Impressum

Alexander Kröger

Die Marsfrau

Science-Fiction-Roman

 

ISBN 978-3-95655-662-3 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1980 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 161 der Reihe „Spannend erzählt“). Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2003 im Verlag KRÖGER-Vertrieb Cottbus erschien.

 

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1. Kapitel

Sylvester Reim zog den Schal, den er um den Mantelkragen geschlungen hatte, fester und drehte den Kopf so, dass der frostige Wind mit seinen spitzen Eisnadeln das Gesicht nicht frontal traf. Er konnte nur wenige Schritte weit sehen. Fast waagerecht zogen sich Schneeschnüre, die sich zu einem dichten Vorhang verwoben.

Sylvester rechtete nicht mit Erg, seinem Chef. Es gab bei dieser Wetterlage freilich angenehmere Tätigkeiten, als schräg gegen Wind und Schneetreiben zu laufen und die Freilandkulturen zu kontrollieren. Was notwendig ist, wird gemacht, das war seit jeher Sylvesters Devise.

Allerdings wusste er noch nicht, wie er unter 50 Zentimetern Schnee den Wachstumsstand erkennen sollte. Nun, im Augenblick hatte er zu tun, den Weg nicht zu verfehlen. Er orientierte sich an den dürren Stämmen der Kirschbäume, die seit zwei Jahren den Weg säumten und die bereits einen Winter gut überstanden hatten.

Viel wesentlicher als die Pflanzensuche schien Sylvester die Frage, wie er die neue Aufgabe anpacken sollte. Von seiner Verwunderung, diesen Auftrag direkt von der Alten erhalten zu haben, hatte er sich noch nicht erholt. Er fühlte sich geehrt und - verwirrt.

Keiner der Mitarbeiter hatte einen persönlichen Kontakt zu Ramona-Ros Müller. Das konnte nicht nur daran liegen, dass sie als stellvertretende Institutsdirektorin auf Autorität bedacht sein musste. Und so bedeutend war das „Institut für Resistente Flora“ nun wirklich nicht.

Die wenigen Male, bei denen Sylvester mehr als einen kurzen Gruß mit ihr gewechselt hatte, vermittelten ihm den Eindruck, dass sie arrogant und ziemlich altmodisch war und dass ihr ein solcher Mitarbeiter wie er im Grunde genommen gleichgültig blieb. Meist war Erg, Sylvesters Vorgesetzter, ihr Gesprächspartner. Administrationsebenen überspringt man nicht.

Überhaupt gab sich die Alte unnahbar, ja unfreundlich. Und selbst Erg ging mit Unbehagen zu den Routineberatungen. Sie war außerdem bekannt für Konsequenz und Unerbittlichkeit. Kein Wunder, dass sie sich zwar einer gewissen Autorität, aber keineswegs großer Beliebtheit erfreute, dass sie allenthalben schnoddrige Witze heimlich begleiteten. Um so größer also das Erstaunen bei Erg, den Kollegen und vor allem bei Sylvester selbst, als dieser zu Ramona-Ros gerufen wurde.

Ihm war bekannt, dass Ramona-Ros Müller kurz vor ihrem Sechzigsten stand. Sie wirkte nach Sylvesters Empfinden jedoch bedeutend älter, was dadurch verstärkt wurde, dass sie füllig war, die Haare in einem strengen Scheitelknoten trug und fad gekleidet ging.

Das gegensätzlich zur Körperfülle knochig-schmale Gesicht zeigte einen herben Zug um den ehemals üppigen, jetzt fältchenumrandeten Mund. Auf der Oberlippe stand schwärzlicher Flaum. Aber der Blick wirkte jugendlich lebhaft, und es schien, als entginge ihm nichts.

Die Alte war hinter ihrem Leittisch hervorgekommen und hatte Sylvester einen Platz unter einer großen Zimmerpalme in der Sesselecke angeboten, wodurch sie ihm sofort, entgegen aller Voreingenommenheit, sympathisch wurde. Leiter, die stur hinter ihrem Leittisch sitzen bleiben, konnte Sylvester nicht ausstehen.

Ohne Einleitung sagte Ramona-Ros Müller, nachdem sie Platz genommen hatten: „Mit Erg habe ich gesprochen. Er ist meiner Meinung.“

,Kunststück’, dachte Sylvester.

„Wir bitten dich, nach Abschluss eurer jetzt laufenden Serie die Faunella-Liveversuche mit vorzubereiten.“

Sylvester blieb unklar, warum ein so sachlicher Satz mit einer Art Begeisterung hervorgebracht wurde.

Ramona-Ros sprach nicht weiter, sondern blickte erwartungsvoll auf Sylvester, als wünschte sie, dass er sofort etwas Bedeutungsvolles, vor allem aber vorbehaltlos Zustimmendes von sich gäbe.

Dessen Überraschung war perfekt. Er sagte zunächst gar nichts.

Die Faunella! Meine Güte, welche Spekulationen und Gerüchte gab es um diese Alge. Nur drei Mitarbeiter unter persönlicher Anleitung der Alten befassten sich seit einem Jahr wieder damit, bei strenger Informationssperre. Und ausgerechnet er - als junger, unerfahrener Kollege, wie er sich selbst einschätzte - sollte da mitwirken! Natürlich würde er das Angebot annehmen. Aber wie waren die ausgerechnet auf ihn gekommen?

