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Werner Müller

Abitur im Sozialismus

Schülernotizen 1963 – 1967

Aufgeschrieben unter Mitwirkung meiner Klassenkameraden und Schulfreunde an der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“ in Pirna: Bernhard, Birgit, Dieter, Dietrich, Erika, Friedrich, Gottfried, , Günter , Hans-Günther, Ingolf, Ingrid, Irmgard, Jürgen H. , Jürgen L., Klaus-Jürgen, Lothar , Michael, Rolf , Reinhard, Rüdiger, Rudi, Sabine , Siegfried, Wolfgang J., Wolfgang K., Wolfgang U., Wolfram – und unseres Lehrers Dr. Gerhard Rehn.

 

ISBN 978-3-95655-691-3 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-693-7 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Nur wer losgeht kommt an

Was willst du erreichen?

Was tust du dafür?

Warum sollst du dich mühen?

Warum strengst du dich an?

Wie stehen die Chancen?

Wie bringst du dich ein?

Wann willst du beginnen?

Wann endet deine Zeit?

Wem nützt es?

Wem gebührt Dank?

Wer gibt wird bekommen!

Nur wer losgeht kommt an!

 

Bernhard Kuntzsch

 

Bild

 

Das waren wir – Klasse 12B 2, 1967 - glückliche Gesichter nach bestandenem Abitur

Vorwort

„Nun sagt mir doch endlich mal, was das ist, die DDR!“ – das war die Frage meiner Enkelin in einer sonntäglichen Kaffee-Runde. Die Familie hatte sich wieder einmal in Pirna, in der Sächsischen Schweiz, zusammengefunden, was nicht so oft möglich ist. Unsere Tochter samt zweier Enkeln und Mann, aus der Nähe von Heidelberg kommend, hatte den weitesten Weg. Unser Sohn mit Freundin, jetzt in Leipzig zu Hause, hatte sich von zahlreichen beruflichen Verpflichtungen einmal lösen können. Das Thema der Gesprächsrunde wechselte, wie so üblich, bei den Kindern beginnend in diese und jene Richtung und war dann wieder einmal in der Zeit vor 25, 30 oder 40 Jahren angelangt, in der DDR. Und da wollte sie es wissen, unsere Enkelin, damals noch Grundschulkind in Baden Württemberg, da wollte sie dieses ihr unbekannte Wort erklärt bekommen.

Seitdem lässt mich der Gedanke nicht los, was ich meinen Enkeln über diese Zeit denn einmal erzählen könnte oder sollte, wenn sie denn tatsächlich fragen.

Ich selber stelle rückblickend fest, das leider zu wenig getan zu haben, zu wenig gefragt zu haben. Weder mit Großeltern noch Eltern habe ich als Jugendlicher oder später als junger Familienvater viel über ihre vergangenen Jahre, über ihre Lebenszeit gesprochen. Sicher wäre die Möglichkeit dazu gewesen, sicher gab es Ansätze dazu, aber als junger Mensch hat man ganz einfach andere Dinge im Kopf als die Vergangenheit. Die Theologin Margot Käßmann, ehemalige Bischöfin und zeitkritische Autorin nicht weniger Bücher, meint, dass wir in jungen Jahren ständig vorwärts leben und versuchen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Später, älter geworden, nehmen wir uns die Zeit um einzuordnen, was wir erlebt haben, suchen Zusammenhänge – und da geht der Blick immer öfter zurück.(Margot Käßmann, „In der Mitte des Lebens“, Verlag Herder, 5. Auflage 2010, S. 30)

 

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ – So oder ähnlich wird der dänische Philosoph des 19. Jahrhunderts, Sören Kirkegaard, häufig zitiert. Eine auch heute gültige Wahrheit.

Als Rentner und damit ein gutes Stück in der zweiten Hälfte des Lebens, habe ich mit der Rückschau begonnen.

Mit einigen Millionen Menschen aus der kleineren der nach 1945 entstandenen deutschen Republiken erlebte und erlebe ich immer noch zwei gänzlich verschiedene gesellschaftliche Systeme der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. 2015 sind 70 Jahre vergangen nach dem Ende dieses Völkermordens, sind 25 Jahre vergangen seit dem Beitritt der DDR zur damaligen BRD.

