Impressum

Alexander Kröger

Der erste Versuch

Science Fiction-Roman

 

ISBN 978-3-95655-658-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2001 im Verlag KRÖGER-Vertrieb, Cottbus. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2011 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle erschien.

 

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1. Kapitel

Milan Nowatschek sah zur Uhr: >Achtuhrzweiundsechzig - noch beinahe anderthalb Stunden.< Ihn fröstelte, obwohl sich an diesem Frühsommermorgen kein Lüftchen regte und die wärmenden Strahlen der Sonne der Haut schmeichelten. >Ich gehe zu Fuß<, entschloss er sich.

Er schritt die schier endlose Stufenflucht des Terrassenhauses hinab; neben ihm surrte leise die breite Rolltreppe, die um diese Tageszeit nur ab und an Passanten an ihm vorbei beförderte.

Milan achtete weder auf die Menschen, die ihm begegneten, noch auf den üppig überhängenden Flieder oder den duftenden Jasmin. Er wich den Zweigen aus, und flüchtig dachte er, dass man die Verwaltung kritisieren müsse. Schon den zweiten Herbst hatte man die alten Sträucher nicht zurückgeschnitten oder sie durch wachstumsgehemmte ersetzt. Aber wer schon benutzte die Treppe.

Auf der Straße, um diese Zeit mäßig befahren, ignorierte Milan den Liftzug, überquerte vorschriftswidrig die Fahrbahn und betrat den Park, an dessen anderem Ende sich sein Ziel, das Gerichtsgebäude, befand.

Zum hundertsten Male stellte sich Milan die Frage, was diese so unerhört merkwürdige und plötzliche Einbestellung auf sich haben mochte. >Warum nur ich als Vorsitzender und nicht der gesamte Vorstand? Weshalb keine Konferenzschaltung? Das Aus nun für den Verein, das lang befürchtete?< Milan versuchte, sich gegen den Gedanken zu wehren. Aber so sehr er auch die Frage verdrängen mochte, wie ein Kreisel drehte sie sich in seinem Kopf. >Sie haben es geschafft. Aber weshalb dann dieses unverständliche Getue? - Noch immer eine Stunde ...<

Milan kickte einen Stein, und es war, als befreie ihn der heftige Stoß von den müßigen Gedanken. >Ich werde es bald wissen.< Und auf einmal nahm er seine Umgebung wahr, erfreute sich an den frisch bepflanzten, lustig bunten Blumenrabatten, am Plätschern des Brunnens und amüsierte sich über einen Pulk Spatzen, die lautstark ein verspätetes Morgenbad nahmen.

Milan wich einigen kleinen Pfützen aus, und er registrierte erfreut, dass die Wetterleute ihr diesjähriges Versprechen, den Regenturnus einigermaßen pünktlich einzuhalten, offenbar ernst nahmen.

Nur wenige Leute flanierten im Park umher. Einige Kindermobile begleiteten folgsam ihre Betreuer, ein paar alte Leute saßen auf Bänken, ein Pärchen ruhte entrückt, Händchen haltend.

Milan überquerte abermals die Ringstraße, bog in die Goetheallee ein und stand alsbald, noch immer zu früh, vor dem modernistischen Gerichtsgebäude, dessen violette Keramikfassade gleichsam Kälte ausstrahlte. Oder es war das Magenkribbeln, das Milan beim Anblick des Gebäudes befallen hatte und ihn frösteln ließ - vielleicht auch einfach der Umstand, dass zu dieser Stunde nach dem Sonnenstand und der alten prächtigen Linden wegen die Goetheallee noch in tiefem Schatten lag.

Im Foyer zwang sich Milan, die Schlagzeilen der Tagesnachrichten zu lesen. Er erfuhr unter anderem, dass es gelungen sei, auf Grund einer exakten Voraussage, die Bewohner der japanischen Insel Awa-Shiwa vor einem starken Erdbeben so rechtzeitig zu warnen, dass kein einziges Menschenleben zu beklagen war. >Wie lange hatte man derartige Prophezeiungen versucht - und möglicherweise war es wiederum nur ein Zufallstreffer.<

Milan meldete sich an.

Die Dame auf dem Schirm sah kaum auf. Der kurze Blick wirkte gelangweilt. »Du wirst erwartet. Zimmer dreihundertvierundvierzig. In zehn Minuten«, setzte sie spitz mahnend hinzu.

>Aufgeblasene Gans<, dachte Milan, suchte jedoch den Eingang zum Treppenhaus und stieg langsam in die dritte Etage empor. In jedem Stockwerk verharrte er und sah hinunter auf die Stadt, die die aufsteigende Sonne mehr und mehr in Licht tauchte. Doch in seinem Kopf drehte sich erneut heftig der Kreisel.

Zimmer 344 befand sich am Ende des Korridors. Milan vergewisserte sich: »Generalanwalt Sektor vier, Master Jens Kuler«.

Milan sog die Luft tief ein, betätigte den Signalgeber und trat, ohne dazu aufgefordert zu sein, forsch ein.

Der stationäre Servomat im kleinen kahlen Vorraum, in dem sich außer einer überdimensionalen Zimmerpalme und dem modernen Gerät kein einziges Möbelstück befand, sagte hohl: »Tritt ein«, und richtete den Punkter auf die linke der beiden Türen.

Schon auf den ersten Blick wusste Milan, dass er einen Mann vor sich hatte, mit dem zu handeln aussichtslos erschien.

Kuler hatte sich erhoben, war hinter dem Kommunater hervorgetreten, einige Schritte auf den Besucher zugegangen, hatte ihn leicht am Arm berührt und zwingend »Setz dich!« gesagt. Dabei hatte er Milan nicht angesehen und, außer um für die zwei Worte den Mund ein wenig zu öffnen, keinen Muskel im Gesicht verzogen.

