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Hans-Ulrich Luedemann

Das letzte Kabinettstück

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-853-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) beim Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Mit lautem Knall flog die Glastür ins Schloss. Zwei Stiefelhacken klappten. „Genosse Hauptmann! Ich melde: Die zuletzt im Haus anwesenden Bürger warten auf ihre Vernehmung!"

Böhni hob langsam den Kopf. Die Augen hinter den eingefärbten Brillengläsern funkelten. „Denkel! Sie wollen doch so schnell wie möglich Unterleutnant der K werden? Dann machen Sie gefälligst nicht solchen Krach!"

Denkel knallte wieder die Hacken zusammen. Dann riss er die Tür auf und rief den Bürger Berner zum Genossen Hauptmann Böhni.

Wie vom Katapult geschnellt, schoss Berner an Denkel vorbei in die Pförtnerloge: „Am Sonntagabend soll das Pärchen in Prag sein! Diese Blamage! Meine Sachsendreier, braunrot auf Streifenband ..." Berner stockte erregt. Mit dem Taschentuch fuhr er sich über die Stirnglatze.

„Versichert?"

„Bitte?" Es dauerte etwas, ehe Berner hinter den Sinn der Frage kam.

„Ob dieses Exponat versichert ist?" Böhnis Stimme klang beherrscht. Aber in seinem Innern brodelte es. Der Tag war bisher ruhig verlaufen. Ausgerechnet gegen Abend, wo im Fernsehen die Hundeserie lief, da musste er sich um verschwundene Briefmarken kümmern.

„Was spielt das für eine Rolle, Genosse Hauptmann! Katalogwert sechzigtausend Mark! Aber ob versichert oder nicht — das Pärchen, nach Art und Beschaffenheit ein Kabinettstück, ist unersetzbar. Mein Gott, warum habe ich es auch verliehen! Aber wer denkt denn schon bei so was an Diebstahl!"

„Wer spricht hier von Diebstahl, Herr Berner? Die Marken können doch auch verlegt worden sein?"

„Ich glaub' doch nicht an den Klapperstorch, Genosse Hauptmann!"

„Also was war: Sie haben Peter Schering im Fahrstuhl gefunden?"

Berner nickte, holte tief Luft, fuhr sich abermals mit dem karierten Taschentuch über die Stirn: „Wie gesagt, ich wollte meine Leihgabe abholen. Hatte mich mit Schering am Fahrstuhl verabredet und wartete."

„Kamen inzwischen andere Personen ins Haus?"

„Ich habe niemanden gesehen, Genosse Hauptmann. Also, wie ich da so warte, kommt auch der Fahrstuhl. Hält im zweiten Stock, fährt weiter ins Erdgeschoss. Ich mach' die Tür auf — da liegt Schering. Und ehe ich was sagen kann, kommt jemand die Treppe runtergesaust. Hinter dem noch einer. Wir drei haben Schering aus dem Fahrstuhl gezogen. Der Ältere der beiden ist wohl Arzt. Er hat den Rettungswagen alarmiert. Ich war mächtig durcheinander, wissen Sie."

„Irgend etwas Verdächtiges wahrgenommen, Herr Berner?"

„Überhaupt nicht. Der Jüngere, das ist der Bruder von Herrn Schering — sitzt auch draußen", Berner deutete mit dem Daumen in Richtung Foyer, „der sagte immer: Mensch, Peter, mach keine Dinger. Komm wieder zu dir!"

„Und dann kam der Sanka?"

Berner nickte.

„Und Sie?"

„Als die Männer Peter Schering auf die Trage legen wollten, da fielen mir meine Sachsendreier ein. Ich hab' seine Tasche genommen und nach dem Etui gesucht. Nichts. Ich bin zum Rettungswagen gelaufen. Hab' in Scherings Taschen gefasst ..."

Berner zog entschuldigend die Schultern hoch.

„Sie müssen verstehen, Genosse Hauptmann, die Maschine nach Prag geht morgen früh. Unsere ganze Republik blamiert sich, wenn ..."

Böhni lächelte.

„Das ist nicht übertrieben!", ereiferte sich Berner. „Mein Kabinettstück ist ein wichtiges Exponat. Wenn es nicht spätestens Sonntagabend zur Eröffnung dort ist, Mann o Mann!" Erschüttert von dieser Vorstellung, sank Berner in den Pförtnersessel.

„Sie also haben veranlasst, dass Kreigenbrink die Polizei alarmiert?"

Berner schaute auf. „Wenn Kreigenbrink der Pförtner ist, ja. Auf meine Veranlassung hin wurde auch sofort der Eingang verriegelt. Ich selbst habe aufgepasst, dass keiner das Bürohochhaus verlässt."

„Hatten Sie Ihre Augen auch am Hintereingang?"

Berner schluckte. Er hatte ein Lob erwartet, stattdessen kam diese mahnende Frage.