Eine Vereinigung auf Augenhöhe, was aus heutiger Sicht manchem wünschenswerter gewesen wäre, war damals nicht gewollt und wohl auch nicht möglich. Sieger in einer Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Systeme Sozialismus in der DDR und Kapitalismus in der BRD war der größere der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geblieben. Entsprechend sind die Darstellungen der 40 Jahre des Getrenntseins der Deutschen. Die Großmedien sind in westdeutscher Hand, wie Christoph Dieckmann zutreffend schreibt. Da wird Westsuppe gekocht, bei Bedarf mit ein wenig Osten zur Würze.

„Nur in Ansätzen haben die Ostdeutschen sich Öffentlichkeit geschaffen, am ehesten als Regionalkultur.“
(Christoph Dieckmann, „Rückwärts immer“, Verlag Aufbau Taschenbuch,2007, S. 105).

 

Wenn die Enkel zu fragen beginnen, werden sie vielleicht zuerst in ihren Lehrbüchern nachlesen, später bei Interesse auch in Romanen, Dokumentationen, Zeitungen und Zeitschriften. Es gibt bereits Spielfilme zu dem Thema und filmische Dokumentationen, auch mehr oder weniger fundierte wissenschaftliche Analysen. Vergessen wir dabei nicht die Möglichkeiten des Internets! Die Vielfalt ist verwirrend, die Meinungsbildung mühsam.

Was wird sich in den Zeitläufen durchsetzen? Alles ist im Fluss!

Wenn auch heute viele die 40 Jahre des misslungenen Experiments DDR belächeln oder ihrem Hass freien Lauf lassen – die am wenigsten gelitten haben , hassen am meisten, die nicht dabei waren, wissen alles am besten – so wird sich vielleicht doch eine Geschichtsschreibung durchsetzen, die von 1945 bis 1990 beide Seiten in ihrer Wechselwirkung berücksichtigt. Alles braucht seine Zeit.

So lange will ich nicht warten. Ich will heute schon einiges erzählen aus der Zeit der Erlebnisgeneration, aus der Zeit seit Ende der 1940er Jahre in der sowjetischen Besatzungszone oder der späteren DDR. Deren Gründung war am 7. Oktober 1949, reichliche vier Monate nach der BRD (23. Mai 1949).

 

Dennoch wird die Vergangenheit dieses deutschen Staates zu oft reduziert auf das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), wirtschaftliche Mangelsituationen, Grenzregime (Todesschüsse an der Mauer) und staatliche Restriktionen. Auch an dem Bildungssystem des untergegangenen Staates lässt die aktuelle Staatsräson nichts Gutes. Und die Medien stimmen nur zu gern ein in dieses Lied? - Nein, das ist zu voreilig. Es gibt schon realistische Darstellungen, die aber leider in der pluralistischen Meinungsvielfalt unseres Landes noch untergehen oder geschickt in die mediale Versenkung transportiert werden.

 

Noch besser macht es sich , bei der Darstellung der deutschen Geschichte nach 1945 die vierzig Jahre der Zweistaatlichkeit weitestgehend auszublenden, nur von „der Bundesrepublik “ zu berichten, so wie ein Historiker in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieges am 8. Mai 2015. Warum eigentlich? Weil das einfacher ist? Weil da Peinlichkeiten bei der Geschichtsbewältigung im Vergleich Ost –West zu befürchten wären, nicht nur für den Osten des damals geteilten Landes? Weil Richard von Weizsäcker, ehemaliger Bundespräsident, erst 1985 für die BRD feststellte, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus war? Für uns damalige Schüler war das dieser Tag schon längst. Auch Weglassen kann Lüge sein!

 

In Gesprächen mit Klassenkameraden der gemeinsamen vier Jahre an der Erweiterten Oberschule (EOS) „Rainer Fetscher“ in Pirna erfuhr ich, dass sich mancher von ihnen ähnliche Gedanken macht – Wolfgang U., Bernhard, Dieter, Gottfried und andere. So entstand die Idee, gemeinsam eine Kleinigkeit beizutragen zur allgemeinen Diskussion, ein wenig von unseren Erfahrungen mitzuteilen und nicht alles den Anderen, wer das auch immer sein mag, zu überlassen.