Kuler war ein großer Mann, eine Respekt einflößende Person. Dieses Eindrucks konnte sich Milan nicht erwehren. Die graue Stoppelfrisur ließ das Gesicht noch länger erscheinen, buschige Augenbrauen gaben Kuler etwas Finsteres. Das Unangenehme allerdings, das Milans ersten Eindruck bewirkte, waren die äußerst eng stehenden grauen Augen, die den Blick scheinbar stechend machten. Kuler war dürr. Sein bräunliches Kleid schlackerte an ihm, und die Unterarme mit den knochigen Händen ragten aus den weiten Ärmeln mumienhaft hervor.

Mit Milans Forsche war es vorbei. Er blickte sich verunsichert um. Auch dieser Raum war außer mit dem Kommunater nur mit einem großblättrigen Baum ausgestattet. Ein zusätzlicher Stuhl, der gleichsam mitten im Raum stand und so einen gehörigen Abstand zum Sitzmöbel des Generalanwalts schuf, unterstrich die Leere.

Milan setzte sich.

»Kommen wir zur Sache«, sagte Kuler geschäftsmäßig. Er trat hinter den Kommunater, glitt schlaksig in den Sessel und sah zum ersten Mal Milan voll an, sodass dieser die Augen senkte, weil er meinte, den Blick des anderen nicht ertragen zu können. »Du bist hier der Guru ...«, bei dieser Anrede lächelte Kuler ironisch, sein Adamsapfel glitt auf und nieder, »der regionalen, sogenannten Vereinigung für das Zweite Leben. Der Grund meiner ...«, er zögerte, lächelte abermals, »na, sagen wir, Bitte ist, dass du unverzüglich dafür sorgst, dass euer Verein endlich aufgelöst wird. Mit meinen Kollegen der Anwaltschaften der anderen Sektoren stimme ich voll überein.«

Da war es heraus! Obwohl Milan sich im Klaren war, dass das, was Kuler gerade mehr beiläufig geäußert hatte, Endgültiges bedeutete - allzu lange wurde intrigiert, angefeindet, ja terrorisiert -, fühlte er sich irgendwie erleichtert. Es war heraus, eine äußerst unangenehme Angelegenheit, aber es war nun offiziell, und man wusste, woran man war. >Offiziell?< Milan fasste sich. »Entschuldige«, fragte er naiv, »ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, wann eigentlich wurde der Beschluss ...?«

Eine unwillige Geste seines Gegenübers ließ Milan den Satz abbrechen. Kuler hatte seine Ellbogen auf den Kommunater gestützt, sich vorgebeugt, sah Milan voll an und sagte schroff: »Es gibt keinen - schriftlichen Beschluss, wenn du das meinst. Wir wählen - zu eurem Besten - diese Form der Information. Es wird so jedes öffentliche Aufsehen vermieden, und ihr seid gut beraten, es zu akzeptieren. Du weißt, es gibt einflussreiche Leute, denen an einem Medienrummel nicht gelegen ist.«

>Und ob ich das weiß<, dachte Milan. >Also daher weht der Wind, und das ist der Grund dieser merkwürdigen Vorladung! Wir verschwinden sang- und klanglos, Interessenten finden keinen Anlaufpunkt mehr, Adressat unbekannt - fertig.<

»Und ob ich das weiß.« Milan lehnte sich zurück. Druck war von ihm genommen, nun wusste man, mit wem man es zu tun hatte und was diese wollten. Denn welchen Kreisen diese Einflussreichen entstammten, lag auf der Hand. »Und - gesetzt den Fall, wir gingen auf deine ...«, er zögerte und betonte das folgende Wort, »Bitte nicht ein, was geschieht dann?«

Kuler gab seine Haltung auf, fläzte sich gleichsam in den Sitz. »Das, Milan Nowatschek, wäre sehr unklug. Du weißt, dass ein großer Teil der Menschheit ...«

Milan winkte ab.

Kuler fuhr unbeirrt fort: »euer Tun als unmoralisch verdammt. Leider gibt es unter euren Gegnern auch militante, und unsere Macht ...« Er hob bedauernd die dürren Arme und brach den Satz ab.

»Diese Leute sind wirklich einflussreich«, bemerkte Milan mehrdeutig wie zu sich selbst. »Das war es wohl.«

»Ja, es gibt dem nichts hinzuzufügen.«

»Du verstehst, dass ich diese - Sache mit dem Vorstand ...An welchen Termin denkst du? Es schlafen im Sektor ein paar Hundert.«

»Es ist doch gut, wenn man es mit verständigen Menschen zu tun hat. Natürlich musst du das mit den Deinen besprechen. Und für die Schläfer dürfte es eine Lösung geben, so oder so - euer Problem.« Kuler hatte ein gönnerhaftes Lächeln aufgesetzt. »Aber viel Zeit solltet ihr euch nicht lassen. Es wäre schön, wenn sich in einem Vierteljahr niemand mehr auf eure Art aus dieser Gegenwart hinwegstiehlt.«

»Nun denn.« Milan stand auf, neigte leicht den Kopf zum lächelnden Kuler hin, der lässig zum Gruß eine Hand um wenige Zentimeter hob, und verließ den Raum.

2. Kapitel

»Es gibt also drei Möglichkeiten, wenn ich Milan richtig verstanden habe«, resümierte Anna Mohl. »Wir machen dicht, gehen damit auf Kuler ein, oder wir protestieren, wie auch immer. Zum Beispiel, indem wir deren Verlangen einfach ignorieren.«

»Drittens?«, unterbrach Richard Collins.