„Haben Sie andere Wahrnehmungen gemacht, Herr Berner? Solche, die Ihren Verdacht auf Diebstahl bestätigen?"

„Hören Sie!" Berner pumpte Luft in den massigen Brustkorb. „Glauben Sie, Schering fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss ohne meine Sachsendreier?"

„Vielleicht wollte er Sie bitten, die Leihfrist zu verlängern? Hat oben in den Ausstellungsräumen das Etui sicher verwahrt ..."

„Ich glaub Ihnen, wenn Sie mir das Etui zeigen!", fuhr Berner dazwischen.

„Sie können draußen wieder Platz nehmen, Herr Berner", sagte Böhni gelassen.

„Aber das mit dem Fahrstuhl hat mir zu denken gegeben, Genosse Hauptmann", sagte Berner, indem er zur Tür schritt. „Wenn Peter Schering so am Boden lag, wer hat dann den Fahrstuhl im zweiten Stock in Gang gesetzt? Sein Bruder war angeblich schon nicht mehr drin. Wie ich gehört habe, ist der Doktor ein fanatischer Sammler. Und die gehen über Leichen für eine seltene Marke. Merken Sie sich, Genosse Hauptmann: Meine Sachsendreier sind wahrscheinlich das letzte Kabinettstück dieser Art in der Republik."

Kabinettstück?"

„So nennt man seltene und sehr gut erhaltene Briefmarken."

Böhni klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte. Abschätzend warf er einen Blick auf Berner, dessen massige Gestalt den Türrahmen ausfüllte.

„Herr Berner?"

Berner drehte sich in die Pförtnerloge zurück. Erwartungsvoll blickte er Böhni an.

„Was Ihren Verdacht betrifft, Herr Berner, ich möchte keinen Ärger im Foyer. Außerdem: Ich halte Sie ebenfalls für einen fanatischen Sammler!"

Diesmal überhörte Böhni das Krachen der zugeworfenen Tür. Er beugte sich vor und schaltete den Ventilator ein. Eine Affenhitze, trotz des Gewitters am Nachmittag. Böhni stand auf und ging zum Telefon. Während er die Nummer des Krankenhauses wählte, beobachtete er durch die Scheiben das Foyer. Als wolle er noch immer die Eingangstür bewachen, stapfte Berner hin und her. Wie ein Rottweiler so massig, dachte Böhni. Er lächelte bei dem Vergleich und verzog Sekunden später das Gesicht. Was gäbe er darum, zu Hause zu sitzen, seinen Jagdspaniel neben sich. Der Film „Hunde bei der Jagd" lief noch immer.

Das Besetztzeichen im Hörer kurbelte Böhnis Ärger an, aber er biss die Zähne zusammen. Das wäre das letzte, mit dem eigenen Kram die Ermittlungen zu beeinträchtigen. Er glaubte von sich, mit fast fünfzig Jahren, die Hälfte davon bei der Kriminalpolizei, ein Durchschnittsmensch geblieben zu sein, einer mit normalen Regungen. Nur, er durfte sie im Unterschied zu anderen nicht abreagieren, und bei der Arbeit schon gar nicht. Ein Schmied hat's gut, seufzte Böhni. Der kann seinen Ärger am Amboss auslassen. Er warf den Hörer heftig in die Gabel. Als Böhni aufschaute, sah er Denkels Blick auf sich ruhen. Denkel! Da hatte er sich was eingehandelt. Frisch von der Armee, sollte so bald wie möglich nach Aschersleben zur Schule. Hoffentlich würde man Denkel in der Stadt der tausend Witwen das militärische Getöse abgewöhnen.

Böhni straffte sich. Auf seiner Stirn standen zwei senkrechte Falten. Er hatte weiß Gott was anderes zu tun, als über so was zu grübeln. Böhni wählte noch einmal die Nummer des Krankenhauses. Wieder besetzt. Eigentlich Zeitverschwendung, dachte Böhni. Wenn Peter Schering aufwacht und Aussagen machen kann, krieg' ich als erster Bescheid. Böhni nickte Denkel zu. Sein Mitarbeiter winkte einem jungen Mann. Hauptmann Böhni verfolgte dessen Weg durchs Foyer zur Pförtnerloge. Das war also der Bruder des Geschädigten. Der Hauptmann bemühte sich, über die langen Haare und das etwas nachlässige Äußere hinwegzusehen, als Harald Schering vor ihm stand. Ein intelligentes Gesicht mit Nickelbrille. Böhni drehte sich etwas, um Scherings Gesicht von der Seite zu sehen. Missmutig schüttelte er den Kopf. Er hatte auf Fensterglas getippt, aber die Brille war echt.

„Sind Sie auch Fanatiker, Herr Schering? Fanatiker in Sachen Briefmarken?" Wenn alle anwesenden Philatelisten von jener Sorte sind, dann wird es ein langer Abend, dachte Böhni.