Als er schwieg, sagte Ramona-Ros: „Wir meinen, dass du das notwendige Organisationstalent hast. Wir brauchen - ja, so weit ist es - fügte sie erklärend hinzu, vielleicht auf sein verdutztes Gesicht hin, „zunächst eine große Zahl von Versuchstieren. Die gilt es als Erstes zu besorgen. Denk nicht, dass das einfach ist. Du bist da unbefangen - auch ein Grund, weshalb unsere Wahl auf dich fiel. Also - du bist doch einverstanden?“

Sylvester beeilte sich, dem zuzustimmen, ohne sich der Tragweite dieser Aufgabe bewusst zu sein. Tiere besorgen, na und? Konnten sie nicht einfach welche anfordern?

„Die Marowa wird dich näher einweisen. Sie wird auch deine unmittelbare Partnerin sein, die Gruppenleiterin. Na, auf gutes Gelingen und - gute Zusammenarbeit!“ Die Alte lächelte und hob eins der beiden Gläser, die sie während des Gesprächs gefüllt hatte.

Ein alkoholisches Getränk! Trinkalkohol im Institut, Sylvester erinnerte sich nicht, das jemals in den drei Jahren seiner Tätigkeit erlebt zu haben.

„Und sieh zu, dass keine Panne eintritt“, sagte Ramona-Ros zu betont obenhin.

Sylvester wurde hellhörig. Sollte an den Geschichten doch etwas sein? Nur noch wenige Leute gab es im Institut, die vor einem knappen Jahrzehnt auch schon hier gearbeitet hatten. Wer schon hält es in diesem öden Werchojansk länger als fünf Jahre aus! Keine zentrale Klimaregelung, kein Transitanschluss, dafür drei Viertel des Jahres schlechtes Wetter. Unverfälschter Kältepol, na schön. Was ist heute noch unverfälscht! Also, einen, der damals an der Faunella gearbeitet hatte, gab es hier offenbar nicht mehr.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, fuhr die Alte fort: „Du hast sicher gehört, dass vor Jahren bereits einmal solche Versuche stattfanden ... Ich bin mir mit der Institutsleitung einig, dass wir neu beginnen, mit neuen Leuten. Das ist die Marowa mit ihrer Gruppe. Sie sollen - zunächst - keine Kenntnis von den alten Unterlagen haben. Jede unbewusste Beeinflussung wird so vermieden. Bei dem vorerst verhältnismäßig geringen Aufwand können wir uns das leisten.“ Sie lächelte wie verlegen, entschuldigend. Und sie fügte - wohl angesichts seines Stirnrunzelns - hinzu: „Dir unverständlich?“

,In der Tat, ziemlich töricht’, dachte Sylvester, ,albern oder beinahe mystisch. Auf jeden Fall äußerst unwirtschaftlich. Aber wenn sie das verantworten konnten?’ Er ahnte, dass mehr dahinter steckte, als aus Ramona-Ros’ Worten offenkundig wurde.

„Mir liegt sehr viel daran, dass es dieses Mal keinen Fehlschlag gibt, verstehst du?“, ergänzte Ramona-Ros leise.

Fehlschläge? Was sollte dieses Gerede? Wenn man sich in eine Sackgasse verrennt, kehrt man eben um, geht einen anderen Weg. Nur ein Blödian beschreitet wieder den alten.

„Wird schon nicht“, gab Sylvester lakonisch zurück. Es wurde ihm peinlich, dass er nichts Konstruktives zu sagen wusste. Er hatte den Eindruck, dass er eine ziemlich traurige Figur abgab.

Ramona-Ros hob abermals das Glas, sah auf ihn mit einem wohlwollend-mütterlichen Blick und lächelte.

,Wie alt sie ist’, dachte Sylvester. Und in welch krassem Gegensatz stand ihre Erscheinung zu ihrem Vornamen, der stets in den Spötteleien eine Rolle spielte und den Sylvester nicht nur deshalb lächerlich fand, weil er antiquiert war.

Er bemühte sich, unter den vielen Fältchen des Gesichts ein Antlitz, ein Mädchenantlitz hervorzuzaubern, auf das der Name Ramona-Ros zutraf. Einen Augenblick gelang ihm die Vision: Das Knochige schwand, machte geröteten Wangen Platz, die Haare hingen wirr gelockt herab und rahmten das Gesicht. Und die Augen passten da hinein, dieselben strahlenden Augen. Ja, das war eher eine Ramona-Ros. Aber wie lange mochte das her sein?

Sylvester gab sich einen Ruck. ,Ob sie Kinder hat?’, dachte er noch, dann hob er ebenfalls sein Glas. -

 

Ein Straucheln über eine Unebenheit unterm Schnee brachte Sylvester Reim in die Wirklichkeit zurück. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre längelang hingestürzt. Er fluchte, blieb stehen und versuchte sich zu orientieren. Im Klaren war er sich nicht, ob er das Feld schon erreicht hatte. Er bog von dem, was er für den Weg hielt, scharf nach rechts ab, stapfte noch ein paar Meter und begann unschlüssig mit den Stiefeln zu scharren. Wenig später blieb er mit dem linken Fuß hängen, bückte sich, wühlte im Schnee, zog dann einen Handschuh aus, weil er durch das Kunstfell nichts fühlte, und zerrte mit klammer Hand eine Ranke ans Tageslicht, deren dunkelgrüne efeuartigen Blätter wie mit Wachs überzogen aussahen. Zahlreiche Knospen würden bald aufgehen und eine stattliche Blüte hervorbringen.