»Wir gehen in die Illegalität.«

»Du redest, als hättest du das vergangene Jahr verschlafen«, konterte Collins. »Vor zehn Monaten gehörte Mike noch zu unserer Runde. Diese Leute pflegen ihren so genannten Bitten durchaus Nachdruck zu verleihen. Ich glaube, es hat keinen Zweck; früher oder später müssen wir aufgeben. Lasst es uns jetzt einigermaßen mit Würde tun. Sie würden uns hetzen.«

Milan hatte nach seinem kurzen Bericht geschwiegen, den Gefährten Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern. Für ihn stellte sich der Sachverhalt ziemlich klar dar. Die Drohung Kulers war deutlich. Dieser Generalanwalt zählte mit Sicherheit zur weltumspannenden Mafia oder war ihr zumindest hörig. Dagegen anzutreten, fehlten Kraft und Unterstützung, insbesondere aber mittlerweile der Wille. Nahm man bislang an, die militanten Akte gegen die Vereinigung seien spontane Aktionen einzelner Gruppen, so war nunmehr klar, dass Mächte dahinter standen, die ihre Ziele durchzusetzen imstande waren, wenn auch Milan die Art dieser Ziele verborgen blieb. Sie konnten mannigfaltig sein: zum Beispiel aus kommerziellen Gründen die kleinen Quietscher ausschalten, um selber die Methode im großen Stil zu vermarkten. Oder der Klerus fürchtete um seine ohnedies schwindende Macht, oder ... Gruppierungen also, die, unterstützt von korrupten Leuten in den Verwaltungen, sich ihres Erfolgs sicher sein konnten. Und dagegen sollte man aufstehen?

»Was meinst du, Milan?«, fragte Anna.

»Wir berufen eine Vertreterversammlung ein und stimmen ab. Schließlich muss entschieden werden, was im Sektor mit den Schläfern geschehen soll. Ich selber bin noch unentschlossen.«

Nach weiterem, im Ganzen ergebnislosem Diskutieren stimmte der Vorstand Milans Vorschlag zu. Sie versandten umgehend den Aufruf an die Sektorengruppen, in einer Woche kompetente Vertreter zu einer äußerst wichtigen Beratung in Konferenz zu schalten.

Milan hielt seine Meinung noch zurück: Auflösung der Vereinigung. Niemand sollte in Bedrängnis gebracht, keiner einer Gefahr ausgesetzt werden. Zu nachhaltig wirkte der mysteriöse Tauchunfall Mikes und das anschließende läppische Verhalten der Polizei. Schließlich gab es eine Reihe von Drohnachrichten an einzelne Mitglieder, die insbesondere nach diesem Gespräch mit Kuler durchaus sehr ernst zu nehmen waren. Aber Milan befürchtete, dass seine Meinung andere möglicherweise stark beeinflusst hätte. Deshalb sein Vorschlag, eine Vertreterzusammenkunft einzuberufen. Bis dahin blieb auch noch Zeit, in die Daten zu schauen, um vielleicht doch noch die eine oder andere Hintergrundinformation herauszufinden. >Nützen<, so dachte er, >wird es aber kaum.< Widerstand hielt er für selbstmörderisch, und illegal weiter zu wirken für den Einzelnen für viel zu gefährlich. >Die etwas über dreihundert Schläfer im Sektor zu wecken, ist kein Problem. Aber etliche werden Regress anmelden, schließlich wären wir vertragsbrüchig. Vielleicht jedoch lassen sich die Ansprüche gegen die Gefahr eines Endlosschlafes aufrechnen ... Spekulation.<

*

Die Rolltreppe war zum Spätnachmittag wie immer beträchtlich beansprucht. Die Hastigen, denen die Maschine nicht schnell genug lief, stiegen rechts in langer Reihe an den anderen vorbei.

Milan, nicht in Eile, hatte es sich im Sesselteil bequem gemacht und blickte hinunter in die Stadt, deren überschaubarer Ausschnitt sich scheinbar kontinuierlich vergrößerte. Schon waren in den Straßen die Fahrkabinen der Sitzzüge nicht mehr einzeln auszumachen, einige Freifahrer hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet.

Milan genoss den lauen Abend, es wehte kaum ein Lüftchen, und das Gemurmel der sich auf der Treppe unterhaltenden Leute unterstrich die Ruhe eher, als dass es sie störte.

Milan erreichte die 37., seine Etage. Er stieg ab und schlenderte an der Buchsbaumhecke entlang, die bis zum nächsten Stock emporwucherte. Vom Weg zweigten die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen ab.

Schon als er zu der seinen einschwenkte, spürte er es, ohne dass er zunächst zu sagen vermocht hätte, was es war. Durch den Duft des Jasmins und frisch geschnittener Zweige zog plötzlich ein Hauch, ein äußerst übler. Und Milan erinnerte sich: Damals mit Alina auf der Karpatenwanderung - abseits von jedem Touristenbegängnis - hatten sie mühsam, als es schon dunkelte, das neue Zelt aufgeschlagen und es sich gerade davor gemütlich gemacht, als der leichte Wind umschlug und sie plötzlich mit einem bestialischen Gestank überfiel, der sie bestimmt bewogen hätte, den Stellplatz zu wechseln, wäre es nicht mittlerweile finster gewesen. Am Morgen sahen sie es: Wenige Meter entfernt wucherte ein Hexenring verwesender Stinkmorcheln.

Der Gestank nahm zu, je näher Milan seiner Haustür kam. Als er sie aufgeschlossen und geöffnet hatte, verschlug es ihm fast den Atem. Das Üble drang aus seiner Wohnung!

Im ersten Schreck schlug er die Tür heftig zu, trat etliche Schritte zurück, überrascht und fassungslos. Was, zum Teufel, war das! Er überlegte fieberhaft, welches Ereignis der Auslöser sein, was das Infernalische erzeugt haben konnte.

Milan verhielt noch einen Augenblick, stieg dann die wenigen Stufen zu seiner Terrasse empor, befeuchtete am Wasserhahn sein Taschentuch, hielt es sich vor Mund und Nase und drang rasch in die Wohnung ein. Er eilte in die Räume, riss Fenster und Türen sperrangelweit auf und schaltete die Klimaanlage auf die höchste Stufe.

Milan inspizierte gründlich - noch meinend, er habe selbst das Missliche verursacht. Er stellte zunächst fest, alle Textilien hatten das Üble angezogen, sodass das Lüften nur bedingt half. Er verbrachte die Stücke zum Ausdünsten auf die Terrasse. Aber was, zum Teufel ...?