Berichten werde ich also mit Klassenkameraden von damals von den vier Jahren Schulzeit in der Mitte der 1960er Jahre, einer gemeinsam erlebten, aber durchaus unterschiedlich wahrgenommenen Zeit. Unterschiedlich wahrgenommen von den Einzelnen, aber auch unterschiedlich wahrgenommen in den verschiedenen Regionen der DDR, sei es in Leipzig, Dresden, Berlin oder anderswo. Wahrgenommen in einem Zeitfenster von vier Jahren aus 40 Jahren DDR. Das sind zehn Prozent der Lebensdauer dieses Landes.

Natürlich blieb die Zeit nicht dabei stehen. Spätere Entwicklungen brachten neue Erkenntnisse und neue Probleme für uns, die dann schon im Berufsleben standen, selbst Kinder hatten.

Es ist also nichts Feststehendes, was wir aufschreiben können, nicht die alleinige Wahrheit. Die gibt es sowieso nicht, wie man täglich feststellen kann. Man kommt ihr am nächsten, wenn man akzeptiert, sie nie ganz zu besitzen und gleichzeitig versucht, verschiedenen Interessen daran auf den Grund zu gehen.

Ich will unsere Erlebnisse in dieser Zeit aufschreiben und damit anregen, sich abseits der Massenmedien weiter zu informieren.

Unsere Berichte sollen nicht einfach die schönen Seiten einer vergangenen Jugend widerspiegeln. Nein, wir wollen Interessierten einiges Interessantes mitteilen. Das kann durchaus politisch relevant sein, wird vielleicht auch manchen Leser stören.

Das alles so aufzuschreiben wäre damals, zu unserer Zeit nicht möglich gewesen. Doch einen oft gebrauchten und sogar schon gesungenen Hinweis haben wir heute: Es war nicht alles schlecht. Also versuchen wir’s! Mit meinen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden versetze ich mich zurück in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Kapitel 1: Wie alles kam

„Aber für das, was ich in den vier Jahren in der Fetscher-Schule gelernt habe, dafür bin ich meinen Lehrern, unserer Schule, noch heute dankbar!“ – Das äußerte anlässlich eines Klassentreffens in vorgerückter Stunde während einer lebhaften Diskussion einer meiner Mitschüler. War das Rüdiger oder Gottfried oder…? Ich weiß es nicht mehr. Das ist auch gleichgültig, denn alle in der Nähe Sitzenden, die das hörten, gaben im allgemeinen Stimmenwirrwarr des Treffens ihre Zustimmung zu erkennen.

Das war im September 2012. Einer schönen Tradition folgend trafen sich die Schüler aller vier Klassen des Abiturjahrganges 1967 der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“, Pirna, alle fünf Jahre, später alle drei Jahre, um über alte und neue Zeiten zu reden oder sich ganz einfach mal wieder zu sehen. –Wiedersehenstreffen! Gemeinsam hatten wir diese Schule seit September 1963 besucht und nach vier Jahren 1967 mit Abitur und Facharbeiterbrief wieder verlassen, um so gerüstet ins Leben hinauszugehen.

Seltsam, an diesen Moment erinnere ich mich jetzt ganz deutlich, als ich Anfang Juli 1967 nach Erledigung der letzten Abmeldeformalitäten im Sekretariat durch den Internatseingang die Schule endgültig verließ. Vier durchaus anstrengende Jahre lagen hinter uns, vor uns entweder meistens sofort (Geburtsjahrgang 1949) oder erst nach 18 Monaten Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (Geburtsjahrgang 1948) ein Studium.

Im Jahr dieses Treffens 2012 befanden sich schon viele von uns im Ruhestand, waren Rentner, Pensionäre oder wie man das eben nennt. Die anderen sahen ihren letzten aktiven Arbeitsjahren entgegen. Von 30 Schülern der Klasse B2 des Jahrganges 1963 bis 1967 waren 25 gekommen. Der Rest fehlte wegen gesundheitlicher Probleme oder hatte einen unaufschiebbaren Termin. Einer hatte uns schon gänzlich verlassen, Bernd; ein anderer war allen Klassentreffen fern geblieben.

