Impressum

Alexander Kröger

Energie für Centaur

3. Teil der Centauren-Trilogie

 

ISBN 978-3-95655-668-5 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1983 im Verlag Neues Leben Berlin. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2009 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle erschien.

 

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Prolog

Es wollte gar nicht richtig Sommer werden in diesem Jahr. Kaum dass die Sonne einige Stunden warm auf die Beete schien, Bienen und Schmetterlinge eilig ihre Mahlzeiten einnahmen, schoben sich weiße und graue Wolkenknäuel über den Himmel. Und allzu oft brachen aus ihnen heftige Schauer hervor, die Wind und Kühle im Gefolge hatten.

Jercy Kamienczyk ließ sich auf eine Bank fallen, die gerade durch ein Wolkenloch von der Sonne beschienen wurde und auf der die Strahlen Tropfen des letzten Regens hinweg trockneten. Schwirrend stoben zwei aufgeschreckte Spatzen in einen Haselnussstrauch, gestört beim Zank um ein Waffelstück. Als sich Jercy jedoch kaum mehr regte, schossen sie wieder herbei, äugten noch ein-, zweimal misstrauisch und setzten dann unbekümmert ihren Streit fort.

Jercy sah den Vögeln zu. Er fühlte sich rundherum wohl, schlechtes Wetter hatte ihn seit jeher nicht beeinflusst. Und außerdem sollte dies ein froher Tag werden.

Jercy war zu früh gekommen. Er wartete auf die planmäßige Maschine aus Prag, die Josephin bringen würde. Er freute sich auf diesen Besuch, auf das Mädchen, das wie eine Tochter zu ihnen, zu ihm und Nora, gehörte. Josephin würde den Alltag sprengen, den Lebensrhythmus für acht Wochen gründlich ändern, durcheinanderbringen, würde auf ihre Art von der Arbeit berichten, von unzähligen Menschen, die man nicht kannte und von denen man nie gehört hatte, sie mit unnachahmlicher Selbstsicherheit katalogisieren als Stiesel oder Pinkel, Genie oder Wachtel. Hakte man nach, lachte sie, sagte »na ja ...«, und sie schilderte, wie sie die Leute wirklich empfand. Und meist führten deren kleine Schwächen zu den wenig schmeichelhaften Bezeichnungen, die durchaus nicht ernst gemeint waren.

Jercy hatte das Gefühl, als erlebe er in dem, was Josephin tat, wie sie an ihre Arbeit heranging; vorwärtsstrebend, ungeduldig, alles verdammend, was echt oder auch nur vermeintlich hemmte, noch einmal jene Jahre, in denen er begonnen hatte, genauso voller Elan und kreativer Unzufriedenheit. Mögen ihr einige von meinen Erfahrungen erspart bleiben. Jercy seufzte ein wenig, die Spatzen blickten erschrocken, flogen aber nicht auf.

Dann lächelte er. Seine Gedanken veranlassten ihn, wie oft, in sich hineinzufragen: Und er antwortete sich, dass er sich so wohl wie in den letzten Jahren noch nie gefühlt hatte, dass er - und er glaubte so ehrlich zu empfinden - zufrieden und mit sich und der Welt im Reinen war. Er hatte eine Arbeit, die zum größten Teil interessant war und ihm Freude machte, und er hatte eine Gefährtin, die in den ersten Jahren der Gemeinsamkeit zwar unzufrieden drängend auf ihn einwirkte, seine Ziele doch ehrgeiziger zu verfolgen und nach hoher gesellschaftlicher Anerkennung zu streben, die aber eigene Erfahrungen zu Einsichten brachten, dass es nicht weniger klug sei, beizeiten seine Grenze zu sehen und sich einzuordnen in das Ganze. Und so wurde das Zusammensein harmonischer. Indem man nach außen zurücksteckte, konnte man sich mehr sich selber und dem Nächsten widmen. Aber Jercy Kamienczyk hatte sich stets gehütet, Josephin mit dieser seiner Philosophie zu beeinflussen. Junge Leute müssen zu ihren eigenen Sichten und Einstellungen finden - und sei es über schmerzliche Erfahrungen: Und Josephin, dessen war Jercy sich gewiss, war nicht überempfindlich. Sie konnte manches vertragen und auch gut überwinden.

Die Sonne strahlte jetzt aus einem größeren Stück blauen Himmels. Wolkenhaufen lugten nur noch über die Wipfel der Parkbäume. Vom nahe gelegenen Empfangsgebäude drang unverständlich eine Lautsprecheransage herüber. Der kessere von den beiden Spatzen beendete den Zank, indem er die Waffel im Schnabel davontrug. Jercy stand auf, reckte sich und schlenderte den Weg entlang, auf das Gebäude zu. Er pfiff leise den Erfolgshit »Marsmariann«, versetzte einem Stein einen Tritt, dass er in den Rasen sprang, betrat wenig später die kleine Halle, durchschritt sie, passierte gegenüber dem Eingang die große Flügeltür und stand auf der Landefläche, gewiss, dass die Ansage nur der Maschine aus Prag gegolten haben konnte, da um diese Zeit hier keine andere angekündigt war.

Nur wenige Menschen warteten. Einige saßen im Gangwaybus, zwei, drei nur standen wie er auf dem Platz.

Erst als das Flugzeug unmittelbar über dem Landekreis stand, nahm Jercy es wahr, weil es über das Dach einflog. Nur das Rauschen des Ringflügels ließ sich vernehmen, die Triebwerke waren längst abgestellt.

Jercy hatte Herzklopfen. Vor einen Jahr hatten sie sich zum letzten Mal getroffen. Er sah in Gedanken Josephin mit ausgebreiteten Armen auf sich zustürzen. Und einen Augenblick fühlte er sich angerührt von einem Gefühl des Gebrauchtwerdens, von Glück.

Als die Gangway hielt, war Jercy auf eine stürmische Begrüßung eingestellt. Und als Josephin in der automatisch öffnenden Tür stand, hatte er den Drang, die Arme auszubreiten. Dann wusste er nicht, ob er es nur gewollt oder tatsächlich ausgeführt hatte. Unmittelbar hinter Josephin trat ein junger Mann auf den Platz. Und langsam kamen beide - Josephin unsicher lächelnd - auf Jercy zu.

Jercy hatte seine Überraschung verwunden und eilte den jungen Leuten entgegen, umarmte Josephin, sie löste sich aber schnell und sagte: »Das ist Gernot, Vater. Ein ...«, sie zögerte, »guter Freund.«

»Aha«, erwiderte Jercy nun voll gefasst, und er musterte den Mann. Der war nur um ein Weniges größer als Josephin, die Figur mittelkräftig, ein eher mageres Gesicht, an dem eigentlich nur die Augen auffielen, die jetzt höchst aufmerksam auf Jercy gerichtet waren, blaugraue Augen unter buschigen Brauen, die im merkwürdigen Gegensatz zu den schütteren, blonden Haaren standen, Haare, die nur mühsam den Vorschriften der modernen Halbstoppelfrisur folgen konnten.