Auf seinem altertümlichen Schreibtisch dann - einen der modernen Kommunater wollte er sich noch nicht leisten - fand sich des Rätsels Lösung, die Milan ebenso überraschte wie wütend machte: Ein gewöhnlicher Ausdruck in großen Buchstaben lag da - vermutlich auf seinem eigenen Texter geschrieben - mit den Zeilen: >Es könnte sein, dass du, Milan Nowatschek, deinesgleichen und eure Schläfer bald ebenso - duften wie gegenwärtig deine Wohnung. < Unterschrieben war der Wisch mit >Die Gutmeinenden<.

Eine Weile saß Milan unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ekel hatte ihn ergriffen und eine ohnmächtige Wut, dazu gesellte sich ein klopfender Kopfschmerz, wohl eine Nebenwirkung des Gestanks. Dann sagte er laut: »Sie machen Ernst, die Schweine.«

Wenig später wurde es Milan übel, der penetrante Geruch nahm nur langsam ab, sodass Milan einige persönliche Dinge zusammenpackte und die Wohnung verließ.

*

Als Echo auf die Einladung zum Vertretertreffen baten mehrere Teilnehmer, dafür keine Konferenzschaltung zu nutzen, sondern sich in Eimsen zu treffen. Der Vorschlag wurde damit begründet, dass sich jeder einigermaßen fachlich Beschlagene in die Beratung einwählen könne.

Milan horchte auf: Beschlösse man die Auflösung, könnten das die heimlich Interessierten durchaus miterleben. Dass nunmehr ein persönliches Treffens favorisiert wurde, deutete wohl darauf hin, dass nicht für jedermann Bestimmtes zu besprechen war.

So war es dann auch.

Milan begrüßte kurz, legte den Sachverhalt dar und wiederholte, was zu entscheiden wäre.

Björn Arnesund, ein couragierter Verfechter der Ziele der Vereinigung, nahm sogleich das Wort: »Direkt hast du es nicht gesagt, Milan. Wenn man aber zwischen deine Sätze gehört hat, kann man meinen, dass du unserer Mission keine Chance gibst und kompromisslos auflösen willst.«

»Du hast ein gutes Gehör«, warf Milan scherzend ein.

Einige lachten.

»Ich glaube, im Grunde sind die meisten von uns, nach Lage der Dinge, für eine Auflösung. Es sollten keine neuen Schläfer gewonnen werden - zu Ausnahmen komme ich noch. Aber wir dürfen keinen Schlafenden im Stich lassen. Das heißt, wir müssen aktiv sein, bis der Letzte erwacht ist. Jeder weiß, was das bedeutet. Entweder wir wecken sofort oder betreuen, bis alle Verträge ausgelaufen sind.«

»Da müssten wir dafür sorgen, Björn, dass die Vereinigung noch mindestens hundertfünfzig Jahre ... «

»Das ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ausgeschlossen«, warf Anna erregt ein.

»Das meine ich natürlich auch. Also die Schläfer wecken! Aber auch das wird eine Zeit lang dauern. Und ich glaube, da dürften selbst die erbittertsten Widersacher nichts dagegen haben.«

»Da bin ich nicht so sicher«, warf Nicole Doux, die Vertreterin aus Straßburg, ein. »Es sind mehr, als bislang je erweckt wurden. Wenn auch nicht jeder in seine vertraglich vereinbarte Zukunft gerät, so doch in ein zweites Leben. Und das, Freunde, macht keine Reklame für den Klerus. Er ist früher nicht davor zurückgescheut, so genannte Ungläubige massenhaft hinzuschlachten. Und seine militanten Vertreter heute, ich weiß nicht ...«

»Ein Vorschlag:« Tatjana Chlebkov meldete sich zu Wort. »Wir bilden eine Gruppe, einen Kern sozusagen, dem insbesondere unsere Techniker angehören. Sie sollten die automatischen Stationen so weit perfektionieren, dass wir damit wenigstens die Langzeitverträge erfüllen, auch wenn eine personelle Betreuung nicht mehr stattfindet. Den anderen Schläfern wird es auf einige Jahre früheres Erwachen wahrscheinlich nicht ankommen. Sie werden dieses gegen das Sicherheitsrisiko, womöglich überhaupt nicht geweckt zu werden, gern tauschen.«

»Und hoffentlich auf Sanktionen verzichten«, warf Eduardo el Costa ein.

»Ja«, bestätigte Björn. »Ich komme auf das zurück, was ich vorhin angedeutet habe. Wie immer wir uns entscheiden, einige Aktivitäten mit großer Verantwortung bleiben, sie werden über kurz oder lang in die Illegalität führen. Wir brauchen eine straffe, zuverlässige, gut geführte Organisation.«

»Na, die haben wir doch!«, rief Fernando Citos, der Spanier.

»Ja«, fuhr Björn fort. »Unser Vorstand hat hervorragend gearbeitet. Dennoch bin ich dafür, ihn der Sache wegen abzulösen!« Er hob Hände und Stimme gegen den allgemeinen Protest. »Auf keinen von uns werden die Gegner in der nächsten Zeit so ein Auge haben wie auf die Mitglieder des Vorstands. Ich erwähne nur den Anschlag auf Milans Wohnung. Unsere Oberen müssten ihre Kraft darauf richten, der Observation zu entgehen, sie wären dadurch hochgradig arbeitsbehindert. Wir brauchen Leute, die bislang öffentlich nicht oder kaum in Erscheinung getreten sind. Und wir sollten sogar die Ausnahme zulassen: Wenn einer von unseren Verdienstvollen den Wunsch hat, vorerst aus diesem Leben zu verschwinden - insbesondere auch aus Sicherheitsgründen oder um einfach auf ein zweites, besseres zu hoffen -, dann sollten wir das unbedingt ermöglichen, allerdings mit hohem Risiko: Er muss sich auf eine Automatik verlassen, die über Jahrzehnte störfrei funktioniert. Außerdem muss er zuverlässig geschützt untergebracht sein mitsamt der Apparatur - vorzeitig entdeckt, und es wäre aus.«

Es herrschte Schweigen. Björns Argumenten konnten sich die Zuhörer nicht entziehen.

