine verschraubte Büchse, wie sie zum Aufbewahren von Lebensmitteln bestimmt sind. Aus deren Deckel baumelten zwei Drähte. Sorgfältig verband er den einen mit einem Metallplättchen am Ziffernblatt des Weckers, den anderen mit der Batterie und stellte eine Verbindung her zwischen dieser und einem vorbereiteten Kontakt am großen Zeiger der Uhr. In sieben Minuten, 0.23 Uhr, würde sich der Stromkreis schließen ... Noch einmal ließ Kassio den schmalen Lichtkegel der Lampe über die simple Apparatur gleiten. Er lächelte. >Sie werden das sehr genau unter- suchen<, dachte er, >und feststellen, wie primitiv und unprofessionell die Bombe zusammengebastelt wurde, und sie werden leicht darauf kommen, dass es nicht nur das Werk eines Laien ist, sondern auch nicht das Wissen und Können Etlicher dahinter steckt. Und das ist gut so!< Ein letzter Blick, und Kassio verließ eilig den Ort. Hastig entfernte er sich Dutzende Meter bis zu einem Haus, dessen Eingangsbereich durch zwei niedrige Mauern abgegrenzt war. Hinter einer kauerte er sich nieder. Erst jetzt spürte er, wie heftig sein Puls klopfte, fühlte er Schweiß, der von seinen Nackenhaaren unangenehm kühl auf seinen Rücken tropfte. Ein Schreck durchzuckte ihn: Noch immer brannte das Lämpchen auf seiner Stirn. Er riss das Halteband herunter, schaltete aus und wagte einen ängstlichen Blick nach links und rechts in die Straße. Nichts ließ sich blicken, was sein Tun hätte verraten können. Dann kroch Kassio völlig in den Schutz der Mauer und wartete klopfenden Herzens.

2. Kapitel

Pleja fluchte leise, inbrünstig vor sich hin, dann, wenn der Versuch, erneut ins lokale Netz zu gelangen, abermals misslang. Sie probierte unvernünftig häufig und steigerte so ihren Ärger.

Eigentlich ließ sich die junge Frau im Allgemeinen nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Sie wirkte - mittelwüchsig und nicht übermäßig schlank - umgänglich, einfühlsam und gemütlich, was in der Tat auch ihrem Wesen entsprach. Das runde Gesicht und die leicht gewellte, brünette Schüttelfrisur unterstrichen dieses. Die flinken grauen Augen allerdings deuteten schnelle Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit an. Man hatte den Eindruck, ihnen entginge nichts. Dazu widersprüchlich schien, dass sie sich beruflich dem doch eher trockenen, mitunter langweiligen geodätischen Messwesen verschrieben hatte.

»Mach doch ‘ne Pause«, schlug Hal vor, der die Frustrierte schon eine Weile leicht amüsiert beobachtete. »Du siehst doch, dass es keinen Zweck hat. Es muss irgendwo einen zentralen Defekt geben.« Er drückte die Austaste und rollte mit dem Stuhl ein Stück zurück. Der Monitor seines Computers erlosch. »Meiner tut es nicht, der von Centa nebenan auch nicht. Also ...«

Pleja lehnte sich resignierend zurück. »Ein Mist!«, fluchte sie. »Ich wollte das Protokoll noch absetzen, sie warten darauf.« Sie zog eine Grimasse und schaltete das Gerät ab. »Ein zentraler Defekt, sagst du? Das wollen wir doch mal sehen!« Sie schubste im Aufstehen den Sessel heftig zurück, dehnte sich zum Nebentisch, ergriff den Telefonhörer und betätigte hastig die Tasten. Dann lauschte sie gespannt, zehn, 30 Sekunden. Ihr Gesicht zeigte zunehmend Verwunderung. Sie nahm den Hörer vom Ohr, blickte verdutzt zu Hal und stellte fassungslos fest: »Es rauscht ...«

Hal hob gleichmütig die Schultern. »Sag’ ich doch, ein zentraler ...«

Pleja blickte zur Uhr. »Gleich kommen Nachrichten«, unterbrach sie, »vielleicht melden die etwas«, und sie schaltete den Fernseher ein.