Sylvester Reim rief überrascht: „Alle Wetter!“, und vergaß die Eisnadeln, die ihm in den Kragen drangen. Die Züchtung dieser resistenten frostharten Bodenpflanzen machte bestimmt nicht geringere Freude als die Beschäftigung mit dieser Faunella.

Er zog mit den Absätzen Furchen, fühlte nach und stellte so das Ausmaß der Wucherungen fest. Mehrmals stieß er die Luft durch die Zähne, weil die Erwartungen weit übertroffen wurden. Sylvester kam zu dem Schluss, dass der Weg entlang den Kirschbäumen längst von einem Pflanzenteppich belegt sein musste.

Allmählich begann er in seiner warmen Kleidung zu schwitzen. Der Schal hatte sich gelöst, er zog das eine eisverkrustete Ende hinter sich her durch den Schnee. Sylvester Reim fühlte sich zufrieden, und er pfiff mit Lippen, die frostklamm den Dienst zu verweigern drohten, vergnügt vor sich hin. -

2. Kapitel

Alexej Armandowitsch Bolscha lag ausgestreckt im Schaumsessel und starrte an die Decke. Er verfluchte im Stillen - wie bereits Hunderte Male vorher - den Innenarchitekten, der den Wohntrakt der Station entworfen hatte, schalt ihn einen penetranten Sadisten, weil er das Muster an der Decke in jener blödsinnigen viereckigen Spirale angeordnet hatte, die bei längerem Hinsehen scheinbar zu flirren und zu tanzen anfing und deren Nachbild selbst bei geschlossenen Augen einen noch ganz wirr machen konnte. Dabei sollte sie beruhigend wirken, der Umgebung aber den Anschein von etwas Dynamischem geben. ,Vielleicht für jemanden, der sich zwei, drei Stunden hier aufhält‘, dachte Alexej voller Grimm. ,Zwei Jahre lang aber ... So muss das rote Tuch auf den Stier wirken. Man müsste ...’ Wie oft schon hatte er sich vorgenommen, diese vermaledeite Decke zu überspritzen. Ebenso oft war dieser Entschluss im Keim stecken geblieben. Und er wusste, dass es auch diesmal nicht anders sein würde.

Er hob den Arm mit der Uhr. Fünfzehn Minuten über die Zeit. Pfeif drauf! Was schadete es schon, wenn die Kontrolle und die nächste und übernächste ausfielen. Nichts und niemandem schadete es. Man hätte die Stationen schon lange voll automatisieren können. Was wäre schon, wenn eine vorübergehend versagte! Die Pflanzen würden einige Tage im Wachstum stagnieren, ein wenig kümmern. Na schön! In der Zentrale würde man das beizeiten merken, und innerhalb einer Woche könnte der Schaden behoben sein. Aber wem geht es schon um die Station und die Leute darin! Vor fünfzig Jahren von einem neunmalklugen Raummediziner ausgebrütet als Training - für die sogenannte dritte Qualifikationsstufe. ,Dass ich nicht lache! Und dann haben sie diesen Unsinn durch alle Ausbildungsreformen schlüpfen lassen.’

Alexej hievte sich vom Sessel. Er schüttelte sich, wobei ihm die langen, gewellten dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen. Er überlegte, ob er das kleine oder große „Kostüm“ anlegen sollte, und er entschied sich für das kleine.

Lustlos schloss er die Tür.

„Wird auch immer gelber, das Biest“, murmelte er nach einem Blick auf die freundliche kleine Sonne, die zu drei Vierteln über den Horizont lugte.

Alexej legte die Rechte über die Augen und sah gegen das Licht zum Roten Felsen. ,Mac lässt sich Zeit’, dachte er. ,Na ja, warum sollte er den Mars nicht auch satthaben. Ist doch nur Angabe, seine zur Schau gestellte Ausgewogenheit. Aber mir braucht er doch eigentlich nichts vorzumachen. Es ist sowieso kaum denkbar, dass sich hier jemand wohlfühlen kann.’

Langsam ging Alexej in die Ebene hinaus, auf die Erhebungen zu. Achtlos trat er auf die Ranken der üppig über den Weg wuchernden Pflanzen, die sich in endlosem blaugrünem und kniehohem Gestrüpp bis zum Horizont zogen. Mehr im Unterbewusstsein fiel ihm auf, dass vor wenigen Tagen noch die flachen Hangars des ehemaligen, zehn Kilometer entfernten Start- und Landeplatzes über den Horizont ragten. Jetzt verschmolz der rötliche Himmel dort wie überall ringsum mit dem grünblauen Meer.

Und dann hatte Alexej die Idee, dass es der schwere Duft dieses blühenden Ozeans sein mochte, der ihn besonders missmutig stimmte, ihm heftig auf die Nerven fiel, ein Odeur, dem die dichtesten Schleusen nicht gewachsen waren, das scheinbar durch alle Poren drang.

,Auf die Menschen kommt es diesen Pflanzentechnikern ja nicht an. Hauptsache, ihre Schützlinge gedeihen und poussieren duftend mit den Insekten. Ob mir das auf die Nerven geht, interessiert niemanden. Der Mensch ist anpassungsfähig, hat anpassungsfähig zu sein. Will oder kann er nicht, wird er trainiert wie Mac und ich. Braucht eine Maschine eine Klimaanlage, bekommt sie die, braucht das Grünzeug Hummeln und dazu Duft, kein Problem. Brauche ich ...