Da sagte Milan: »Björn hat recht. Ich stimme seinem Vorschlag unbedingt zu und gebe den Vorsitz ab.«

Spontan bekundeten auch Anna und Richard ihr Einverständnis.

Es entstand eine Art Verlegenheitspause. Offenbar hatte keiner der zwölf Vertreter mit einem solchen Verlauf der Debatte gerechnet.

»Bliebe - wer übernimmt?«, fragte Jan Marschewsky aus Warschau.

»Wir treffen uns in zehn Tagen an gleicher Stelle. Ihr schlagt vor und entscheidet. Gestattet diesen Vorschlag als meine letzte Amtshandlung.« Milan lächelte. »Und dann, Björn, lasst mich einer von denen sein, die eine Weile, ich denke an fünfzig Jahre, aus diesem Leben verschwinden, wie du dich ausgedrückt hast. So bin ich für die weitere Arbeit der Vereinigung die geringste Last.«

Wieder herrschte Schweigen.

»Das hast du dir wirklich gut überlegt, Milan?«, fragte Nicole.

»Ja - gut!« Milan sah nicht auf. Er ordnete die wenigen Gegenstände auf dem Schreibtisch und klappte den Schirm seines Merkers zu.

3. Kapitel

Paolo Mannas, Direktor der Agency of International Trade Management, war ein Mensch, dem man im täglichen Umgang weder sein Durchsetzungsvermögen noch die Brutalität, mit der er es begleitete, angemerkt hätte. Mit seiner fülligen, eher kleinen Figur, seinem runden, meist rosigen Gesicht und dem schütteren Haarkranz wirkte er sanftmütig, gemütlich, Vertrauen erweckend. Nur die flinken, schmalen, stets wachen Augen und der zu einem an den Enden

nach unten gebogene, zu einem Strich mutierte Mund ließen vermuten, dass die Fassade Gefühlskalte verbarg.

An diesem Vormittag war Paolo Mannas jedoch besonders gut aufgelegt. Soeben war ihm die Nachricht überbracht worden, dass Nummer 273 A, ein Milan Nowatschek, der M 1, für 50 Jahre in den Dauerschlaf gegangen sei, und zwar freiwillig. Allerhöchste Zeit; denn gerade jetzt wurden intelligente Leute gebraucht, also konnte, nein, musste, M 2, Milan Nowatschek, sofort aktiviert werden.

Paolo Mannas wählte und rief Cathleen Creff. »Komm zu mir, gleich!«, beorderte er sie zu sich, kaum, dass sich ihr Konterfei auf dem Monitor realisiert hatte.

Der Direktor bediente abermals die Tastatur. »Den Em zwei, Milan Nowatschek, sofort zu mir!«, befahl er, bekam aber Augenblicke später die Meldung, dass sich der Gewünschte auf Stützpunkt acht befinde und frühestens in circa vier Stunden in der Zentrale sein könne.

»Okay«, brummte Mannas unwirsch, »dann eben in vier Stunden.«

Der Türmonitor kündigte Cathleen Creff an. Mannas ließ sie eintreten. »Nimm Platz«, sagte er freundlich und wies auf die Sitzecke unter einer großen Yucca im riesigen Arbeitszimmer, an dessen Wänden sich in Kineregalen die umfängliche Datenträgeraktei der Agentur befand.

Dem Kommunater gegenüber plätscherte ein etwas verkitschter Wasserfall; ein dicker Teppich mit dem Abbild eines ruhenden mächtigen Löwen überdeckte weitgehend das künstlerisch gestaltete Parkett aus Palisanderholz, dessen Einfuhr seit einem Jahrhundert verboten war.

Cathleen Creff war eine durchaus hübsche Person mit moderner, teurer, blau scheinender Aureolenfrisur. Für eine Idealfigur waren ihre Oberweite ein wenig zu groß und die Beine ein Jota zu kurz, was jedoch keineswegs das Gesamtbild einer attraktiven Frau beeinträchtigte. Im Gesicht traten die Wangenknochen um einen Deut hervor, was eher auf einen osteuropäischen Typus schließen ließ, und in der Tat stammten Cathleens Vorfahren aus Böhmen. Ihre rehbraunen Augen passten ebenso dazu wie ihr rundliches, eine Art Permanentfröhlichkeit ausstrahlendes Gesicht. Sie trug an diesem Tag ein ausgeschnittenes hemdartiges weißes Hängekleid, das bis an die Waden reichte. Als einziger Schmuck zierte ein Armspangen-Mittelfinger-Kettchen ihre linke Hand. Als sie zum Sessel ging, wurde sichtbar, dass sie kaum merklich auf dem linken Bein hinkte.

»Es geht um Em zwei, den Milan Nowatschek. Er arbeitet zur Zeit, wie ich gerade hörte, auf Stützpunkt acht. Du kennst ihn?«

Der Hauch einer Überraschung überflog sekundenlang Cathleens Gesicht »Ich kenne zwar nicht alle unsere zweiundfünfzig Mitarbeiter hier, aber den schon.« Die Creff geriet in Eifer, sodass Mannas’ schmale Augen sich leicht erstaunt vergrößerten. »So ein Schlanker mit Hakennase, aber - sympathisch. Ich glaube, er ist gut ausgebildet. Er macht sich ausgezeichnet im Tarnungsgeschäft. Zu tun hatte ich mit ihm bei ...«

Mannas unterbrach die Creff mit einer heftigen Handbewegung. »Ich möchte, dass du dich um die - zwei Milan Nowatscheks kümmerst und dass sich alles, was sich in diesem Zusammenhang ereignet, ausschließlich zwischen mir und dir abspielt.«

»Er ist also einer von den Doppelten«, bemerkte Cathleen nachdenklich.