»Gernot Wach«, sagte er mit einer angenehmen Stimme und hielt Jercy die Hand entgegen. »Ich freue mich, Jercy Kamienczyk kennenzulernen.« Den Namen sprach er mit einem eigenartigen Nachdruck aus.

»Hm«, brummte Jercy. Er sah Josephin vielsagend an, wiegte mit gerunzelter Stirn den Kopf, lächelte.

»Er wird dir gefallen, Vater!«, sagte Josephin und hakte Jercy unter. Und er hatte das Gefühl, als sei sie gerade in diesem Augenblick erst angekommen, als sei sie nun wieder die alte Josephin. Sogleich auch sprudelte sie los: »Denk dir, die Gipsköpfe wollten allein wegen uns beiden hier zunächst gar nicht landen. Wir sollten von Poprad aus mit dem Zug fahren. Aber da hat es Gernot ihnen gegeben.«

Gernot sah im Augenblick aus, als könne er es nie und nirgends irgend jemandem geben.

Jercy fühlte, dass sie würden umdenken müssen, er und Nora, dass dieser Gernot mehr war als ein guter Freund. Und ein kleiner Schmerz durchlief Jercy. Wie oft würde er noch die Freude auf ein Wiedersehen mit Josephin so empfinden wie heute?

In diese Gedanken hinein sagte Gernot: »Ich habe von dir gehört, Jercy Kamienczyk.«

»So«, antwortete Jercy belustigt. »Was wird dir Jo von mir schon erzählt haben!«

»Nicht nur von Josephin. Ich bin Energetiker.«

»So«, sagte Jercy abermals und zog die Augenbrauen empor, »Energetiker bist du.« Er strich sich nachdenklich über die kahle Stelle des Kopfes und fragte: »Und was hast du da so gehört?«

Mittlerweile waren sie an Jercys Taxi angekommen: Beim Einsteigen antwortete Gernot: »Ich habe die Ankündigung zu deinem Kosmogenerator gelesen.« Er sah nicht, wie sich Jercys Gesicht einen Augenblick verhärtete.

»So, hast du«, sagte Jercy. Vom Steuer aus drehte er sich um und fügte hinzu: »Lassen wir die Toten ruh’n.«

Gernot hatte eine Erwiderung auf den Lippen, hielt sie aber, als er Jercys abweisenden Gesichtsausdruck sah, zurück. Er zuckte lediglich mit den Schultern, sagte dann: »Die Vorlage hätte ich schon gern einmal gelesen ...«

»Ich bin neugierig, was Nora sagen wird.« Josephin hatte die Hand auf Gernots Arm gelegt und sah ihn bittend an.

»In einer Stunde wissen wir‘s«, sagte Jercy und ließ den Wagen anfahren.

 

»Und - was sagt die Mutter?«, fragte Gernot.

Josephin lächelte. Sie war, aus dem Haus kommend, hinter ihn getreten und hatte sein Gesicht mit beiden Händen umfasst. »Genehmigt«, sagte sie. »Überrascht sind sie natürlich.«

»Vielleicht wäre es doch besser gewesen, mich anzukündigen«, bemerkte er.

»Ach!« Josephin winkte ab. »Sie sind von mir allerlei gewöhnt.«

Er fasste ihre Hand, drehte sich um. »Was meinst du, wird er mir die Vorlage geben?«

Josephin kam um den Sessel herum, setzte sich auf die Armlehne. »Lass’ ihm Zeit. Ich wusste auch nicht, dass das bei ihm ein so wunder Punkt ist. Ich krieg ihn schon rum.«

»Ich möchte ihn nicht verärgern. Es ist schon genug, dass ich überhaupt da bin.« Er lächelte.

»Wenn dir daran so viel liegt, mache ich das schon. Vielleicht hilft mir Nora.«

»Heimlich aber nicht. Es wäre schön, mit ihm darüber sprechen zu können«

Sie seufzte. »Eigentlich wollten wir Urlaub machen.«

Gernot strich ihr über den Arm. »So schlimm wird es schon nicht. Ich finde einfach den Gedanken genial. Auf so etwas muss eben einer kommen. Stell dir vor, die ganze Erde als Generator ...«

»Ja, ja - ist gut, ist gut!« Josephin fuhr ihm über die Haare. »Du weißt, das Projekt ist abgelehnt.«

»Dadurch wird es nicht schlechter.«

»Als undurchführbar!«

»Trotzdem!«

»Du kannst daran nichts ändern.«

»Will ich auch nicht. Ich möchte nur wissen, was undurchführbar war.«

»Außerdem brauchen wir einen solchen Generator nicht. Wir haben genug Energie.«

Gernot wollte erneut erwidern. Als Nora auf die Terrasse trat, rutschte Josephin von der Sessellehne.

Nora, eine Vierzigerin, wirkte wesentlich jünger. Sie war groß, nicht übermäßig schlank. Das nachgeblondete Haar trug sie halslang, die Spitzen nach innen. Und der Fülle dieses Kopfschmuckes bewusst, pflegte sie ab und an den Kopf zu werfen, als wollte sie Störendes dem Gesicht fernhalten. Dann schwang das Haar wie schwerer Samt. Während breiter Augenabstand und angedeutete Grübchen in den Wangen dem Gesicht etwas Fröhliches gaben, wiesen merklich hervorstehende Jochbeine und ein schmaler Mund auf Strenge und Energie. »Meinst du, Gernot, dass sich für die Sache noch jemand ernstlich interessieren könnte?« Mit ihrer Frage gab sie kund, dass sie einen Teil des Gesprächs gehört hatte.

»N-nein.« Gernot zögerte. »Zumindest jetzt nicht. Wenn sich das Projekt verwirklichen ließe, in hundert Jahren vielleicht.«

»Es lässt sich verwirklichen!« Sie sagte es mit Überzeugung. »Einen Spinner hätte ich mir nicht zum Gefährten gewählt.« Man wusste nicht, wie ernst sie das meinte. »Ich verstehe davon nicht viel, ich arbeite im Tiergarten, aber das weißt du sicher.«

Und in diesem Augenblick spürte Gernot die Spannung. Irgendwo, aber im Zusammenhang mit dem Generator lag sie zwischen Josephins Eltern. Erst Jercys abweisende Reaktion vor dem Flughafen, jetzt Noras Bemerkung - und wenn sie gleich spaßig gemeint war. Gleichzeitig aber bewunderte Gernot diese Frau, die, weil mit dem Gefährten verbunden, an eine Sache glaubte, die man allgemein verworfen hatte. Blinde Liebe nach so vielen Jahren konnte man Nora sicher nicht unterstellen.