Schlieren zogen über den Bildschirm, überlagert von Punktegestöber, und ein unangenehmes Zischen drang aus dem Apparat.

»So etwas hab’ ich noch nie erlebt, du?«

Hal schüttelte den Kopf. »Du weißt: Einmal ist immer das erste ...« Er winkte ab. »Kommst du mit? Mir ist nach einem Kaffee.«

 

Im Laufe des Tages wurde klar, dass ein außergewöhnliches Ereignis alle Technik, in der Elektronik steckte, auf das Heftigste störte. Es betraf dies nicht nur das örtliche Netz und Einrichtungen der Kommunikation wie Television, Funkverkehr jeglicher Art, sondern auch umfassend die Datenverarbeitung und sogar die Steuereinrichtungen in Kraftfahrzeugen, Waschmaschinen, Kühlschränken und anderen Geräten. In wenigen Stunden herrschten chaotische Zustände. Notrufe konnten nicht abgesetzt werden, maschinenbetreute Kranke verstarben, die Verbindungen zu Flugzeugen brachen ab, Produktionsanlagen fielen vollständig aus. Waren, insbesondere Lebensmittel, verdarben, und stillliegende Fahrzeuge verstopften die Straßen. Erst ab dem dritten Tag schwanden die Störungen. Zunächst funktionierten die weniger empfindlichen Systeme wieder. Andere wiesen irreparable Beeinträchtigungen auf. Es dauerte dann noch drei Tage, bis sich das Leben wieder normalisierte. Vom persönlichen Ärger und Leid Betroffener abgesehen - immerhin fanden 43 Menschen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ereignis den Tod -, ging der materielle Schaden ins Unermessliche. Die zwei anderen Wohnzentren, sogar die Orbitalstation, waren gleichermaßen betroffen. NEW-WORLD-nord meldete außerdem in diesen Breiten höchst ungewöhnliche, intensive Polarlichterscheinungen. Ein globales Phänomen also. Experten und Rat wurden sich deshalb schnell schlüssig, als es die Ursache zu ermitteln galt: Der Gedanke, Einflüsse Außerirdischer - in Erinnerung an die verheerende Invasion vor 153 Jahren - könnten eine Rolle spielen, wurde verworfen. Man einigte sich auf eine Sonneneruption, allerdings ungeahnten Ausmaßes. Jedenfalls ließen die wenigen nicht aktuellen einschlägigen Daten aus dem Netz keinen anderen Schluss zu. Ein wirklicher Experte befand sich unter den Zeitzeugen, die das HAARP-Inferno überlebt hatten, nicht. Man rekapitulierte lediglich aus dem Schulwissen, dass derartige Ereignisse in einem Zyklus von etwa 11 Jahren auftreten und mit entsprechenden Störungen einhergehen können. Bisher in diesem Zusammenhang Registriertes hielt sich allerdings - was die Auswirkungen anbetraf - in Grenzen. Gleichzeitig aber tat sich mit diesen Erkenntnissen ein weiteres Manko in der neuen Gesellschaft auf: Die ständige Beobachtung von Naturerscheinungen bedrohlichen Potenzials war noch nicht wieder umfassend Bestandteil der Forschung - aus zweierlei Gründen: Der Alltag erforderte den Einsatz aller verfügbaren Leistungsträger, und speziell ausgebildetes, insbesondere auch erfahrenes Personal gab es nicht - noch nicht wieder. Dennoch beschloss der Rat einmütig, diesen Zustand in Bezug auf die Beobachtung der Sonne, als Spenderin allen Lebens, aber auch - wie sich gezeigt hatte - als Gefahrenquelle, zu verändern und ihr künftig die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Eine ad hoc gebildete Gruppe von geeignet erscheinenden Leuten sollte sich unverzüglich dem Problem widmen.