»Ja - und es ist höchste Zeit, dass er sich amortisiert.«

»Ich sagte, er arbeitet gut.«

»Für seine jetzige Tätigkeit haben wir ihn nicht - herangepäppelt. Tarnarbeit ist zweitrangig«, entgegnete Mannas eine Spur unwillig. »Em eins ist endlich von der Bildfläche verschwunden, als wir schon dachten, nachhelfen zu müssen. Er hat sich als Sektionsvorsitzender dieser so genannten Zweitlebensgemeinschaft selber aus dem Verkehr gezogen; beachtlich geschickt der Mann. So entgeht er dem Druck, dem diese Leute jetzt ausgesetzt sind. Er hat sich für fünfzig Jahre schlafen gelegt, nur - wir wissen noch nicht, wo. Aus der Datenbank hat er sich, weiß der Teufel wie, entfernen lassen. Deine erste Aufgabe also, herauszufinden, wo er pennt. Er muss selbstverständlich unter Kontrolle bleiben.«

Cathleen nickte, drückte einige Tasten auf ihrem Merker.

»Keine Unterlagen produzieren«, mahnte Mannas streng. »Auch die Akteure werden nur in das Allernötigste eingeweiht!«

»Lediglich persönliche Gedächtnisstützen, mit denen keiner etwas anfangen kann ...« Sie hob das kleine Gerät in sein Blickfeld.

»Okay - also: Wenn seine Schlafstatt gefunden ist, sollte er in unseren Stützpunkt nach Bacherode überführt werden, dort wird neben unserem - Dopplerlabor eine automatische Schlafstation eingerichtet. Einer der Unseren, eingeschleust in die Vereinigung, macht das, aber das sollte dich nicht weiter interessieren. Wichtig ist nur, dass dorthin auch noch ein paar andere - Normale sozusagen - verbracht werden. Die haben mit uns nichts zu tun, aber unserem Mann muss der Schein gewahrt werden.«

»Verstehe.«

»Das Wichtigere aber ist der Einsatz von Em zwei. Wir benötigen dringend, insbesondere Informationen über das HAARP-Projekt, dessen Ausbau vor vier Jahren wieder aufgenommen wurde, nachdem es beinahe zwei Jahrhunderte geächtet war. An drei Stellen der Erde wird daran gearbeitet, am weitesten ist das Internationale Konsortium, das die Anlage auf der kroatischen Insel Unije errichtet, wohl zu Ehren des Nikola Tesla, eines Kroaten ...«, Mannas’ Tonfall wurde eine Spur ironisch, »der bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts Ideen zu HAARP entwickelte und in die Tat umsetzen wollte. Dann haben die Amerikaner eine respektable Anlage für vorwiegend militärische Zwecke etwa ums Jahr zweitausend herum auf Alaska errichtet und diese auf höchste Leistung ausbauen wollen. Das Vorhaben wurde von Umweltfreaks zu Fall gebracht. Jetzt kommt das Come-back, und da möchten wir dabei sein. Mit mehr Einzelheiten über diese Sache solltest du dich nicht belasten.«

»Und was bedeutet das für uns?«

Mannas blickte etwas pikiert, als stehe seiner Mitarbeiterin eine solche Frage nicht zu. Es genügte wohl, dass er aus seiner Sicht das Projekt mehr als umfänglich erläutert hatte und es für wichtig hielt, sich damit zu befassen. Aber er bequemte sich in einem leicht unwilligen Tonfall zu einer Antwort: »Man soll damit die Erde durchleuchten können - nach Bodenschätzen oder Waffenlagern zum Beispiel ... vielleicht auch Erdbeben auslösen, beobachten, Flugkörper beeinflussen und - vielleicht - Leute manipulieren ... Es sollte bei den Amerikanern seinerzeit eine global wirkende Waffe werden. Ein Machtinstrument ist es allemal.«

»Verstehe«, sagte Cathleen Creff ungerührt.

»Em zwei wird sich als Physiker bewerben und als solcher eingestellt werden.«

»Sie werden streng prüfen.« Es schien, als hätte die Frau Vorbehalte gegen Mannas’ Plan.

»Oh, ganz bestimmt. - Aber, meine Liebe, wir haben Einfluss - maßgeblichen - auf das dortige Personalmanagement.«

»Em zwei ist kein Physiker!«

Jetzt lächelte Paolo Mannas überlegen. »Er wird einer sein, und zwar ein exzellenter. Mit besten Referenzen und Zeugnissen. Das ist deine dritte, wichtige Aufgabe.«

Mannas erhob sich, ging zu seinem Kommunater, entnahm ihm eine Flasche Cognac und zwei Gläser, schenkte ein und sagte: »Trinken wir darauf. Em zwei ist ein vigilanter Bursche, du sagst es selbst. Er wird nicht lange brauchen, sich dort einzufitzen. Die Ideenträger sind ohnehin andere. Sie brauchen verständiges Fußvolk.«

Mannas prostete Cathleen zu.

»Die vierte ...?«, fragte sie.

Mannas stutzte, dann lachte er kurz auf. »Ja, die vierte Aufgabe: Du wirst während der gesamten Aktion die Kontaktperson für Em zwei sein, natürlich bestens unterstützt durch unsere Agentur. Aber der Kontakt läuft über deinen Kopf, dein Organisationstalent, kurz deine Fähigkeiten für solche Aufgaben. Ich vertraue dir, und du wirst es schaffen. Darauf noch einen Schluck!«

»Verstehe. Ich denke aber, es wird schwierig werden.«

»Das denke ich auch. Das Objekt wird mit Sicherheit bewacht wie kaum ein zweites auf diesem Planeten. Denn so wie wir werden sich noch andere dafür interessieren. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Wir sind stark, erfahren und haben - dich!« Er lächelte hintergründig.

Cathleen nickte nachdrücklich und lächelte zurück. »Bis ich versage.«

Paolo Mannas blickte irritiert auf, seine Mitarbeiterin nahm es scheinbar nicht zur Kenntnis.