»Gehst du mir ein wenig zur Hand, Fini?«, fragte Nora. »Gernot mag die Sonne genießen, er ist ohnehin blass.«

Die beiden Frauen gingen ins Haus, Gernot schlenderte in den Garten. Als er um die Gebäudeecke bog, sah er Jercy wirtschaften, halb von Büschen verdeckt. Im Näherkommen bemerkte Gernot, dass er mit einem Spaten die Erde umbrach.

Jercy hatte ein gerötetes Gesicht, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und der Atem ging stoßweise. Gernot sah unter seinem Hemd die Muskeln spielen. Dann blickte er über den Garten. Viel verstand er von Pflanzenzucht nicht, aber ihm schien, dass hier alles prächtig gedieh und in bester Pflege stand.

Jercy Kamienczyk, der Physiker, rechte Hand des Technischen Leiters im Solarzellenbetrieb, ein Mann, der geniale Gedanken hat - oder hatte? Einer, von dem die Fachwelt sprach, um sein Projekt stritt, obwohl es im Detail kaum jemand kannte. Ein Mann, um den es schnell wieder ruhig wurde. Und Kamienczyk, ein Kämpfer? Oh, er legte sich ins Zeug mit seinen Erdschollen! Jercy zerhackte mit dem Spaten eine Wurzel mit wohlgezielten, kraftvollen Schlägen. Und Gernot stellte sich die Frage, ob dieser Mann wohl in seinem Tagewerk Befriedigung fand. Freilich, er ist an der Weiterentwicklung der Solarzellen beteiligt. Routine. Und hier? Wieder ruhte Gernots Blick auf Jercy. Dieser sah unter seinem Arm hindurch zurück, lächelte, wischte mit dem linken Arm den Schweiß von der Stirn, grub nicht etwa verbissen, sondern wie einer, dem es Spaß bereitet. Er macht ganz und gar einen jugendlichen Eindruck, dachte Gernot. Wäre da nicht die gelichtete Stelle im Haar, man würde ihn nicht auf Vierzig schätzen. Das glattrasierte, runde Gesicht wirkte gutmütig und, unterstrichen durch buschige, graumelierte Brauen und Schläfen, weise. Die Fältchen um Augen und Mund gaben dem Gesicht einen schalkhaften Ausdruck.

»Hast du noch einen Spaten?«, fragte Gernot.

Jercy unterbrach seine Arbeit, sah ein wenig erstaunt empor, musterte erneut den Frager von oben bis unten, gab unernst zurück: »Weißt du überhaupt, was das ist? - Dort, in der Laube.«

Gernot holte das Gerät, begann einige Meter neben Jercy zu graben. Eine Weile sah dieser ihm zu.

Obwohl es Gernot nicht leicht fiel und er bald seine Jacke an einen Ast hängte, stellte er sich nicht ungeschickt an. Bald spürte er die Kraftanstrengung in der Bauchdecke und dass ein Muskelkater kommen würde.

Dann gruben sie eine halbe Stunde schweigsam nebeneinander, Gernot sehr bemüht, den Anschluss an Jercys Stück nicht zu verlieren.

Von der Terrasse rief Josephin zum Abendessen. Die beiden richteten sich auf. Auch im Kreuz spürte Gernot ein Ziehen. Sie sahen sich lächelnd an, wischten sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich gebe dir nachher den Kram«, sagte Jercy.

 

Der Oktober begann mit sonnigwarmen, ruhigen Tagen.

Jercy und Nora hatten Urlaub genommen, wenige Tage in der Hohen Tatra verbracht, einige auf der Halbinsel Hela. An einem Sonntagabend kehrten sie in ihr Heim zurück, mit guten Urlaubserinnerungen, aber auch froh, wieder zu Hause zu sein. Da sie den nächsten Tag noch dienstfrei hatten, beschlossen sie, die Reiseutensilien erst später zu ordnen und sich noch einen schönen Abend zu gönnen.

Während Nora duschte, fragte Jercy ohne gesteigertes Interesse den Postspeicher ab. Er erwartete nichts Besonderes, zumal sie sich dort, wo sie gesellschaftlich verpflichtet waren, abgemeldet hatten. Da war ein Gruß von Josephin. Jercy las belustigt, dass irgend so ein ahnungsloser Chef an ihren Entwürfen zur Gestaltung der Außenanlagen des Reaktors herumzumäkeln hätte. Eine Nachricht von Gernot. Er befinde sich wegen besonderer Metalllegierungen in Stockholm. Einladungen liefen über den Bildschirm. Dazwischen war eine kurze Nachricht, auf die Jercy, nun doch die Abspannung durch die Reise spürend, aufmerksam wurde, als er bereits las, dass die Wissenschaftliche Gesellschaft Elektroenergie am elften Dezember ihre Jahrestagung abzuhalten gedachte und seine Teilnahme erwarte.

Jercy stoppte den automatischen Vorlauf, drückte die Rücktaste, erwischte die gesuchte Nachricht nicht gleich, sondern las noch einmal, nun bereits aufmerksamer, die vorhergehende, die ihm kundtat, dass sein bestellter argentinischer Rotwein abrufbereit lagere. Und dann stand da:

 

JERCY KAMIENCZYK, ICH BITTE DICH AM 14. OKTOBER GEGEN 16 UHR ZU EINER KURZEN UNTEREDUNG AUFSUCHEN ZU DÜRFEN. BIST DU VERHINDERT, NENNE BITTE EINEN TERMIN. BOTSCHAFT DES CENTAUR

MEN

PERSÖNLICHER REFERENT DES BOTSCHAFTERS.

 

Jercy begriff nicht. Er las ein zweites Mal, sah auf die Datumsanzeige: Der Vierzehnte war morgen. Dann lachte er. Irgend jemand hatte sich einen Scherz erlaubt! Das war es! Jercy atmete erleichtert auf. Dann erst gewahrte er das Sternchen in der linken oberen Bildecke. Es war eine postalisch registrierte Nachricht: Er sprang auf, lief ins Bad. Nora stand unter der Heißluftdusche, rekelte sich wohlig. Ihre Haare flauschten im Wind. Ihr Körper strahlte nach dem Bad Frische aus. Eine Sekunde lang dachte Jercy an den Abend, dann rief er in das Summen der Dusche hinein: »Nora, komm mal mit.«

»Ich bin gleich fertig!«

»Sofort«, sagte er bestimmt, aber nicht barsch, fasste ihre Hand und zog sie mit. »Lies mal!«, forderte er sie auf, als sie vor dem Postspeicher angekommen waren.

Jercy hatte sich wieder in den Sessel fallen lassen, wies mit langgestrecktem Arm auf den Schirm, verharrte in dieser Pose. Nora las mit gerunzelter Stirn, glitt dabei neben ihm auf den Sessel. »Das ist seltsam«, sagte sie.