»Zuletzt nachgetragen am dritten März - warte - vor einunddreißig Jahren.« Pleja tippte mit dem Zeigefinger an den Monitor, zuckte mit den Schultern und blickte hilflos zu Hal.

»Na, prima! Aber nach Lage der Dinge werden wir etwas Aktuelleres nicht finden. Du weißt, wie beschränkt der Zugriff noch ist«, bemerkte dieser. »Wo? Druck‘s aus!«

»Und es ist außerdem das uns nächstgelegene Observatorium, das ausschließlich auf Sonnenbeobachtungen spezialisiert war, Izana auf Teneriffa.« Pleja ließ die Datei langsam scrollen und verfolgte konzentriert die Eintragungen. »Ja«, bestätigte sie sich dann. »Das sollten wir uns als Erstes vornehmen.«

»Teneriffa! Hoffen wir, dass wir dabei sind. Dort soll es ja recht angenehm sein.«

»Na, hoffen wir es!« Plejas nachdenklich-traurigem Gesichtsausdruck war nicht anzumerken, ob sie ihr Hoffen auf eine Teilnähme oder das Angenehme der Insel bezog. Ihr war nicht bekannt, dass die Kanaren nach der Apokalypse jemals wieder aufgesucht worden wären.

Hal überflog eine papierene Liste. »Ja«, informierte er dann, »Izana hat Satu hier mit vermerkt. Also, ich werde ihn sofort unterrichten. Und als Fachmensch wird er wohl bei der Auswahl der Leute, die sich dorthin begeben, ein Mitspracherecht haben.« Er zwinkerte Pleja zu. »Kann nicht schaden, an ihm dran zu bleiben. Vielleicht brauchen sie auch einen Piloten.« - >Schön<, dachte er, >es ist wohl nicht uninteressant, und es macht Spaß, an der Planung und Projektierung der neuen Wohnanlagen mitzuwirken. Pleja ist völlig vernarrt in ihr Bepflanzungskonzept. Aber einmal raus zu kommen, vielleicht gemeinsam, und ein Projekt globalen Ausmaßes zu bearbeiten.< Er seufzte, entnahm dem Drucker das Papier und wandte sich zur Tür.

Pleja sah zur Uhr. »Das hätte auch bis morgen Zeit gehabt. Und vergiss nicht, wir wollen nach Feierabend zum Schwimmen!«

»Ich beeil’ mich!«

Pleja blickte ihm nach. >So ist er eben<, dachte sie. >Hat er einen Gedanken einmal gefasst, muss dieser sofort umgesetzt werden<, sie lächelte, >auch wenn er sich manchmal verrennt. Umsicht und Spontaneität, wo wären beide Wesenszüge je in einem Menschen so vereint gewesen wie in Hal.<

Der Neubeginn benötigte Städteplaner. Auf einem Lehrgang hatten sie sich kennengelernt. Pleja mochte den großen, etwas behäbigen Jungen mit dem runden Gesicht, dem breiten Stand der blauen Augen und der bereits im frühen Mannesalter angedeuteten natürlichen Tonsur im dünnen braunen Haar. Im dem Rat direkt unterstellten Zentralen Institut für Bauen traten sie ihre Tätigkeit an, quartierten sich in derselben Wohngemeinschaft ein.

Ohne Zweifel fühlte sich Hal zu Pleja hingezogen. Aber, so zielstrebig er seiner Arbeit nachging, so wenig verstand er die Signale zu deuten, die von der jungen Frau ausgingen. Es blieb trotz aller Vertrautheit beim Kumpelhaften.

>Teneriffa! Es wäre fantastisch, wenn wir, Hal und ich ... gemeinsam in kleiner Gruppe aufeinander angewiesen ... eine neue Nähe ...< Pleja seufzte und schloss die Datei.