»Also keine Vorschusslorbeeren bitte«, setzte sie hinzu. »Ich werde mein Möglichstes tun.«

»In ein paar Stunden wird Em zwei eintreffen, empfange ihn gebührend.«

»Weiß er, dass es einen Em eins gibt?«

»Wie die meisten - natürlich nicht.«

»Verstehe.«

*

Milan Nowatschek erreichte die Nachricht, sofort die Zentrale aufzusuchen, unmittelbar nach einem erfolgreichen Abschluss mit einer Firma, die Fertighäuser nach Thailand verkaufte. Obwohl ihm natürlich bekannt war, dass seine Tätigkeit gegenwärtig lediglich zum Aushängeschild der Firma zählte, für die Buchhaltung und die Behörden bestimmt, freute er sich jedes Mal und war auch ein wenig stolz auf sich, wenn es ihm gelang, erfolgreich zu arbeiten. So auch jetzt. Er hatte gut abgeschlossen, im Augenblick nichts vor, und er sagte sich, weshalb nicht einmal ausspannen, eine Reise, andere Umgebung, andere Menschen ... Vielleicht ein Treffen mit Cathleen ... Bei diesem Gedanken lächelte Milan. >Ein schöner Abend war das. Ob sie sich ...? Es gibt keine Wiederholung, kein »Noch- Einmal« hat sie gesagt. Ich werde, muss mich daran halten - schade ...<

Was man von ihm in der Zentrale wollte, interessierte ihn zunächst nicht. Mannas würde es ihm schon sagen. Ein Schuldkonto gab es nicht, also konnte Schlimmes nicht bevorstehen. So war man im Team erzogen. Die Leistungssalärs stimmten, unnötiges Fragen und Schnüffeln galten als verpönt, auf illegales Tun war man bestens eingestimmt, das Risiko war jedermann bekannt, und bislang kam noch jeder mit einem blauen Auge davon, wenn eine Aktion einmal nicht gelang. Die Agentur hatte Freunde, und das gab Sicherheit.

Milan hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Taten, die gegen Gesetze liefen, nichts zu schaffen. In seiner Funktion würden sie dem Image der Firma schaden. Skrupel aber, anderes, Risikobehaftetes zu tun, hatte er nicht. Sozusagen als Kind des Unternehmens war man darauf vorbereitet. Wenngleich eine gewisse Nestwärme fehlte, wuchs man wie in einer Familie auf; es gab sie auch irgendwie: warmherzige Betreuung im unternehmenseigenen Waisenhaus, der Kindergarten mit wohl ausgebildeten Erziehern, die öffentlich anerkannte Privatschule - im Vergleich zu den staatlichen bestens personell und technisch bestückt. Die Lehre oder das Studium, betreut von der Firma: Selbstverständlichkeiten. Danach beim ersten Gespräch mit dem Chef dessen Credo: >In einer korrupten Welt nicht korrupt zu sein, ist eine Art Harakiri.< Und so wurde das Ignorieren der geltenden Regeln sukzessive in das Ausbildungsprogramm einbezogen, zu einem geistigen Sport, zum Gehirntraining.

Milan Nowatschek sah sich als Kind dieser beispiellosen Institution, empfand Dankbarkeit und fühlte sich geborgen in der Gemeinschaft. Und es gab für jedermann individuelle Freiräume. Psychologen sorgten dafür, dass niemand sich gegängelt fühlte, ja es kam sogar vor, dass der eine oder andere, aus welchen Gründen auch immer, die Gemeinschaft verließ, ohne dass ihm daraus ein Nachteil erwachsen wäre. Es sei denn, er verriete illegale Praktiken. Milan war ein solcher Fall bekannt. Der betreffende Plauderer hatte nicht lange überlebt, was allgemein als rechtens empfunden wurde.

*

Milan Nowatschek bestellte ein Aerotaxi, das in wenigen Minuten bereitstehen würde, verließ die unter Deckadresse angemieteten Räume der Agentur und fuhr im Lift zum Dachlandeplatz des großen Bürohauses. Wenige Minuten später startete er in Richtung Ortheim.

Überrascht war er schon ein wenig, als ihm mitgeteilt wurde, er möge sich sofort bei Cathleen Creff melden.

Die Creff galt im Allgemeinen als die rechte Hand des Chefs, und sie wurde mit dem gleichen Respekt behandelt wie er. Keinem war bekannt, wie sie in diese Stellung geraten war, aber ihr Image als äußerst harte, erfolgreiche Mitarbeiterin hatte sie sich selber erworben. Aktionen, die sie leitete, waren bislang stets gelungen, und diejenigen, die mitgewirkt hatten, waren der Hochachtung voll. Allerdings forderte sie höchste Disziplin und Leistung. Ihren leichten Gehfehler, so munkelte man, habe sie einer Schießerei mit einer konkurrierenden Gruppe zu verdanken. Dass sie das allerdings geringfügige Manko nicht korrigieren ließ, sprach für sie. Eitel war sie demnach nicht. Am Ort unterhielt sie eine kleine Wohnung. Private Kontakte mit den Kollegen mied sie absolut. An freien Tagen verschwand sie regelmäßig aus der Stadt. Spekulationen um ihre Person hatten sich längst gelegt.

>Also zur Creff!< Jetzt hatte sich Milans doch eine gewisse Spannung bemächtigt. Das erste Wiedersehen nach zwei Jahren ... Er suggerierte sich Ruhe, meldete sich an und betrat nach der Aufforderung den Arbeitsraum der Creff, der eher einem modernen Wohnzimmer glich. Nur die Flucht von vier Monitoren, dem Kommunater gegenüber angeordnet, verwischte diesen Eindruck.

Cathleen Creff ruhte entspannt in der Ecke des breiten Sofas, und sie richtete sich nur mäßig auf, als der Mann, M 2, eintrat. Sie grüßte ohne eine Regung des Wiedersehens: »Hallo, Milan«, wies auf den Sessel ihr gegenüber und lehnte sich wieder zurück. Ihr Kleid hatte sich nach oben verschoben, sodass unterhalb des linken Knies eine rosafarbene, breite Narbe sichtbar wurde.