»Weißt du damit etwas anzufangen?«, fragte er überflüssigerweise.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haare streiften sein Gesicht. Dann begannen sie beide zu spekulieren.

»Die machen eine Umfrage«, sagte Nora, »das ist modern. Vielleicht hängt es mit Josephin zusammen, dass sie bei ihnen arbeiten soll?«

»Und warum sollten sie sie da nicht selber fragen?«

Nach einer Weile wurde Jercy des Rätselns müde. Er hatte den Kopf an Noras Schulter gelehnt, atmete den Duft ihres Körpers. »Wir werden es sehen«, sagte er, »der Vierzehnte ist ja morgen.« Bevor er den Arm um seine Gefährtin legte, drückte er den Ausschalter des Postspeichers.

 

Nora war es, die ihre Aufregung eingestand. Sie saßen auf der Terrasse und warteten, dass es 16 Uhr wurde. »Ich habe Herzklopfen«, sagte sie.

»Etwas Schlimmes kann es ja wohl nicht sein.« Zum wiederholten Male sprach er die Floskel. Er strich mit der rechten Hand über die Hose. Dann nickte er Nora verstehend zu. »Mir gehts wie vor einer wichtigen Prüfung.«

Sie lachten.

»Quatsch!«, rief Jercy. Er goss sich und Nora einen Kognak ein. Als er ihr zuprostete, zog ein Schatten über die Terrasse. Sekunden später stand unmittelbar vor ihren Füßen, so als sei er ein exotisches Gestaltungselement moderner Gartenbaukunst, zwischen den Ziersträuchern, aber ohne auch nur einen Zweig zu streifen, ein kleiner Fluggleiter, wie sie aus Publikationen allgemein bekannt waren: ein »Rochen« der Centauren. Nora und Jercy waren aufgestanden. Die wenigen Stufen hinab auf das Flugzeug zuzugehen, schafften sie nicht. Dessen Schlag sprang auf, und mit einer schwerfälligen Leichtigkeit, als rannte einer mit einem Sack auf dem Rücken, kam der Außerirdische auf sie zu - eine Höflichkeitsgeste, die ihn viel Kraft kosten mochte.

»Men«, sagte das kleine Kästchen auf seiner Brust. Er neigte den Kopf.

»Aber bitte«, beeilte sich Jercy zu sagen und bedeutete dem Gast, die Terrasse zu betreten. Er selbst ging nun doch die Stufen hinunter.

Men maß höchstens einen Meter und 30 Zentimeter. Die Last der größeren Schwere war dem Fremden anzumerken. Er stützte sich mit den Armen ab, als er sich in den Sessel gleiten ließ.

Es war das erste Mal, dass Nora und Jercy einen der Außerirdischen aus nächster Nähe zu Gesicht bekamen. Sie waren beide bestrebt, nicht aufdringlich zu blicken. Aber offenbar war Men diese Situation nicht neu. Die ersten Minuten bemühte er sich, seine Gegenüber nicht unmittelbar anzusehen. Er blickte in die Weite, als er sprach, gab ihnen so Gelegenheit, ihn zu betrachten.

Das Faszinierende der Centauren waren ihre Augen, und das wusste Men natürlich.

Der Tisch war noch gedeckt. Nora fragte unsicher, ob sie ihm etwas anbieten dürfe.

»Ja, bitte, ein wenig Kaffee«, antwortete Men ohne die geringste Regung im Gesicht, nur die Augen strahlten, als lächelten sie. Dann sah er über die Sträucher hinweg und setzte fort: »Wisst ihr, bei uns, den Centauren, sagt man in der Konversation stets sofort, was man meint und will. Gestattet, dass ich dieses Prinzip anwende. Jercy Kamienczyk, du hast vor sieben Jahren ein Projekt vorgeschlagen, das der Energieerzeugung im größten Maßstab dient, dienen würde, das selbst zwar hohe Investitionen und neue Technologien erfordert, aber gemessen an anderen Energieerzeugern verschwindend geringe Betriebskosten verursacht und kaum Wartung benötigt. Umweltfreundlich ist es außerdem. Gut, gut ...« Er wehrte mit nur leicht erhobener Hand Jercys Absicht, ihn zu unterbrechen, ab. »Das ist auch schon alles oder fast alles, was wir davon wissen, und außerdem bin ich natürlich kein Fachmann. Ich bin gekommen, dich zu bitten, die Anwendbarkeit deiner Idee auf Centaur durch uns prüfen zu lassen. Bist du einverstanden? Oder unter welcher Bedingung wärst du es?« Der Gast lehnte sich zurück, sah Jercy eine Sekunde lang an, blickte auf Nora, dann wieder in den Garten.

Jercy fühlte sich aufs Äußerste überrascht und erregt. Er suchte Noras Blick. Sie starrte auf den Tisch und rührte gedankenvoll in ihrer Tasse. Widerstreitendes ging Jercy durch den Kopf, Unwichtiges und Wesentliches. Er fühlte sich außerstande zu entscheiden. Wer war dieser Men, was kannten die Centauren überhaupt von dem Objekt? Vier Exemplare der ausführlichen Vorlage existierten nur, zwei davon lagerten in seinem Arbeitstisch, zwei im Archiv der Akademie, zu dem der Zugang nur über Sondervollmacht erfolgte. Jercy fühlte sich unsicher. Warum, zum Teufel, kam eigentlich dieser Men und eben nicht jemand von der Akademie, ein Beauftragter Professor Garmas?

Als hätte Men Jercys Gedanken erraten, sagte er: »Ich bin hier, um deine prinzipielle Meinung zu hören. Natürlich müssten die weiteren Schritte offiziell getan werden. Aber ihr versteht: Bist du strikt dagegen, können wir das alles vergessen, nichts ist eingeleitet. Aber es wäre sehr schade.«

Jercy räusperte sich. »Du weißt, dass die Arbeit von der Akademie abgelehnt wurde? Wegen Undurchführbarkeit«, sagte Jercy mit Nachdruck.

Wieder strahlten die Augen des Gegenübers. »Du siehst, es schreckt uns nicht. Wären wir von dem Urteil überzeugt, wäre ich nicht hier: Versteh mich nicht falsch, nicht etwa eine Kritik am Senat, die stünde mir nicht zu.« Seine Augen strahlten stärker. »Aber es ist Jahre her, man hat Erkenntnisse gewonnen, unser Planet hat ein dreimal so starkes Magnetfeld wie die Erde, also.« Er hob die Schultern ein wenig und drehte die Handflächen nach oben. Und obwohl der Automat auf seiner Brust leidenschaftslos übersetzte, war es Jercy, als klängen die Worte ironisch.