3. Kapitel

Alpha Mastelli lehnte sich kräftig zurück. Der neue Sessel ächzte. >Darf der das?<, dachte sie flüchtig und sog die Luft kräftig ein. Es roch dezent nach Kunststoff, nach Lack vielleicht. Sie strich über den Schreibtisch, den außer einem Computer, Telefon und einer schmalen Stiftschale nichts belastete. Steril wie dieses Möbel wirkten auch alle anderen im Raum: Ein schlichter Schrank, ein leeres Regal, beides, wie der Tisch auch, auf helles Eichenholz dekoriert - und eine Sitzgruppe, der selbst die sich darüber hinbreitende großblättrige Monstera den Charme des Ungemütlichen nicht nehmen konnte.

Alpha seufzte. >Wir werden uns aneinander gewöhnen<, nahm sie sich vor, und sie griff nach dem Akt, den ihr - mit dem Vermerk, dass die Bearbeitung eilig und wichtig sei - Kriminaldirektor Ranus Sammerson, der Chef, im Anschluss an die kühle Begrüßung in die Hand gedrückt hatte.

Als Alpha >Chef< dachte, verzog sie leicht den Mund. Sachlich, für ihren Geschmack etwas zu unpersönlich, war der Empfang. >Um mir ein Bild von ihm zu machen, reicht das nicht.< Sie zuckte mit den Schultern und schob den Aktträger ins Gerät. Schon nach kurzer Zeit beugte sie sich aufmerksam vor und las mit zunehmendem Staunen die Schilderung eines Vorgangs, der ihr unglaublich erschien. Ihre erste Reaktion war: >Das können sie mit mir, dem Neuling, nicht machen! Ein erfahrener Ermittler müsste ... Meine Güte! Wann hätte es einen solchen Fall schon einmal gegeben!< Alpha versuchte zu rekapitulieren. Sie durchforschte ihr Gedächtnis, obwohl ihr eigentlich von vornherein klar war, dass dies fruchtlos sein würde. Zu ihrer Selbstbestätigung schüttelte sie den Kopf. Dann strich sie sich über die Stirn und las abermals, wiederholte einige Passagen. >... ist geständig. In der Nacht vom 16. auf den 17. diesen Monats gegen ein Uhr brachte er einen selbstgebastelten Sprengsatz am Portal des Hauses der Inspektion Menschenrecht zur Explosion. Es entstand geringer Sachschaden (geborstene Scheiben am Eingangsportal, zerstörter Schließmechanismus). Dennoch erregt die Tat erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit, zumal sie wegen ihrer Einmaligkeit und des gewählten Objekts von gesellschaftlicher Relevanz ist. Es muss davon ausgegangen werden, dass Kassio Brendal als Repräsentant einer Interessensgruppe oder gar Bewegung anzusehen ist, deren Motive sich gegen von der Allgemeinheit akzeptierte Regeln eines harmonischen Zusammenlebens richten. Mit seinem Handeln, so die Aussage des Täters, sollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Unzulängliches in der Gesellschaft und Ungleichbehandlung der Menschen gelenkt werden. Durch Selbstbezichtigung und Einwirkung eines seiner Mitbewohner wurde Brendals Identität festgestellt.<

»Na, prima!« Alpha las einige Sätze des von ihr als ein wenig geschraubt empfundenen Berichts abermals und lehnte sich zurück. »Ermittle die konkreten Hintergründe, die Ziele dieser Leute«, hatte Sammerson ihr auf den Weg gegeben mit der Bemerkung, dass er eine akute Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein paar solcher Querköpfe nicht sehe. Stillschweigen über die Angelegenheit sei jedoch angezeigt.

Alpha blickte nervös zur Uhr. Sie fühlte den kühlen Schweiß in den Achseln. In einer halben Stunde würde ihr jener Brendal gegenüberstehen. >Mein erster Fall - kein Dieb oder Raufbold, kein aggressiver Eifersüchtler oder krankhafter Brandstifter, sondern ein Bombenleger, ein Revoluzzer vielleicht.< Der Anflug eines sarkastischen Lächelns bei diesem Gedanken verflog im Entstehen. >Auf keinen Fall werde ich allein ...< Sie aktivierte das Display des Telefons, wählte die Nummer eines ihr bislang noch unbekannten Kollegen, hatte Glück, als jener mit sympathischer Stimme nach Anhörung ihres Wunsches freundlich zusicherte, als Beisitzer bei der bevorstehenden Befragung fungieren zu wollen.