Ja, die Erde brauche ich. Aljoscha, das ist Heimweh, Sehnsucht nach der Erde! Menschenskind, dass dich das mal so packen würde ...

Am Baikal beginnt jetzt der Frühling. Dort muss es nun riechen - nach feuchter Erde, den Knospen der Zedern, nach eben aus dem Eis gebrochenem Wasser.’

Alexej blieb stehen. Ihm war, als riefe der erste Kuckuck, rauschte der Wald, plätschere ein Bach.

Dann versetzte er einer vier Zentimeter großen Hummel einen gedämpften Fußtritt, dass sie ärgerlich aufbrummte und im Bogen davon schwirrte.

„Scheißplanet“, stieß er hervor. „Na, endlich!“, setzte er hinzu, als er in seiner Richtung über dem Roten Felsen die Umrisse eines Menschen auftauchen sah.

Er hätte nicht zu begründen vermocht, warum er „endlich“ gesagt hatte. Wenn man jemanden wiedertrifft, mit dem man seit über einem Jahr in dieser gottverlassenen Station zusammen ist, der noch dazu vor nunmehr nur drei Stunden zum ersten Rundgang an diesem Tag aufgebrochen war, gibt es kaum einen Grund zur Euphorie. Alexej verspürte weder Sehnsucht nach Mac, noch knüpfte er an dessen Auftauchen irgendwelche Erwartungen. Sie kannten sich beinahe bis zum Überdruss, hatten einander nichts mehr zu entdecken. Ja, Alexej kannte selbst die intimsten Wünsche Macs aus schwärmerischen Wachträumen in den vielen Abendstunden zwischen dem Ausschalten des Videofons und dem Einschlafen.

Ohne Mühe gelang es Alexej, sich Macs zu Hause vorzustellen, und er hatte auch einen nachhaltigen Eindruck von dem Mädchen Kim, das Mac heiß und innig, für Alexej beinahe unerträglich intensiv, liebte. Nur eins begriff er an seinem Gefährten nicht, die penetrante Gelassenheit, mit der er das tägliche Marseinerlei hinnahm, mit der er immer wieder durch den roten Sand stapfte, die Sprüher umsetzte, Senker vergrub, Exhaustoren mit Chemikalien beschickte stur wie eine dieser Raketen, die zum Nachimpfen der sieben Sonnen unbeirrbar ihrem Ziel zustrebten.

Alexej lächelte. Ist eben ein Kerl, der Mac. Was er sich vorgenommen hat, führt er stoisch aus. Wenn er meint, er braucht den dritten Qualifikationsgrad, dann erwirbt er ihn eben, ohne zu murren, selbst wenn er sich vor Sehnsucht nach seiner Kim fast verzehrt. So gesehen, eigentlich ein glücklicher Mensch.

,Tatsächlich, der Kerl pfeift!’

Wirklich klang durch den rötlich gelben Marsmorgen eine gepfiffene Melodie von mäßiger Reinheit.

Als noch etliche Meter zwischen ihnen lagen, rief Mac: „Leichte Schwierigkeiten gehabt heute, Aljoscha?“

Alexej winkte gleichgültig ab.

„Du, die Berberitzen blühen jetzt auch - orangefarben. Das haben sie sauber hingekriegt.“

„Interessant“, sagte Alexej mit einem Unterton, als hätte ihm jemand mitgeteilt, dass ein gesunder Mensch imstande sei, auf zwei Beinen zu laufen. Dann setzte er, um dem Gefährten gefällig zu sein, hinzu: „Das ist doch jenes stachlige Zeug am Fuße des Roten?“

„Sag das nicht, die haben sich herrlich entwickelt. Ich habe die Sieben hingestellt.“

„Gut, gut. Ich ziehe die Regner drei und vier ein Stück näher heran.“ Alexej konnte sich nicht vorstellen, dass man diesen dornenbesetzten Berberitzen, deren Namen er sich mit Mühe gemerkt hatte, irgendetwas abgewinnen konnte.

„Ist der Kurier schon durch?“, fragte Mac. Er nestelte dabei an seinem linken Stiefel herum; die Frage klang betont gleichgültig.

Alexej grinste unverhohlen. Er wusste nur zu gut, wie sehr Mac auf die Videogramme seiner Kim lauerte, wie er bis zum Eintreffen des aktuellsten die vorhergehenden wieder und wieder abspielte, aber immer in den Stunden, in denen er allein war. Meist schaltete er schnell ab, wenn Alexej sich der Station näherte. Nur manchmal, dann, wenn Mac dachte, es sei etwas Allgemeines, was Kim berichtete, durfte Alexej die Nachricht, die nun bereits eine Woche alt war, miterleben, was er nicht gerade erhebend fand, aber das sagte er dem Gefährten nicht.

Freilich, Kim war hübsch, und sie verstand es, zärtlich in ihre Kamera zu blicken. Oft sickerten jedoch in die Schilderungen von Begebenheiten Kose- oder Codewörter und Andeutungen - nur für die Partner bestimmt - ein, und das empfand Alexej stets als ein wenig peinlich. Allerdings, so gestand er sich ein, je länger sie auf diesem Posten saßen, desto mehr hatte er sich an die Berichte Kims gewöhnt, desto weniger wollte er auf dieses Aktuell-Irdische verzichten. Es unterschied sich wohltuend von den sachlichen Nachrichten, die ihnen offiziell überspielt wurden.