Jercy lächelte. »Ich sehe das weniger optimistisch.«

»Heißt das, dass du selbst an deine Arbeit nicht mehr glaubst?«

Noch bevor Jercy antworten konnte, sagte Nora mit Schärfe in der Stimme: »Das heißt es ganz und gar nicht!« Ein leises Staunen stand in den Augen des Fremden.

Jercy legte ihr die Hand auf den Arm. »Man müsste ein wenig verändern, Neues berücksichtigen ...« Dann winkte er ab. »Ich glaube aber trotzdem nicht, dass irgend jemand Interesse hat, dass der Generator irgendwo gebaut wird.« Er betonte zweimal das »irgend«.

Wieder lächelten die Augen des Fremden. »Das ist eine andere Sache«, sagte er. »Es geht um deinen Standpunkt, um dein Interesse.«

Am liebsten hätte Jercy dem Fremdling gesagt, er sollte sich zum Teufel scheren. Da hat man nun geglaubt, endlich Ruhe für sich gefunden zu haben, und nun kommt so ein Mensch, so ein Nichtmensch daher und zerbricht die Kruste. Soll ich ihm, dem Außerirdischen, sagen, was wirklich war damals? Wie sie mich ausgetrickst haben, besonders Garma? Ei freilich, verständlich ist es, sitzt man wacklig in einem so hohen Senat, dass man potenzielle Nachfolger nicht selbst noch züchtet. Vielleicht gar noch mit einem Projekt, das weltweit von sich reden macht. Jercy atmete tief. Und jetzt, ich könnte es ihm heimzahlen! - Aber das wird doch nichts! Er sah auf Men, der im Sessel lag, als trüge er einen Sandsack auf den Schulten. Der richtet doch gegen Garma nichts aus, auch als Außerirdischer nicht. Jercy schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Meinung«, sagte er dann.

Der Fremde richtete seinen Blick von Jercy auf Nora. Ungewöhnliche Aufmerksamkeit lag darin. Nora selbst saß mit geröteten Wangen, nervös biss sie sich auf die Lippen.

»Sage bitte jetzt nichts.« Men legte Jercy die Hand auf den Arm. »Wenn ihr gestattet, komme ich in einer Stunde noch einmal, auf einen Sprung, wie die Menschen sagen. Ich habe aus Versehen einen wichtigen Code eingesteckt, der heute noch gebraucht wird.« Während dieser Worte war er bereits aufgestanden und schwerfällig die Treppe hinabgestiegen. Noch bevor die beiden Menschen etwas erwidern konnten, hatte er sich in den Sitz des Rochens plumpsen lassen, war gestartet und mit einem Rauschen über das Dach hinweggesegelt.

Jercy war halb aufgestanden. In dieser Pose verharrend, schaute er dem Flugzeug hinterher. Dann ging sein Blick zu der Gefährtin. Nora sah ihn mit zusammengekniffenem Mund an.

Jercy ließ sich in den Sessel zurückfallen und schloss die Augen. Er wusste, was jetzt kam. Oh, er hatte es früher bewundert an Nora. Zielstrebig und hartnäckig pflegte sie ihre Ziele zu verfolgen. Einen Augenblick erinnerte er sich: Sie kannten sich lange, noch aus der Schulzeit. Für Jercy war der Weg klar: Angewandte Physik wollte er studieren. Nora gab ihrem Vater, dem ehemaligen Gefährten ihrer Mutter, nach, zu ihm in die Staaten zu kommen, er versprach ihr beste Ausbildungsmöglichkeiten. Nun, die fand sie vor, aber sie wuchs dort in Land und Leute nicht hinein, fand wenig Kontakt, und so blieb ihr eigentlicher Halt Jercy, der Schulfreund. Sie beschlossen eine Gefährtenschaft. Nach ihrer Ausbildung kam Nora nach Europa zurück. Doch, es waren schöne Jahre! Seine beruflichen Chancen standen gut. Sie einigten sich, dass sie sich ihm anpasste ... Ihr eigener Ehrgeiz verwandelte sich in eine Fackel, den seinen zu entzünden. Und immer blies sie kräftig nach, damit das Feuer brannte. Doch, es ging ganz gut so. Es wäre falsch, dachte Jercy, das anders zu sehen: Und dann der Tiefschlag mit dem Projekt, sein Einschwenken in beruflich Stagnierendes, das Prägen seines Hobbys, Biografien berühmter Physiker romanhaft nachzuzeichnen, bis ins Perfekte. Vor allem aber das verflachte Interesse der Fachwelt und auch der gesellschaftlichen Umgebung an einem still gewordenen Mann verkraftete sie nicht. Mehr und mehr gaukelte sie sich eine bessere Scheinwelt vor, die sie, wäre sie in den Staaten geblieben und ihren eigenen Weg gegangen, sich hätte aufbauen können. Und mehr und mehr, in den letzten Monaten häufiger, erinnerte sie sich an diesen Fakt und brachte in Varianten das Thema in den Dialog ein.

»Du bist ein Idiot«, sagte Nora, »ein Trottel, Jercy!« Sie sagte das in aller Ruhe wie beiläufig.

»Ja, ich weiß«, erwiderte er, ohne sie dabei anzusehen. Und er winkte müde ab.

»Merkst du nicht, dass das deine Chance ist?«

»Lass mich in Frieden, Nora!« Seine Worte waren nicht ohne Schärfe. »Ich glaub’ schon, dass ich weiß, was ich mache.« Jetzt sah er sie an. »Es ist meine Angelegenheit!«

»Es ist nicht deine Angelegenheit ...«

»Nun ist’s gut, Nora«, unterbrach Jercy. Er stand auf und ging zum Garten. An den Hecken drehte er sich um und sagte laut zu seiner verdutzten Gefährtin hin: »Ich spreche nachher allein mit ihm. Bitte respektier das!«

Er drehte sich um und ging, sah nicht mehr das Erstaunen und die Empörung, die Noras Gesicht entstellten, gewahrte nicht, wie sie in einem ohnmächtigen Zorn die Hände vors Gesicht schlug und in ein krampfiges Schluchzen ausbrach.

Als pünktlich nach einer Stunde der Rochen abermals landete, passte Jercy es so ab, dass er sich in der Nähe des Platzes befand. Men konnte so sitzen bleiben, Jercy mit ihm durch den geöffneten Schlag sprechen.

Men vermisste Nora, die sich im Haus aufhielt, offenbar nicht. Er fragte nicht nach ihr, ließ lediglich einmal aufmerksam den Blick über Garten und Terrasse gleiten. Er redete auch nicht, als er die Tür von innen geöffnet hatte, sondern sah Jercy erwartungsvoll an.