 

Thema der vorn genannten Diskussionsrunde war die Aufhebung unserer damaligen Erweiterten Oberschule, nach 1990 „Rainer-Fetscher-Gymnasium“, zugunsten des 1992 aus der 10-klassigen Schiller-Schule neu gegründeten „Schiller-Gymnasiums“. Nicht nur uns machte das sehr betroffen, nein auch die anderen Klassen unseres Jahrganges und noch viele andere fanden das unangebracht, ja falsch. Aber darüber wird noch zu reden sein. Und natürlich ergaben sich dann auch Themen zum Schulalltag heute, zu der Zersplitterung einer eigentlich gesamtnationalen Aufgabe der Bildung auf 16 Bundesländer und zur unterschiedlichen Wahrnehmung der Schulbildung sowohl der ehemaligen DDR als auch der ehemaligen BRD.

Dazu kam damals schon, also 2012, die sich anbahnende Misere eines Lehrermangels in Sachsen. Der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion war am 31. August 2012 nach einer harten Auseinandersetzung um die Schulpolitik der CDU/FDP-Regierung von seinem Amt zurückgetreten. Im Kern ging es dabei um die Umwandlung von Mittelschulen in sogenannte Oberschulen, die er als Etikettenschwindel bezeichnete, und den Lehrermangel an sächsischen Schulen. Bereits im November 2011 hatte er geäußert, dass in Sachsen ein funktionierendes Schulsystem „ohne Not an die Wand gefahren“ werde (WIKIPEDIA).

 

Nun sind wir, die Schülerinnen und Schüler unserer B2, schon über 25 Jahre in der neuen BRD angekommen und erleben mit Erstaunen, manchmal mit Groll, manchmal mit Erheiterung, auch angesichts der unvermeidbaren PISA - Studien, wie unterschiedlich und beziehungslos, oft sehr einseitig, über bestimmte Zeiträume und Ereignisse dieses Bereiches geschrieben und diskutiert wird. Je weiter oben das angesiedelt ist, desto schräger und verzerrter können die Darstellungen sein. Neuerdings lässt auch mancher seriöse Bericht aufhorchen. Immer aber entdeckt der kritische Bürger in den verschiedensten Medien (unabhängige Berichterstattungen gibt es trotz aller gegenteiliger Beteuerungen wenige) Versuche, die kleinere der ehemaligen zwei deutschen Republiken zu delegitimieren.

So formulierte zum 15. Deutschen Richtertag, am 23.9.1991, der damalige Justizminister Klaus Kinkel: „Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das … seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es … einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland ….“ (Deutsche Richterzeitung 1992, S. 4/5).

Danach wurde dann und wird auch noch vielfach verfahren, und das nicht nur auf dem Gebiet der Justiz.

 

In einem Informationsforum des Internets war folgende Anfrage eines Schülers zu finden: „Hallo Leute, ich mache meinen MSA vortrag für die 10. klasse. Mein Thema ist Wie war das Alltagsleben in der DDR/BRD? Und wo liegen die Unterschiede. Meine Frage ist nun ob ihr vllt. ein paar Seiten zu dem Thema kennt. (am besten mit tabelle) Oder auch vllt. etwas aus eurer eigenen erfahrung berichten könnt?! Ich freue mich über antworten . “ – (Original-Zitat, nichts verändert!)

 

Die Antworten waren interessant und im Gegensatz zu tendenziösen Medienaufmachungen erfrischend offen, ehrlich und um echte Erkenntnisse bemüht. So jedenfalls mein ganz persönlicher Eindruck.

Und so wuchs dann stetig der Gedanke: Sollte man nicht einmal aufschreiben, wie wir unsere Schulzeit erlebt haben, bevor uns das von heute 30-Jährigen oder damals nicht in diesem Land Anwesenden fragwürdig beschrieben wird? - Zumindest für unsere Enkel könnte das interessant sein, wenn sie dieses Thema einmal im Geschichtsunterricht behandeln sollten.

Einer, der wegen seines Einsatzes für den von der DDR zwangsweise ausgebürgerten Wolf Biermann gemaßregelt wurde und dann selbst den Weg in den Westen nahm, der Schauspieler Hilmar Thate, bemerkt 2006 in seiner Autobiografie, er finde die Siegermoral, die Erhabenheit und scheinbare Makellosigkeit in der Darstellung der alten BRD fad und anmaßend. Man brauche sich nicht zu wundern, dass in der DDR aufgewachsene und dort gebliebene Menschen widersprechen und sich zu Wort melden. (Hilmar Thate, „Neulich als ich noch Kind war“, Autobiographie, Verlag Lübbe, 2006, S.250).