Kim berichtete aus ihrem Erleben, gefärbt durch ihre Emotionen. Sie wirkte intelligent und anpassungsfähig, ihr Selbstbewusstsein war gepaart mit Zurückhaltung - ein Mensch also wie 1000 andere, einer, der in die Normen passte, der sie einhielt, eine Frau aber auch, deren Meinung man achtete, die, das spürte man, ihren Platz fest innehatte im Team des Observatoriums, in dem sie arbeitete. So erfuhren Mac und Alexej irdische Begebenheiten durch einen Menschen, der sich im Alltag auf der Erde befand, und das gewann zunehmend an Wert.

Immer öfter empfand Alexej, mehr unterschwellig und eigentlich nicht gewollt, dass es durchaus etwas Großartiges sein konnte, so wie Mac mit einem Menschen und damit mit der Erde verbunden zu sein. Er schob dieses unbestimmte Sehnen auf die Langeweile, die Nerven lähmende Tätigkeit, auf das engräumige Zusammenhocken mit dem zwar sehr verträglichen - es hatte niemals ernsthaften Zwist gegeben -, aber eben nicht viel mehr als verträglichen Mac. Sie waren in ihren Ansprüchen, in ihren Plänen so verschieden, dass sich kaum gemeinsame Interessen ergaben, von einer Freundschaft ganz zu schweigen. Was sie zusammengeführt hatte auf dieser gottverlassenen Station, war die Notwendigkeit, das verdammte Konditionstraining abzuleisten. Tja, Mac brauchte das wirklich. Als künftiger Leiter eines durchaus vergleichbaren Observatoriums in den Rocky Mountains musste man wohl solche Kondition haben. Alexej lächelte halb anerkennend, halb geringschätzig. ,Und ich brauche diese Qualifikationsstufe, weil sie für viele Tätigkeiten notwendig ist, für einen längeren Aufenthalt in einer Raumstation ebenso wie für die Arbeit als Pilot eines interplanetaren Schiffes oder eines Bathyskaphen.’

Alexej schauderte es jedes Mal, versetzte er sich an Macs Stelle, um in einem „lieblichen“ Tal - wie Mac schwärmte - der Rockys zu siedeln, dort Blumen oder gar Gemüse zu züchten, eine Schar Kinder zu zeugen und tagaus, tagein den gleichen Dienst zu verrichten. Aber Glück hatte er, der gute Mac. Eine Gefährtin zu finden, die so etwas mitmacht, ja, selbst ähnliche Ambitionen zu haben scheint, lebenslang, weitab vom Puls ...

Wieder spürte Alexej jene Sehnsucht, und einen Augenblick wurde ihm bewusst, dass er in den anderthalb Jahren, die sie bereits hier am Roten Felsen verlebten, kein einziges persönliches Videogramm erhalten hatte, dass sich seinetwegen kein Mensch der Mühe unterzog, eine halbe Stunde konzentriert in eine Kamera zu sprechen oder gar, wie Kim das tat, noch andere Neuigkeiten einzuschneiden. Die Bekannten, die Mitschüler - meine Güte! Wer weiß, wie viele sich zu solchen Macs entwickelt haben. Sie haben den eigenwilligen Alexej, der meist mehr oder anders wollte als viele, vergessen, wie solche Menschen oft vergessen werden. Warum eigentlich? Überdeckt das Sichheraushebenwollen Schwächen? Schwächen, die Menschen liebenswert machen, die gravierender sind als Leistung? Kann man so nicht Wärme ausstrahlen, die andere spüren?

„Na, Aljoscha, doch schlecht geschlafen? Machst so den Nachdenklichen heute. Und das bei dem schönen Frühlingswetter!“

In Alexej wollte Ärger aufsteigen. Das mit dem Frühlingswetter war ein Scherz Macs, den er stets parat hatte. Es herrschte ständig frühlingshaftes Wetter in diesen Breiten. Auch ein Zustand, der auf die Nerven ging.

Alexej dachte an die tief verschneite Taiga, an knirschenden Schnee und schillernde meterlange Eiszapfen vor dem Fenster der Jagdhütte. „Ach was“, sagte er. „Der Kurier war noch nicht da.“ Ihm war eingefallen, dass er Macs Frage noch nicht beantwortet hatte.

„Der richtet sich das auch ein, wie er will“, bemerkte Mac ein wenig enttäuscht.

„Na, da werde ich mal ...“, sagte Alexej lustlos. „Du, brate nicht wieder diese Steaks.“

„Werde sehen, was sich tun lässt.“ Mac lachte. „Dass du mir aber dafür nicht nächste Woche täglich mit deinen Pelmenis kommst! Ah, das müsste er sein, mach’s gut!“ Mac hatte sich aufgerichtet und zum Horizont hinübergesehen, dorthin, wo gegen die nun hoch am Himmel stehende Kaline die Station nicht auszumachen war. Aber über den unteren Rand der leuchtenden Scheibe zogen rötliche Staubschleier, also näherte sich ein Fahrzeug.