Jercy sprach sehr bestimmt, gesammelt und in einem Ton, der Widerspruch ausschloss: »Ich wäre bereit, mitzuarbeiten und das, was ich aufgeschrieben und - eventuell noch ...« - er tippte sich an den Kopf - »hier habe, beizusteuern. Aber versteh mich nicht falsch, ich möchte dazu den Auftrag meiner Verwaltung haben und fordere, dass als Grundlage die beiden archivierten Exemplare der Vorlage - sie sind in der Akademie - verwendet werden. Eine saubere Regelung mit meinem Betrieb muss außerdem erfolgen.«

Men legte seine Hand auf Jercys Arm. »Mehr wollte ich nicht, Jercy Kamienczyk. Ich danke dir!«

»Versprecht euch nicht zuviel davon«, warnte Jercy und hob die Hand zum Gruß.

Der Fremde lächelte mit den Augen und schüttelte nach Art der Menschen den Kopf. Dann zog er den Schlag zu und startete behutsam, sodass Jercy nicht einmal einen Luftzug spürte.

 

Das gedämpfte Tosen war verstummt. Und obwohl in den letzten Tagen von nichts anderem als von eben dieser Landung gesprochen wurde, regte sich nun niemand. Jeder verharrte an seinem Platz, als müsse er mit sich selbst einen letzten Rat abhalten, alles noch mal überdenken, das auffrischen, was in den sechs Flugjahren während des >Winterschlafs< im Gedächtnis an Prägung verloren hatte. Und in irgendeiner Weise teilte sich dieser Zustand jedem mit, übertönte die Erregung, das Warten auf das Neue.

Dann klang Mens Stimme über den Funk: »Wir sind da, Freunde.«

Aber erst als die üblichen Landekommandos durch das Schiff liefen, löste sich die Verkrampfung. Scherzworte kamen auf, Freude. Nur hier und da konnte der Eindruck entstehen, als spräche man sich gegenseitig Mut zu. Das Deprimierende der langen Reise durch den leeren Raum, beim Start sehr optimistisch angegangen, und die Gewissheit einer ebenso tristen Rückreise, konnten von der Freude, das Ziel endlich erreicht zu haben, nicht mit einem Schlag weggewischt werden.

Das Aussteigen verlief gemäß Instruktion zügig, aber ohne Eile.

Jercy Kamienczyk und Nora befanden sich in der letzten Hundertschaft. Jercy betrat die Schleuse mit gemischten Gefühlen.

Oh ja, die lange Reisezeit war gut genutzt worden. Das Projekt überarbeitet, berechnet auf centaurischer Basis, Bauablaufpläne, Objektlisten, endlose Register für Material und Leistungen, Pläne des Arbeitskräftebedarfs und der Qualifizierung. All das bestand nunmehr, geprägt von seinem Willen. Schon in den nächsten Tagen würde sich eine Flut von Informationen über den Planeten ergießen als zweite Etappe der konkreten Vorbereitung.

Und dennoch fühlte Jercy sich nicht wohl. Er hatte Vertrauen zu seiner Arbeit, zu der der Freunde und Kollegen. Er wusste nicht, ob es Angst war, was ihn nachts schlecht schlafen ließ, Angst wie vor einer großen Prüfung - oder, ob es einfach nur die Spannung war, das Neue, Unbekannte.

Nora stand gelöst neben ihm, bereit, Eindrücke zu empfangen, in vollen Zügen die Einmaligkeit der Reise zu genießen.

Jercy betrachtete sie von der Seite. Es war wieder schön geworden mit Nora, das wach verbrachte eine Jahr der Reise glich beinahe dem allerersten gemeinsamen. Da er mehr eingespannt und beschäftigt war als sie, hatte sie ihn umsorgt, ihm Behaglichkeit bereitet. Sie waren freundlich miteinander und zärtlich.

Gernot Wach stand einige Meter hinter Nora und Jercy. Erst jetzt wieder kam ihm zum Bewusstsein, dass er nur durch Jercys Fürsprache Teilnehmer der Reise geworden war. Er hätte sich gewünscht, dass die Wahl seines Könnens, Fleißes und Eifers wegen erfolgt wäre, nicht durch Protektion. Zeitweise, noch während der Vorbereitungen auf der Erde, war ihm der Gedanke so zuwider gewesen, dass er sein Mandat am liebsten zurückgegeben hätte. Aber dazu konnte er sich auch nicht entschließen, die Aufgabe, die Ferne, das Fremde lockten zu sehr. Er hatte versucht, durch besonderen Elan und ein riesiges Arbeitspensum seine Teilnahme im Nachhinein zu rechtfertigen, obwohl ihm bekannt war, dass höchstens vier Menschen an Bord um die Zustimmung zu seiner Nominierung wussten.

Vorn ertönte das Signal zum Öffnen des Schleusentors. Gernot gewahrte, wie Nora nach Jercys Hand griff. Schade, dachte er, dass Josephin nicht dabei ist. Er stellte sich vor, dass es sehr schön sein könnte, mit ihr gemeinsam diesen fremden Planeten zu betreten, ihn mit zu erforschen, auf ihm zu leben. Und der Gedanke, dass sie in einem halben irdischen Jahr nachkommen würde, tröstete ihn im Augenblick nur wenig.

Das emporfahrende Schleusentor gab den Blick frei auf eine gleichmäßige graue Fläche. Dann, nach der Order, das Schiff zu verlassen, gewahrten sie, dass es ein Ausschnitt des centaurischen Himmels war.

Eisige Kälte ließ die Menschen zusammenschauern, obwohl der Informator natürlich darauf hingewiesen hatte.

Das Raumschiff stand auf einer riesigen, kahlen Fläche, die durch nichts unterbrochen wurde, kein Gebäude in der Nähe, kein Baum, kein Berg am Horizont, kein Grashalm unter den Füßen. Nur ganz in der Nähe des Landeplatzes standen an drei großrädrigen Wagen drei vermummte Gestalten, die Augen hinter enganliegenden Brillen verborgen. Die zwei bereits ausgestiegenen Hundertschaften schien der Erdboden verschluckt zu haben.

In Ermangelung eines anderen Zieles gingen die an der Spitze schreitenden Menschen auf die Wagen zu. Jedes der Gefährte hatte acht große, übermannshohe Speichenräder, vier auf jeder Seite, und ihre Achsen spießten mitten durch den Kasten, der zwischen diesen monströsen Rädern hing.

Fast selbsttätig teilten sich die hundert Menschen in drei annähernd gleich große Gruppen auf, die eilig den Wagen zustrebten.

Gernot erinnerte sich, solche Wagen oder wenigstens Abbildungen davon bereits gesehen zu haben. Auf dem Mars wurden sie ebenfalls eingesetzt.

Er schauderte. Die Kälte durchdrang seine Kombination. Ihm war, als würden die Gelenke steif. Er lief schneller, überholte einige der Gefährten. Der Schritt auf dem wie aus gefrorenem Sand bestehenden Boden klang dumpf.