Dann las Alpha die Personalien des Delinquenten: Ein 25-jähriger Mechatroniker, der in einer Wohngemeinschaft lebt. Sie überflog das Gutachten zum Tatwerkzeug: Ein wenig brisanter Sprengsatz, der unprofessionell, dilettantisch gar, hergestellt, darauf schließen ließ, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen Einzelfall ohne kollektive Einflussnahme handelte.

Nachdem die Akte nichts mehr hergab, was für das Gespräch hilfreich sein konnte und noch immer zehn Minuten bis zum Termin verblieben, stand Alpha auf, ging nervös einige Schritte umher, blickte aus dem Fenster hinab in den Park, ohne dessen strotzende Pracht wirklich wahrzunehmen. Sie schalt sich töricht. Was schon sollte es ausmachen, dass jener sich anscheinend von den landläufigen Regelverletzern abhob. Müsste der Umgang mit ihm nicht sogar einfacher sein als der zum Beispiel mit einem Totschläger? >Was macht mich unsicher? Etwas Unbestimmtes, Unbegreifliches haftet diesem Sachverhalt an! Ein Dieb schafft Fakten, die kann man ermitteln, klären, beurteilen. Aber dieser Brendal? Er bombt, um auf Ungleichbehandlung der Menschen aufmerksam zu machen, was immer das bedeuten mag.< Alpha ließ Etappen ihres Lebens durch ihre Erinnerung rollen: Die Kindheit, unbeschwert, behütet als Zukind, nahtlos übergegangen in Schule und Studium, aber dann schon mit dem Wissen um die Katastrophe, um die bis auf wenige Hunderttausende dezimierte Menschheit. Der Neubeginn: Unvorstellbar das Leid. >Weil ich mich zum Zeitpunkt, als es passierte, auf einer Raumexpedition befand, haben wir, die Crew und ich, überlebt. Wie oft hat Mutter uns Kindern von diesem Glücksfall erzählen müssen. Kaum eine Familie soll sich im Chaos wiedergefunden haben. Nur Menschengruppen in außergewöhnlichen Situationen und Orten - in den Unterseestationen, im Mond- und Marskosmodrom, in Bergwerken, auch Touristen, die gerade Höhlen besuchten oder wie Mutter im Raumschiff - hatten die Chance.< Alpha lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. >Kein Wunder, dass sie über die Zeit danach nicht gern sprach. .Aufräumen’ nannte sie es und .Zusammenführen’. Für uns Nachgeborene kaum nachvollziehbar.

Wenige müssen es zunächst gewesen sein, die mutig zum Neuanfang drängten, die die Vereinsamten und Trauernden, Defätisten und Verzweifelten, Glücksritter und Marodeure, um sich versammelten, für die Zukunft begeisterten. Welcher war meines alten Lehrers Leitsatz?: ,HAARP hat zwar Milliarden Menschen hinweggefegt, aber auch die Schranken, die zwischen ihnen bestanden.’ Wenn man sich die Geschichte vergegenwärtigt: Heute kaum vorstellbar, welche Unvernunft die Welt regierte. Nunmehr kein Religionsgezänk mehr - hat ein Gott die Katastrophe verhindert? Aus mit dem Parteienhader - und welche Politiker haben trotz massiver Warnungen dem Wahnsinnsprojekt Einhalt geboten? Nichts dergleichen trennt heute die Menschen. Europäer und Afrikaner, Amerikaner, Asiaten und Australier gründeten, bauten und bauen die drei Weltzentren - natürlich nicht in Anarchie. Was die Leute früher für völlig absurd, für eine spinnige Utopie sondergleichen hielten - wir haben es erreicht! Es gibt sie, die akorrupte Elite, von überwältigender Mehrheit gewählt und mit der Führung beauftragt, weil prädestiniert. Freilich - bei einer Bevölkerung von Hundert- bis Zweihunderttausend in einer Metropole ist eine solche Konstellation natürlich einfacher, weil überschaubarer, als bei einem Millionenvolk. Und da kommt so ein Außenseiter, ein Bomber wie dieser Brendal daher und will, was eben erst begann und sich offensichtlich bewährt, verändern - wohin? Ins Chaos, in Unsicherheit, eine ungewisse Zukunft allemal? Nein! Wir müssen uns das bisher Errungene bewahren, auch wenn und gerade weil die Menschheit wieder wächst ... wenn sie wächst!< Alpha seufzte. Sie verharrte einen Augenblick vor dem in der Seitenwand des Schrankes eingelassenen Spiegel und schnitt sich eine resignierende Grimasse zu, die aber ihrem runden Gesicht eher etwas Schalkhaftes verlieh. >Bis ich mich mit eigenen Nachwuchsgedanken ernsthaft befasse, werden sie diesen merkwürdigen Geburtenschwund im Griff haben.<