Also melden wir uns zu Wort! - Wie war das denn damals?

Kapitel 2: Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht …

Erich Kästner meint kurz und bündig in einem seiner Epigramme, die Erinnerung bilde die Menschen um. Wer das Schöne seiner Vergangenheit vergisst, würde böse; wer das Schlimme seiner Vergangenheit vergisst, würde dumm. (Erich Kästner, „Kurz und bündig.“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Berlin 1965, S. 34). – Wie schön und richtig!

 

Auf der Webseite des Pirnaer Heimatforschers und früheren Geschichtslehrers Hugo Jentsch fand ich in einem seiner Beiträge folgende kritische Bemerkungen zu dem Thema:

„,Nichts ist trügerischer als die eigene Erfahrung’, sagte mal ein namhafter Historiker. Besteht sie doch meist aus bruchstückhaft aufbewahrter, stark selektierter und über die Jahre vielfach abgewandelter, oft emotional aufgeladener Erinnerung, während anderes verdrängt und abgeblockt wird. Werden Erinnerungen durch andere abgerufen, dann folgt man meist deren Fragestellung oder Erwartung. Handelt es sich beim ins Bewusstsein Zurückgerufenen um Ereignisse, die mehr als 50 oder gar 60 Jahre zurückliegen, fällt die Rekonstruktion von Ereignisabläufen schwer, wenn sie nicht gar unmöglich ist. Erlebtes vermischt sich mit Gehörtem zu einem Bild. Was und wie damals gedacht wurde, ist inzwischen mehrfach in wandelnden Zeiten überlagert und verwandelt worden. Das alles fordert von jedem über Geschichte Schreibenden ein Mindestmaß an quellenkritischen Bedenken. Was von den aufgenommenen Erinnerungen Befragter nahm der Autor in seine Darstellung auf, was ließ er unberücksichtigt. Nach welchen Kriterien selektierte er Erinnerungen und Tagebuchworte?“

Der Schauspieler Eberhard Esche hatte folgende Meinung:

„…nämlich die, dass sich die Erinnerung vor der Wahrheit verlaufen kann, um entweder in die Abwege der Verteufelung oder die Irrwege der Vergoldung zu geraten. Oder den bekannten Dritten Weg sucht, der alle bedienen will und keinem nützt und so allen und der Sache schadet." (Eberhard Esche, „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“, Eulenspiegel-Verlag 2011, S. 153).

Peter Ensikat, der unvergessene Kabarett-Autor war der Meinung, die Erinnerung sei umso schöner, je schlechter das Gedächtnis ist (Peter Ensikat, „Das schönste am Gedächtnis sind die Lücken“, Karl Blessing Verlag München, 2005, S. 10). Gerade das aber, Verklärung, ist in diesem Buch nicht beabsichtigt.

 

Tatsächlich, nach über 50 Jahren ist vieles vergessen.

Da springt auch das oft genannte Langzeitgedächtnis der Älteren nicht ein, das ist aber auch keine beginnende Demenz. Das ist Physiologie des Gehirns. In einer Jahresarbeit meiner EOS-Zeit schrieb ich mal ausführlich über Verhaltensweisen bei der Hausziege, über bedingte und unbedingte Reflexe, über Verknüpfungen von Abläufen im Gehirn. Aber diese vorhandenen Erinnerungen helfen jetzt nicht so richtig weiter.

Da kam mir die Idee, doch einmal in den alten Klassenbüchern nachzulesen über Unterrichtsstunden, Inhalte und Themen der damaligen Jahre. Sicher würde das die Erinnerungen beflügeln. Mein Klassenkamerad in den vier Jahren EOS, Bernhard, jetzt in Dresden wohnend, ebenfalls im Ruhestand, sagte spontan seine Mitarbeit zu, obwohl gerade selbst mit einer literarischen Arbeit beschäftigt.