Sie erreichten den Wagen. Eine am Kasten klappbar angebrachte Leiter mit wenigen Sprossen verband den Boden mit einer niedrigen Luke. Gernot stieg nach oben, folgte den vor ihm Einsteigenden. Bevor er die Luke passierte, drehte er sich um, sah zum Horizont. Überall gleiche öde Trostlosigkeit. Der Untergrund ging scheinbar in den grauen Himmel über, verschmolz mit ihm. Fröstelnd trat Gernot in den Kasten. Er musste noch einen Augenblick verharren. Düsternis und eine spürbare Enge umfingen ihn. Wenig Licht fiel von der einen Schmalseite durch eine runde, milchige Scheibe ein. Dann gewahrte er zwei Längsbänke, auf denen sich die Gefährten mit den Knien stießen. Man empfing Gernot frotzelnd, er solle sich dünn machen, spitze Gelenke mit den Händen abdecken. In der Tat, er saß dann unbequem eingepfercht. Das einzig Angenehme war, dass der enge Kontakt nach links und rechts wärmte.

Als sich die Luke schloss, wurde es noch finsterer. Später gewahrte Gernot mit gemischtem Gefühl, wie primitiv der gesamte Innenraum des Gefährts ausgestattet war. Nicht die Spur einer Verkleidung, kein Quadratzentimeter aufgebrachter Farbe. Aber, und darüber sinnierte er nach, die Luke hatte sich automatisch geschlossen. Gänzlich aus der Fassung wurde er gebracht, und nicht nur er, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte und offenbar schnell an Fahrt gewann. Die Menschen nahmen es heiter. Sie lachten und riefen sich Scherzworte zu. Und auch die ständige Suche nach einem Halt löste Späße aus. Jede Bodenunebenheit, über die das Vehikel rollte, übertrug sich, wie es schien, völlig ungedämpft auf die Insassen. Sie wurden empor geschleudert, durch Fliehkräfte aneinandergepresst. Als es aufhörte, Spaß zu sein, man die Tortur als solche empfand, ließ das Gerüttel etwas nach. Offenbar hatte das Gefährt den Platz verlassen und einen befestigten Weg eingeschlagen. Aber es blieb schlimm genug, sodass jede Unterhaltung verstummte, man bemüht war, durch Muskelanspannungen die größten Schläge abzufangen. Aber eigenartig leise verlief die Fahrt. Weder ein Motorengeräusch ließ sich vernehmen noch ein überlautes Rollen der Räder. Gernot begriff nicht. Er vermutete, dass vielleicht auch dieses Fahrzeug durch einen Antigravitationsmotor angetrieben wurde. Und jeder Mensch wusste um den hohen technischen Stand der Centauren. Wie also ließ sich da erklären, dass daneben eine solche Primitivität existierte?

Es war eine Erlösung, als das Fahrzeug endlich hielt. Sie stiegen aus, reckten, dehnten sich, Worte gingen hin und her. Dann, als sie sich umsahen, verstummten sie: erdrückende, trostlose Öde. Gernot schien, sie sei körperlich fühlbar.

Der graue Himmel hatte sich nicht um eine Nuance verändert. Die hundert Menschen standen in einem verlorenen Häuflein inmitten einer Anzahl grauer Pyramidenstümpfe, die vielleicht 200 Meter im Quadrat am Fuße maßen und 20 Meter hoch waren, die Begrenzungsflächen stark abgeschrägt. Rings um diese Bauwerke wieder Ödnis.

Die Menschen hatten eine große Anzahl Filme gesehen, Berichte gelesen, hatten eine Vorstellung vom Leben auf Centaur. Diese Vorstellung hatten sie nicht. Nicht ein Bild hatte eine solche niederschmetternde Eintönigkeit, dieses erdrückende Grau vermittelt.

Gernot sah es den Gefährten an, dass auch sie mehr als verwirrt dieser Umgebung gegenüberstanden, dass sie sich wie er verloren und irgendwie hintergangen fühlten. Dann zwang er sich zur Vernunft, mahnte sich, nicht vorschnell zu urteilen. Ich bin keine Stunde auf dem Planeten. Und er muss an anderen Stellen freundlicher sein. Aber wenn irgendwer auf der Erde Besuch bekommt, empfängt er ihn dort, wo man sich am unwohlsten fühlt? Gernot durchströmte Wärme, als er an seine Großmutter im Ungarischen dachte. In ihrem kleinen Häuschen gab es eine gute Stube, die das ganze Jahr zu drei Ereignissen genutzt wurde: Zu Weihnachten, bei Familienfeiern im engsten Kreise und - wenn Besuch kam.

Als Gernot in der Menschengruppe den drei vermummten Centauren folgte, überfiel ihn eine maßlose Enttäuschung. Er war sich der Größe des Augenblicks bewusst geworden. Dreihundert Menschen fliegen sechs Jahre durch lebensbedrohende schwarze und kalte Einsamkeit, betreten zum ersten Mal einen anderen bewohnten Himmelskörper voller froher Erwartung. Und nun? Gernot wusste, dass sich nun schon Großes ereignen müsse, um diese Wunde in ihm zu schließen.

Es ereignete sich nicht.

Sie schritten auf einen Eingang zu, der zunächst zwischen zwei senkrechten, höher werdenden Wänden in die Pyramide hineinführte.

Erneut umfing sie Düsternis. Gernot sah Jercy und Nora vor sich schreiten, gewahrte, wie Nora ängstlich nach Jercys Hand griff.

Dann passierten sie ein Tor, das sich offenbar aus dem niedrigen Gang in die linke Seitenwand versenkte. Übergangslos standen sie in einer erschütternd profanen Halle. Das einzige Tröstliche war, dass vor ihnen die übrigen zweihundert Gefährten standen, zusammengerückt wie - Gernot drängte sich dieser Vergleich auf - eine in die Enge getriebene Tierherde.

Es herrschte nach wie vor Halbdunkel. Wenig Licht fiel aus einer Wand diffus in den Raum, machte, dass die Menschen, die im Blickfeld vor dieser Wand standen, wie Scherenschnitte wirkten.

Gernot war fassungslos. Das sind also die Wesen, dachte er bestürzt, die mit einer riesigen Flotte modernster Raumschiffe vor zwanzig Jahren auf dem Mars landeten, deren Erkenntnisse die Menschen unter anderem befähigten, auf dem roten Planeten ein Großkosmodrom zu errichten, überhaupt eine neue Ära der irdischen Raumfahrt einzuleiten. Und plötzlich hatte Gernot den seltsamen Verdacht, dass der Demonstration dieses Widerspruchs eine bestimmte Absicht zugrunde läge. Aber welche, zum Teufel, und warum?

Als die neuangekommene Gruppe den Anschluss an die Wartenden gefunden hatte, blieb auch sie stehen. Gernot suchte Jercy und Nora. Dann gewahrte er, dass sich Jercy langsam einen Weg durch die Menge bahnte, dem linken Flügel zustrebte. Dort standen Brad und sein engerer Stab, zu dem Jercy gehörte. Dort, und offenbar nur dort wurde leise, aber wie es schien, erregt gesprochen. Die übrigen Menschen raunten sich höchstens kurze Bemerkungen zu.