Es klopfte, und nach ihrem »Herein« trat Plu ins Zimmer, der freundlicherweise, als Zeuge sozusagen, der Befragung beiwohnen würde. »Also, da bin ich!«, sagte er und nickte Alpha zu. Er trug einen jener neumodischen hellen Blousons, dessen Machart seiner schmächtigen Figur etwas Wucht verlieh. Sein schmales spitzkinniges Gesicht, noch verlängert durch empordüpierte dunkle Haare, erinnerten Alpha an einen Besuch bei einem Holzbildhauer, der einen Keil auf einen Baumstumpf setzte. Sie musste bei diesem absonderlichen Vergleich lächeln, und sie sagte eilig: »Ich danke dir.«

»Du bist neu?«

Alpha nickte. »Ja, mein erster Fall.«

»Der erste ... und gleich so ein merkwürdiger.«

Alpha hob die Schultern. »Ich kann damit absolut nichts anfangen. Mir ist schleierhaft, was in einem solchen Menschen vorgeht. Wenn du ein paar Kilometer ins Umland gehst, stößt du auf Schritt und Tritt auf die entsetzlichen Zeugnisse der Katastrophe. Und anstatt das Neue zu unterstützen, macht jener ...«

Es klopfte abermals. Der Bombenleger und sein Begleiter traten ein.

Trotz dieser, nach ihrem Vorurteil, verwerflichen Handlung des jungen Mannes, fand Alpha nach dem ersten Eindruck Brendal überraschend sympathisch. Das freundliche Lächeln bei seiner leichten Verbeugung machten dessen graue Augen scheinbar strahlend und gaben dem runden Gesicht etwas gewinnend Sanftmütiges, was eigenartigerweise durch seine merkwürdige Frisur - ein so genanntes Pony reichte bis zu den Augenbrauen - unterstrichen wurde. Er trug einen gutsitzenden stahlblauen Anzug, der leger die eher sportlich-kräftige Figur kaschierte.

Nach knapper Begrüßung und Vorstellung wies Alpha entgegen ihrer ursprünglichen Absicht: hinter dem Schreibtisch sitzend sachliche Distanz zu schaffen, auf die Sitzecke. »Nimm Platz!« Wenig später wurde ihr bewusst, dass sie die Regel, den Zubefragenden ins Auflicht zu setzen, nicht beachtet hatte.

Brendals Begleiter nahm neben der Tür Aufstellung.

»Ich fasse zusammen«, begann Alpha. »Du hast gestanden, in der Nacht vom Sechzehnten zum Siebzehnten dieses Monats am Haus der Inspektion Menschenrecht einen Sprengsatz angebracht und gezündet zu haben, wobei ein Sachschaden entstand. Bei der ersten Befragung hast du angegeben, dies nicht unbedacht aus Übermut -«, Alpha suchte Blickkontakt zu ihrem Gegenüber, »das wäre wohl in Anbetracht deines Alters und deiner bisherigen Entwicklung unwahrscheinlich - getan zu haben, sondern um auf aus deiner Sicht nicht akzeptable gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam zu machen. Richtig?«

Kassio lehnte sich zurück. »Richtig!«, bestätigte er selbstbewusst mit nachdrücklichem Kopfnicken.