Mac setzte sich in Bewegung. Wenn der Kurier die Station anlief, dann hatte er stets etwas Persönliches, das nicht über den allgemeinen Funk gegeben wurde. Und da Alexej nie Derartiges bekam, konnte es schon ein Videogramm von Kim sein. Freudig, ohne noch einen Blick auf den Gefährten zu werfen, stapfte Mac los.

Über Alexejs Gesicht huschte abermals ein Lächeln. Weniger beschwingt als Mac schlug er den Weg zum Roten Felsen ein. Er musterte zerstreut die wuchernden Pflanzen links und rechts, die so dicht standen, dass der rötliche Untergrund nirgends hervorsah.

Als Alexej dem Fuß des Hügels nahe war, schwenkte er auf einen schmalen Pfad nach rechts ein. Er näherte sich einem Feld, auf dem das Grün spärlicher stand. Die Pflanzen hatten Mühe, die Anhöhe zu nehmen.

Alexej betrachtete aufmerksamer, und er stellte zufrieden fest, dass das Grün in der Woche, in der er diese Gegend nicht besucht hatte, um mehr als einen Meter vorgekrochen war. „Macht schon“, brummte er, „macht aus dem kümmerlichen Felsen einen grünen Hügel!“

Dem Gebilde widerfuhr mit der Bezeichnung „Felsen“ zu viel Ehre. Es war eine winderodierte, brüchige Erhebung, die zu der Zeit, als auf dem Planeten noch heftige Sandstürme tobten, ihre Form erhalten hatte. Windkanäle zeigten sich an den Flanken und Wollsackgebilde, die, aus der Ferne betrachtet, felsartig wirkten. Allerdings fiel der Hügel an der Rückseite steil ab, und dieser Abbruch war ein Teil der steilen Begrenzung eines kanonartigen, vielleicht 50 Meter tiefen Einschnittes, der sich, so weit das Auge reichte, von Nord nach Süd zog, wohl 200 Meter breit sein mochte und die Ausbreitung der Felder der Station 1017 begrenzte.

Jenseits des Canons setzte sich das hügelige Dünengelände fort, verlor sich dann jedoch in einer kahlen Ebene, die bis zum Horizont reichte. Auf der höchsten Erhebung der anderen Uferseite stand, aufdringlich wie ein Fremdkörper, die Ruine eines Gerüstes, das vor Jahrzehnten den Marsodäten bei Vermessungsarbeiten als Zielzeichen gedient hatte.

Unweit von Alexejs Standpunkt zogen sich zwei schenkeldicke Rohrleitungen den Hang herab, strebten rechtwinklig auseinander und verschwanden links und rechts in den Feldern. Alexej erinnerte sich, wie ungläubig er seinerzeit vor diesen Rohren gestanden hatte. Eine Eigentümlichkeit der Station 1017. Vor Jahren entdeckte mächtige Eisablagerungen in den Uferhöhlungen des Canons wurden geschmolzen und zur Berieselung auf die Felder gehoben. So musste hier nicht wie in den übrigen 10 000 Stationen Wasser ausschließlich aus Mineralien gewonnen werden.

Alexej erfreute sich an dem Glucksen in den Rohren und Geplätscher der Berieselungsanlage 3, an der er angelangt war. Sie befand sich mehr als 30 Meter hinter der Pflanzenfront, sodass der Regen diese kaum noch erreichte. Die Geräusche erinnerten Alexej an die Bäche, die während der Schneeschmelze das Steilufer des Baikals hinabrieselten.

Zunächst ließ Alexej die Maschine 3 stehen, er ging weiter zur 4, fuhr diese, ungeachtet dessen, dass Ranken und Äste in die Fahrwerke hineingewuchert waren, bis auf den kahlen Hang. Die Schreitplatten hinterließen im Grün des Feldes scharf abgegrenzte Vierecke, in denen die Pflanzen, platt an den Boden gepresst, sich nur langsam erholen würden. Dann kehrte er zur 3 zurück. Routinehaft, mit gesenktem Kopf und ohne hinzusehen, betätigte er mit der Linken das Potenziometer des Motorschalters. Da stutzte er und schaltete die Maschine, die sich brummend aufgerichtet hatte, wieder aus. „Mac muss verrückt geworden sein“, sagte er vor sich hin.

Um den Absprüher herum waren die Pflanzen zertrampelt. Pfützen standen in Vertiefungen, getreten von nackten Füßen, so als hätte sich Mac unter dem Sprüher geduscht.

Alexej schüttelte den Kopf. ,So tobt er sich also aus’, dachte er. ,Und dann ist er wieder der ruhige, ausgeglichene Mac. Sich unter der Dusche aalen, in der Sonne trocknen, warum nicht? Kleine Füße hat er. Na, soll er, wenn er Spaß dran hat!’ Alexej ließ den Motor erneut anbrummen. ,Aber das ist doch ganz frisch, von heute Morgen’, dachte er. ,Da hätte er doch gleich die Maschine vornehmen können, er wusste doch, dass sie gerückt werden muss!’