Nach dem Aufbewahrungsort der Bücher brauchten wir nicht lange suchen. Hier half mir der Zufall. In einem kurzen Film berichtete das Stadtfernsehen Pirna (Video) im Internet über den Umzug des Stadtarchivs in die Räume des neuen Sitzes des Landratsamtes Pirna. Dabei, welch Zufall, waren Kisten mit der Aufschrift „Klassenbücher Rainer-Fetscher-Oberschule“ kurz zu sehen gewesen.

 

Also machten wir uns auf den Weg. Die zuständige Archivarin freute sich über unser Interesse an den Beständen des Archivs, und nach datenschutzrechtlicher Belehrung tauchten Bernhard und ich ein in die Lektüre einer über 50 Jahre zurückliegenden Schulzeit. Da lagen vier Klassenbücher vor uns, etwas abgenutzt und verstaubt, aber angefüllt mit unserem Schülerleben, was den offiziellen Teil betrifft. Wir fanden Namen und Anschriften der Eltern, Zensuren, Einträge zu den Themen der Unterrichtsstunden und natürlich auch zu den üblichen Schülerschandtaten wie Verspätung zum Unterricht, vergessenen Unterschriften und Hausaufgaben oder auch, in höchster Not versucht, zu Abschreibversuchen (Spicken!) während einer Klassenarbeit und so fort.

Eigentlich ein Wunder, dass es diese Bücher noch gab. Sie waren aus unerklärlichen Gründen entgegen der wohl sonst üblichen Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren nicht kassiert, wie das in der Sprache der Archivare heißt, sondern für spätere Generationen aufbewahrt worden. Dass sie die betroffene Erlebnisgeneration selbst wieder nutzen, lesen, bewerten, auswerten würde, war weder beabsichtigt noch vorherzusehen gewesen. Wir taten das nun. Bernhard und ich verbrachten mehrere Tage im Archiv und versuchten, die Schrift unserer Lehrer zu entziffern.

Besonders schwierig gestaltete sich diese Grafologie bei unserem Geschichtslehrer der neunten und zehnten Klasse. Er hatte es nicht immer leicht mit uns. Als Leiter der Schulbücherei mit ihrem nicht kleinen Buchbestand ist er mir noch in guter Erinnerung. Ich habe dort eine komplette Ausgabe der Werke von Theodor Storm lesen können. Dr. Zippel freute sich über jeden Leser der Bücherei und beriet gern bei der Auswahl von Büchern.

Einträge von Herrn Rieger erinnerten an die Themen in Staatsbürgerkunde bzw. später Philosophie (des Marxismus). Auch hier eine Erinnerung: Mit diesem Lehrer kam ich in der Pause mal über Ringelnatz ins Gespräch und über die Schwierigkeit, von ihm Gedrucktes zu erhalten. Daraufhin bot er mir eine noch gar nicht so alte Auswahl von Ringelnatz-Gedichten einer kürzlich erschienenen Buchausgabe zum Ladenpreis an. Er hatte das Buch doppelt, und es steht jetzt noch in meinem Bücherschrank.

Gut, nun hatte ich sie ja in der Hand, unsere Klassenbücher. Wie weiter?

Ich stieg auf den geräumigen Dachboden unseres Hauses mit seinen Schränken und Regalen. Ich suchte, ich wühlte mich durch Stapel alter Bücher, blickte kurz in meine Dissertationsschrift, verweilte bei alten Texten des Dramatischen Zirkels unsrer EOS und dann fand ich sie – meine Tagebücher. Leider waren von ehemals drei Heften nur noch zwei vorhanden. Das eine vom 30.12.1963 bis 30. 9.1964, das andere vom 12.7.1965 bis 8.6.1967. Dazwischen fehlen also etwa 10 Monate.

Einer Idee von Wolfgang U. folgend, meines Freundes aus der damaligen Zeit, hatte ich schon vor einigen Monaten, bevor ich dieses hier schrieb, per E-Mail bei allen Klassenkameraden angefragt, ob sie wohl bei meinem Vorhaben mitwirken möchten. Die Adressen hatte ich mir beim letzten Klassentreffen geben lassen. Immerhin 18 bekundeten sofort Zustimmung. Das macht Mut! Wir könnten uns also ergänzen.

Ja, dann ist da noch diese herrliche Errungenschaft des Internets mit seinen vielen Möglichkeiten zum Erhalten von Auskünften vielerlei Art. Heureka!