»Du hast ferner ausgesagt, dass du allein den Entschluss zur Tat gefasst und diese auch ohne Hilfe ausgeführt hast.«

»Auch das ist richtig.«

»Das Gutachten besagt, dass es sich um einen, na, laienhaft hergestellten Sprengsatz handelte. Woher stammt dieser?«

»Laienhaft stimmt schon!« Er lächelte leicht ironisch. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich habe ihn gebastelt. Besser konnte ich es halt nicht.«

»Und der Sprengstoff selbst, konventionelles Donarit?« Alpha beugte sich vor und fixierte Brendal herausfordernd.

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, bemerkte dann obenhin: »Weißt du, wenn man ein wenig sucht ... Es gibt noch so vieles Herrenloses nach der Katastrophe.«

»Ja, und viel Vernünftiges zu tun!« Es klang heftiger als beabsichtigt. »Also, kommen wir zum Kern: Auf welche angeblich nicht akzeptable«, Alpha mühte sich nicht, einen spöttischen Unterton zu unterdrücken; Plu runzelte leicht die Stirn, »gesellschaftliche Entwicklungen wolltest du aufmerksam machen?«

»Wir sind der Meinung, dass wir in der Entwicklung unserer drei Zentren weiter, viel weiter, dass die Auswirkungen der Katastrophe weitgehend überwunden sein könnten, wenn unsere Gesellschaft sich nicht selber den Weg erschwerte, ja zum Teil verbaut.« Er redete das leidenschaftslos mit einem leichten Anflug von Selbstgefälligkeit daher, als wollte er zum Ausdruck bringen, ohnehin nicht verstanden zu werden.

Alpha runzelte die Stirn, blickte den Mann eindringlich an. »Wir! Du hast >wir< gesagt. Wer ist wir?«

»Wir? Mehr, als euch lieb sein kann, leider noch zu wenig, um Neues durchzusetzen.«

»Also - was läuft nach deiner, oder nach eurer Meinung in unserer Gesellschaft falsch, und welches Neue sollte durchgesetzt werden?«

»Falsch ist zum Beispiel die Gleichmacherei!« Kassio sprach betont und beugte sich vor, als hätte er genug und Bedeutendes gesagt.

»Erläutere!«

Auf einmal lehnte Brendal sich zurück. Sein Gesicht nahm einen Zug an, der offenbar Distanz schaffen sollte. »Was geschieht mit meiner Aussage?«, fragte er fordernd.

Alpha zog überrascht die Stirn in Falten, Plu beugte sich aufmerksam vor »Wie meinst du das?«, entgegnete sie.

Es klang abweisend überheblich, als er eindringlich antwortete: »Du hast schon ganz richtig erkannt: Ich will tatsächlich die Öffentlichkeit aufmerksam machen. Was also geschieht mit meiner Aussage, bekomme ich einen Prozess? Bislang sieht es mir so aus, als soll die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt werden.«

Alpha fühlte sich einen Augenblick lang hilflos. Sie spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Ihr fiel des Direktors Spruch ein - Stillschweigen sei angezeigt. Sie blickte zu Plu. Der hielt den Kopf gesenkt, schaute auf die Tischplatte. Dann bemerkte sie ausweichend: »Ich habe hier zu ermitteln und nicht zu beurteilen, was mit dem Ergebnis geschieht.«

»Nun denn!« Es klang endgültig. Kassio lehnte sich betont zurück. »Kläre das. Vorher sage ich nicht weiter aus!« Er wandte den Kopf zu seinem Begleiter, stand auf. »Gehen wir!«, forderte er.

Der Angesprochene blickte fragend zu Alpha, diese zu Plu. Der zuckte mit den Schultern.

Kassio stand bereits an der Tür.

Alpha zögerte einen Augenblick. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Na gut«, sagte sie dann. »Wir sehen uns! Bis auf Weiteres verlässt du die Stadt nicht!«