Auf dem Heimweg beschloss Alexej, Mac wegen des seltsamen Gebarens nicht zur Rede zu stellen. Auch Macs Nerven litten unter dieser Dauerbelastung. Davon war er nun überzeugt. Alexej wertete diesen Tatbestand als willkommene Abwechslung im täglichen Trott. -

3. Kapitel

Sylvester Reim pflegte alle Dinge nacheinander zu erledigen. Er setzte einen Schlusspunkt unter den Bericht über die Versuche mit dem Schneeknöterich, drückte die Stopptaste des Videografen und lehnte sich zurück. ,Eine runde Sache’, dachte er. ,Nichts Weltbewegendes freilich, aber etwas Notwendiges, und das befriedigt!’ Schon in den nächsten Monaten konnten die ersten Felder angelegt werden, in der Sahara, auf dem Mars oder in einer anderen öden Gegend. Und Sylvester dachte daran, wie stolz er sein würde, wenn später einmal, in einigen Jahren, die erfolgreiche Begrünung dieser oder jener unwirtlichen Landschaft bekannt gegeben würde, stolz darauf, dabei gewesen zu sein, als das, ganz klein und mühsam, begonnen wurde. Für eine solche Aussicht konnte man Werchojansk mit all seinen Unbequemlichkeiten durchaus ertragen. Sylvester saugte genüsslich an einer Juiceflasche, rekelte sich in seinem Sessel und fiel entspannt zusammen. Dann richtete er sich auf und sagte halblaut: „So, und nun zu dieser Faunella!“ Aber eilig hatte er es nicht. Seine Überraschung und eine gewisse Freude darüber, ausgewählt zu sein für dieses Vorhaben, hatten sich gelegt. Was blieb, war eine Aufgabe wie jede andere. Und dann hatten sich auch die ernüchternden Aspekte eingestellt: ,Ich bin Neuling. Mehr als Handlangerdienste werden wohl nicht infrage kommen. Also kein Grund zur Euphorie.’

Sylvester hatte sich nicht die Zeit genommen, bereits in den wenigen Tagen, seit er von seiner neuen Aufgabe wusste, gewisse Nachforschungen zu betreiben. Aber er beabsichtigte, mehr von dem zu erfahren, was vor seiner Zeit hier im Zusammenhang mit der Faunella geschehen war. Eins nach dem anderen, nichts lief davon. Erg, mit dem er darüber gesprochen hatte, wusste oder sagte nichts, drängeln wollte Sylvester niemanden. Und sollte es unerwartete Widerstände geben, das Seelenheil hing von diesen alten Geschichten nicht ab.

‚Ohnehin’, Sylvester warf einen Blick auf den Kalender, ‚sind es nur noch vierzehn Tage. Dann kommt erst einmal ein Monat Urlaub. Also werde ich vorher wohl nicht mehr die Welt einreißen.’

Einen Augenblick lang schwelgte er in künftigen Ferienunternehmungen. Die Eltern im Vogtland würde er besuchen, eine Woche, dann zu Alina nach Prag und mit ihr in die Hohe Tatra.

Freilich, ein Seeaufenthalt wäre ihm lieber gewesen, aber Alina wollte eben in die Berge, nun, wer wird da streiten. Sylvester malte sich aus, wie gemütlich Baudenabende sein würden oder Lagerfeuer im Freien mit schwarzen Bergen im Hintergrund. Und sogar Bären, frei lebende, gab es dort noch! ,Das haben sie schon gut gemacht, die Alten.’ Sylvester lächelte. ,Es gehörten sicher auch Mut und Ausdauer dazu, riesige Gebiete für jegliche Industrie zu sperren. Da hat jede Generation ihre Aufgabe. Welche haben wir?’

Sylvester lächelte erneut, reckte sich, stand auf. Ihm war jetzt nicht nach schwerwiegenden Überlegungen. Er ordnete einige Videobandkassetten, sah kurz in den verschneiten Park hinab, in dem sich pelzvermummte Gestalten ausgelassen mit Schnee bewarfen, wählte dann eine Nummer am Videofon, und als der wuschligge stirnrunzelnde Kopf einer jungen Frau erschien, fragte er: „Passt es jetzt?“

Nach einem Augenblick zerstreuten Nachdenkens, währenddessen sie offenbar etwas auf ihrem Tisch musterte, antwortete sie: „Aber ja, mein Lieber, komm rüber!“ Der Schirm erlosch.

,Na, immerhin’, dachte Sylvester, ,auf mich wartet schon deshalb keine unangenehme Tätigkeit, weil ich mit ihr zusammenarbeiten kann.’ Irgendwie erinnerte ihn die Marowa an Alina, vielleicht deshalb, weil beide Mädchen aus Böhmen stammten und ihm schon deshalb sympathisch waren.

Sylvester bummelte durch die großzügig angelegten Gänge und Atrien des Institutsgebäudes, blickte neugierig durch Glastüren in Laboratorien und Gewächshäuser, las Türschilder und vergaß sogleich wieder, was er gelesen hatte, nickte freundlich Bekannten zu und stand schließlich vor der Tür der Marowa.

„Diplom-Biologin Marie Marowa, Abt. ASS“, stand da. Abteilung ASS? Sylvester war nicht klar, was Abteilung ASS bedeutete. Er klopfte, sah bereits beim Öffnen der Tür das Aufleuchten des Entreeschildes und stand der Marowa gegenüber. Er kannte sie bisher nur von zwei kurzen Gesprächen über das Videofon, und sein Eindruck nun, da er sie live vor sich hatte, war anders.

Sie stand auf und kam um den Tisch herum auf ihn zu. ,Kleiner und zierlicher als Alina, dabei vollbusig und voller Kraft, wie es scheint’, dachte Sylvester.