»Kaffee?«, fragte sie geschäftig, und als er irritiert bejahte, setzte sie den Tischautomaten in Gang, der alsbald zu zischen begann.

»Du bist in der Agentur groß geworden?«, fragte sie routinehaft, obwohl ihr natürlich der unkomplizierte Lebensweg ihres Besuchers bekannt war.

»Ja, ja - seit ich mich erinnern kann.« Milan räusperte sich, lehnte sich zurück. >Okay<, dachte er, >dann eben so, wie sie es will, sie ist der Boss!< Aber er gestand sich ein, dass er sie nach wie vor außerordentlich anziehend und ihre scheinbare Entscheidung, vergessen zu haben, was war, sehr bedauerlich und enttäuschend fand.

»Verstehe - aber ab heute ist es anders. Ich übergebe dir hier diese Mappe.« Sie reichte ihm den Ordner, der neben ihr auf dem Sitzmöbel gelegen hatte, über den Tisch. »Darin findest du alles über deine neue Identität. Das lerne bitte gründlich und schnell in fünf Tagen! Dann bekomme ich die Unterlagen zurück. Du verstehst, dass wir das Lernergebnis vor dem - Ernstfall kontrollieren.«

Milan nickte. Bekanntes Schema, nichts, was einen auffegen konnte. Er schlug die Mappe auf, überflog die erste Seite, schlürfte an seinem Kaffee und fragte nach einer Weile: »Gibt es ihn wirklich, diesen anderen Milan?«

Natürlich wusste man, dass in der Agentur auch mit Klonen gearbeitet wurde - verbotenerweise. Aber wen störte das schon.

»Darüber bin ich nicht informiert«, log sie und blickte an ihm vorbei. »Aber es ist unerheblich. Sollte es ihn geben, wird er dir nicht in die Quere kommen. Du weißt, dass du auf uns bauen kannst.«

Einen Augenblick faszinierte Milan der Gedanke schon, dass es ihn ein zweites Mal geben könnte und dass der zweite Milan jener in der Mappe war, sein Zwillingsbruder sozusagen. Aber einen solchen möglicherweise zu haben, berührte ihn emotional nicht. Außerdem konnten die Daten von sonst wem stammen. »Und was ist das für ein Ernstfall?«, fragte er.

Statt einer Antwort schenkte Cathleen Kaffee nach und fragte wie beiläufig zurück: »Du warst, wie ich weiß, bislang kaufmännisch tätig. Wie sieht es mit deinen Kenntnissen in - Physik aus?«

»Oh«, Milan zeigte sich überrascht. »Physik war eines meiner Lieblingsfächer. Ich hätte es möglicherweise sogar studiert, wenn seinerzeit nicht gerade Mechatroniker ...«

»Schon gut, schon gut!«, unterbrach Cathleen. »Es wird dir also nicht besonders schwer fallen, einen durchschnittlichen Physiker abzugeben. Das wird dein Ernstfall, und zwar bald. Du siehst, es wird eine leichte Sache.«

»Na, na«, antwortete er, worauf die Frau die Stirn in Falten zog und er den Satz lediglich zu Ende dachte: >Ich habe schon von etlichen solchen so genannten leichten, von der Agentur gemanagten Sachen gehört, die Akteure in Gefahr gebracht, mächtigen Staub in der Öffentlichkeit aufgewirbelt und eine Menge Umsatz gebracht haben sollen.<

»Wenn ich HAARP sage, H-A-A-R-P«, buchstabierte sie, »fällt dir dazu etwas ein?«

Milan irritierte ihre Sprunghaftigkeit, stellte sich aber sogleich auf ihre Frage ein. »Haarp, Haarp«, wiederholte er nachdenklich. »Gehört habe ich das schon.«

»High Frequency Active Auroral Research Programm. Hochenergetische elektromagnetische Wellen werden in die Ionosphäre geschickt, regen diese gewaltig an, aktivieren dort eine Sekundärstrahlung, die zur Erde reflektiert wird und allerlei interessante Effekte auszulösen im Stande sein soll. Dämmert es? Du findest alles Theoretische darüber im Netz, die Adresse ist dort mit drin.« Sie deutete auf die Mappe. »Ich rate dir, dich intensiv damit zu befassen. So, nun erzähle mir etwas aus deinem Privatleben.«

Wieder ein Sprung. »Was willst du wissen, viel Interessantes gibt es nicht.«

»Dann erzähle eben vom Uninteressanten. Wir werden in Zukunft viel Kontakt miteinander haben, und da ist es gut, wenn man vom anderen etwas weiß, also.«

»Ist das zweiseitig?«

Zum ersten Mal in diesem Gespräch lächelte Cathleen Creff, was ihrem Gesicht Strenge nahm. »Werd nicht anzüglich«, entgegnete sie unernst tadelnd. »Das gilt insofern«, setzte sie hinzu, »als ich in diesem Fall die Agentur bin. Und die solltest du wohl zur Genüge kennen.«

»Mir wäre es lieber, du fragst.«

»Verstehe - also: Bist du irgendwann eine E-O-P, eine Eingetragene Offizielle Partnerschaft, eingegangen?«

»Nein.«

»Aber liiert bist du?«

»Gegenwärtig nicht.«

»Na, na - eine Intimpartnerin?«

»Gegenwärtig auch nicht.« Milan wurden die Fragen ein wenig peinlich. »Schau mich an, bin ich ein Adonis?«

»Darauf kommt es nicht immer an. Schwul bist du nicht!« Das klang bestimmt, als sei es gefestigtes Wissen.

»Nein.« Und um ein Haar hätte er hinzugefügt: >Wie du weißt ...<

»Bist du jemandem verpflichtet, aus früheren Beziehungen zum Beispiel?«

»Auch nicht, weiß Gott!«