Gernot hatte Nora erreicht. Er sah, dass sie leicht zitterte. Ob nur der auch im Raum niedrigen Temperatur wegen?

»Wenn ich könnte, würde ich das Josephin gern ersparen«, sagte Gernot leise.

Nora sah ihn einen Augenblick wie geistesabwesend an, nickte andeutungsweise, antwortete dann aber: »Warte ab! Sie haben eben andere Ansichten. Damit muss man hier rechnen.«

Gernot brummelte ein »Hm!«, zog dabei die Augenbrauen ein wenig empor. Er hatte Nora bewundert, in den Wachperioden der gemeinsamen Reise. Ihre Ausgeglichenheit, ihr Optimismus strahlten nicht nur auf ihre unmittelbare Umgebung aus. Und des Öfteren hatte Gernot bemerkt, dass sie Mut machte, Zuversicht verbreitete, dann, wenn sich Jercy in einem Tief befand, weil eine Detaillösung am Projekt ihn nicht befriedigte oder sich nicht einstellen wollte oder wenn man plötzlich gewahr wurde, dass dieses oder jenes vergessen worden war, man jetzt gezwungen wurde, zu improvisieren. Sie schien mehr mit dem Vorhaben verwurzelt als Jercy, der geistige Vater. Nicht umsonst, dachte Gernot, hat der Chef sie - außerhalb des Stellenplans - zu einer zweiten Referentin gekürt. Aber Gernot dachte auch daran, wie sie vor wenigen Augenblicken nach Jercys Hand gegriffen hatte, und er war sich gewiss, dass sie mit ihrer Bemerkung lediglich ihre Betroffenheit überspielte. Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen.

Die leuchtende Wandfläche reichte nicht bis zum Fußboden. Ein Teil des darunter liegenden Sockels rollte zur Seite, Einblick in einen hellerleuchteten Raum unbestimmbarer Größe gewährend. Und aus diesem Raum trugen oder rollten - so genau konnte Gernot das von seinem Standort aus nicht sehen - acht Centauren einen flachen Kasten, den sie unmittelbar nach Passieren der Tür absetzten oder stehen ließen. Ein Podium! Denn von hinten, ebenfalls aus dem Raum kommend, stiegen sechs oder sieben Centauren auf den Quader, eine Sekunde später folgten weitere. Sie traten vor bis an die Kante, verharrten. Im Saal herrschte Totenstille. Nun werden wir ja hören, dachte Gernot, und er wiegte skeptisch den Kopf.

 

Nur allmählich besserte sich unter den Menschen die Stimmung. Nach dieser Ankunft und dem mehr als kühlen Empfang wollte sich die Atmosphäre, wie sie die sechs Jahre auf dem Schiff geherrscht hatte, nicht gleich wieder einstellen. Es hatte sogar einen offiziellen Antrag an die Leitung gegeben, Centaur umgehend wieder zu verlassen. Und was in den sechs Jahren nicht notwendig geworden war: Der Chef machte von seiner Autorität Gebrauch. Er lud zu einer Zusammenkunft, erklärte in einer kurzen Ansprache, dass die Leitung sich bemühe, den Menschen menschlichere Bedingungen zu schaffen, dass man aber im Übrigen gekommen sei, um zu arbeiten, und gewusst habe, dass man anderes als Gewohntes vorfinden würde, er also ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit und Disziplin verlange. Außerdem sollten ohnehin in den nächsten Wochen Einsatzgruppen gebildet werden, die an verschiedenen Punkten des Planeten die Vorbereitungen weiterzuführen hatten, dann dort also wieder andere Verhältnisse vorfänden ...

Sie lebten in einem der weitläufigen Pyramidenstümpfe, in einer merkwürdigen Diskrepanz zwischen an Primitivität grenzender Einfachheit im persönlichen Bereich und nahezu verschwenderischen technischen Mitteln in der Arbeit. Sie wohnten zu dritt oder zu viert in einem Raum.

Anfangs zeigten die Gastgeber kaum Verständnis dafür, dass Partner wie Nora und Jercy miteinander wohnen wollten. Nach centaurischem Plan sollten die Menschen buchstäblich nach Stückzahlen auf die vorhandenen Räume verteilt werden. Es bedurfte großer Mühe der Leitung, dass wenigstens die berechtigten Wünsche berücksichtigt wurden. Und was auf das Befremden vieler Menschen stieß: Brad selbst hätte von sich aus wahrscheinlich nichts gegen den centaurischen Plan unternommen, wenn ihn sein Stab nicht regelrecht dazu aufgefordert hätte. Er vertrat die Meinung, dass bei einem vollen Einsatz des Einzelnen für die Arbeit solche Dinge, und so sagte er wörtlich, »in die hintere Reihe gehörten«. Er jedenfalls würde es so empfinden, und er sei schließlich auch ein Mensch. Das Letztere ließ sich nicht bestreiten, aber was er wohl für ein Mensch sei, darüber begann sich so mancher Gedanken zu machen.

In den Unterkünften nun befand sich das Allernötigste: Eine Liegestatt, Tisch und Stühle nach menschlichem Maß - also mussten sich die Centauren vor der Ankunft der Irdischen mit diesen Dingen befasst haben - und ein Behältnis für persönliche Dinge, eine Art offener Schrank oder Regal. Das alles aus einem beigefarbenen Plast, mit grauen Schlieren durchsetzt, der, und das wiederum erstaunte die Menschen, zu 100 Prozent staubabweisend war. Überhaupt: Im gesamten Komplex hielt sich kein Schmutz. Gröberes fiel durch Bodenroste, wurde dort offenbar in bestimmten Abständen abgesaugt. Und gegen die Außenwelt herrschte innerhalb des Gebäudes ein ständiger leichter Überdruck, der verhinderte, dass Staub eindrang, eine Maßnahme, welche die Notwendigkeit gebot. Es tobten Stürme über dieser Region des Planeten, Stürme, die, wie die Betreuer sagten, während dreier Viertel des Centaurjahres das Leben außerhalb der Bauten erschwerten. Um so unverständlicher schien es da den Menschen, dass das Leben innerhalb der Gebäude nun nicht gerade Erleichterungen bot. Auf entsprechende, vorsichtig gestellte Fragen zeigten die Centauren meist Erstaunen, und sie fragten zurück, ob die Laboratorien, Werkstätten und Montagehallen denn nicht zusagten. Man werde dort doch wohl nichts vermissen, und wenn, dann werde das Fehlende sofort herbeigeschafft. Und dann forderten sie entsprechende Listen, die in der Tat prompt abgearbeitet wurden.