Ihr rundliches Gesicht, umrahmt von dem wuschligen Haar, war gerötet wie nach einem Dauerlauf. „Hallo, Sylvester Reim!“, begrüßte sie ihn. „Bitte!“ Sie wies auf die Sesselecke in dem kleinen, eher wie ein nostalgisches Mädchenzimmer eingerichteten Raum.

Auf dem Arbeitstisch stand ein Esel aus Plüsch, der zähnefletschend lachte, über den Sesseln balgten sich auf einem Aquarell zwei halbwüchsige Bären, und innen an der Tür hing ein Plakat, auf schwarzem Grund ein verklärtes Männerporträt, das für „Lohengrin“ warb.

„Also“, sie ging ohne Vorrede mitten in die Sache hinein, „du kümmerst dich zunächst um die Beschaffung der Versuchstiere. Wir brauchen viele, letztlich einige Hundert und - echte!“

Sylvester wurde nicht klar, was wohl unter „echte“ zu verstehen sei. Er hielt es für klüger, seine Unwissenheit für sich zu behalten, und fragte stattdessen: „Ist das schwierig? Und - welche Sorte?“

„Einfach Schweine - wie sie noch vor Jahren zu Schnitzeln verarbeitet wurden - schöne Schweinerei!“ Sie lachte ein wenig - nach Sylvesters Empfinden - unmotiviert. So lustig fand er das nicht. Aber sehr regelmäßige Zähne hat sie, stellte er fest. Überhaupt ließ sich bei solchen Kollegen die Faunella ganz gut ertragen, auch wenn es sich für ihn zunächst nur um Schweine handeln sollte. Ein gutes Team war die halbe Arbeit.

„Du wirst schon sehen, es sind einfach keine zu haben. Wenn wir wenigstens ein paar Zuchttiere auftrieben, dann machten wir uns die Ferkel selbst.“ Sie lachte abermals, diesmal schmunzelte Sylvester mit. „Natürlich könnten wir uns Homunken, Doubles, züchten. Aber die Alge wird im Regelfall unter natürlichen Bedingungen eingesetzt werden. Und, du verstehst, da gibt es Probleme mit den Abwehrstoffen, der Anpassung und Verträglichkeit. Also - kurzum, wir brauchten möglichst viele echte Schweine!“

„Und wo, meint ihr, müsste ich da ansetzen? Ich hatte in meinen fünfundzwanzig Jahren noch keinen Tag mit Tieren zu schaffen.“

Marie zuckte mit den Schultern. „Ich denke, du bist so ein Organisationswunder? Erg hat dich wärmstens empfohlen.“ Sie lächelte ein wenig hämisch und blinzelte ihm lustig zu. „Na, pass auf!“ Sie ging zum Schrank, entnahm ihm ein zusammengefaltetes Etwas und begann dieses auf dem Tisch auszubreiten.

Wahrhaftig, eine Karte, eine papierne Landkarte, präziser, eine Wanderkarte! Sylvester sah sich um. Da dämmerte der große Bildschirm mit der zugehörigen Projektionseinrichtung. Auch eine Eingabeeinheit stand da und ein Datenschrank. Und sie benutzte eine papierne Karte. Ob sie vielleicht gar danach wanderte?

Sie hatte seine Gedanken erraten. Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie glättend über das Papier strich.

Auf dieser Karte war Werchojansk liederlich rot umrandet. Das Institut außerhalb der Stadt hatte einen grünen Kreis. Mehrere krakelige Linien schoben sich von dort aus in unterschiedlichen Farben in alle Richtungen.

Marie ergriff einen Stift und verdarb damit die Karte noch mehr, indem sie um einige Siedlungs Symbole Kringel zog, dazu die Ortsnamen nannte mit dem Hinweis, dass er dort sein Glück versuchen solle.

Unvermittelt brach sie die Unterredung ab. Sie stand auf, faltete die Karte falsch zusammen, sodass diese mächtig bauschte, drückte sie Sylvester in die Hand und sagte: „Vierzehn Tage, hm? Der Rover - warte …“, sie blickte zur Notiztafel, „elf steht dir zur Verfügung. Und dass du dich nicht ohne ein Dutzend solcher Viecher blicken lässt! Damit könnten wir nämlich etwas anfangen. Viel Glück, Syl!“ Das Letzte sagte sie in verändertem Tonfall mit Wärme in der Stimme, sodass die in Sylvester aufkeimende Auflehnung gegen ihr Administrieren im Nu verflog.

Sylvester wollte noch eine Frage loswerden. „Die Versuche waren doch schon einmal weiter, vor Jahren, sagt man. Die werden doch auch Schweine gebraucht und gewusst haben, wie man sie beschafft ...“

Marie musterte ihn mit einem eigentümlichen Blick. „So“, meinte sie dann, „sagt man?“ Sie verzog die Mundwinkel und nickte. „Wenn du dich nicht unbeliebt machen willst bei Ramro und ich dir einen Rat geben darf, dann lass die Geschichten. Die Alte ist da allergisch, hm?“

Dieses „Hm“, von einem mütterlichen Blick begleitet, gab wieder Wärme und Verbindlichkeit, sodass sich Sylvester geneigt fühlte, den Rat zu befolgen. Dann zuckte er mit den Schultern und schloss die Tür von außen. ,Was kümmert mich Ramro’, dachte er. Und er lächelte über die Verstümmelung des - zugegeben - merkwürdigen Vornamens, die er von der Marowa zum ersten Mal gehört hatte.