„Mit Briefmarken habe ich nichts im Sinn", sagte Harald Schering lächelnd.

Böhni atmete hörbar auf. „Dieser Berner hat Ihnen wohl gereicht?" Mitfühlend sah er Harald Schering an.

„Leichenfledderei!" Harald Schering hob sogleich begütigend die Hände. „Ich weiß, es ist übertrieben. Aber als wir meinen Bruder zum Krankenwagen trugen, hing er wie ein Saugarm an Peters Taschen. Ich hätte ihm am liebsten einen Tritt gegeben. Übrigens — haben Sie die angeblich gestohlenen Marken schon gefunden?"

„Was, wenn die Marken wirklich gestohlen worden sind, Herr Schering?"

„Das kann ich mir schwer vorstellen. Ich fuhr mit meinem Bruder vom zwölften Stock zu Berner. Da hatte Peter die Marken noch."

„Haben Sie das Etui in der Tasche gesehen?", unterbrach Böhni.

„Gesehen? Nein. Aber es fährt ja keiner zur Übergabe, wenn er die Marken nicht in der Tasche hat."

„Logisch. Aber weiter!"

„Im Fahrstuhl ist mein Bruder plötzlich umgekippt. Aus heiterem Himmel. Ich bin dann zur Toilette gelaufen, um Wasser zu holen."

„Aber Sie sind doch über die Treppe ins Erdgeschoss gelangt?"

Schering nickte. Er hob die Hand und streckte Zeige- und Mittelfinger vor. „Im zweiten Stock hielt das Ding. Ich guck 'raus, weil ich dachte, da will noch einer mit. Da sah ich am Gangende die Toilettentür und bin gleich losgelaufen. Hinter mir kam dieser Doktor in die Toilette. Ich bin mit ihm zurück zum Fahrstuhl. Und stellen Sie sich vor: Das Ding war auf dem Weg ins Erdgeschoss!"

„Ohne dass jemand — ich unterstelle mal, Ihr Bruder war dazu nicht in der Lage — also ohne dass weder Sie noch Doktor Bernhardy den Fahrstuhl wieder in Gang setzten?"

„Das ist ja das Ulkige dabei, Herr Hauptmann."

Böhni verschränkte die Arme vor der Brust. „Sagen Sie, Herr Schering: Kommen solche Ohnmachten öfter bei Ihrem Bruder vor?"

Schering hob die Schultern.

„Warum sind Sie eigentlich hier, wenn Sie sich nicht für Briefmarken interessieren?"

„Mein Bruder rief mich an. Er wollte etwas mit mir besprechen."

„Was?"

„Tut mir leid, ich kann es Ihnen nicht sagen. Was Privates." Schering fuhr mit der Hand durch sein dichtes Haar. „Übrigens, die Fahrstuhltür stand offen. Oben, meine ich. Als mein Bruder und ich einstiegen."

Böhni winkte ab. Im Grunde genommen erwartete er von diesen Einvernahmen nicht allzu viel. Angelpunkt der Ermittlung würde Peter Scherings Aussage sein. Böhni blickte auf die Uhr. Der war mittlerweile eine halbe Stunde im Krankenhaus. Hoffentlich kam der Mann bald zu sich.

„Ihr Bruder leitet die hiesige Filiale des Briefmarkenhandels, Herr Schering?"

„Nein. Der Leiter heißt Langneder. Mein Bruder ist sozusagen dessen rechte Hand."

„Und wo arbeiten Sie?"

„Im Krankenhaus."

„Wollen Sie Arzt werden?"

„Nein." Scherings Antwort kam zögernd. „Ich arbeite dort halbtags. Wegen des Geldes. Und auch wegen der Menschen. Was glauben Sie, was Sie dort zu hören kriegen an Geschichten. Das gibt's woanders kaum."

Böhni musste über Scherings plötzlichen Eifer lächeln. Aber wieso arbeitete ein junger Mann, kräftig gebaut und gesund, wie es aussah, nur halbtags?

„Ein bisschen viel Leerlauf, bei nur vier Stunden Dienst?", sagte Böhni noch immer lächelnd. Er musste an die sechzigtausend Mark denken. Katalogwert. Und wer halbtags arbeitet wie dieser junge Mann ...

Böhnis fortwährendes Lächeln machte Schering offensichtlich unsicher. Böhni wiederholte seine Frage, während er dachte: Wäre so einfach. Aber zu schön, um wahr zu sein.

„Ich schreibe, Herr Hauptmann."

„Schriftsteller?"

Verlegen wehrte Schering ab.

„Und was schreiben Sie im Augenblick?"

Böhni glaubte plötzlich ein Glitzern in Scherings Augen zu sehen. Ein Glitzern, wie er es auch bei dem Fanatiker Berner konstatieren würde. Harald Scherings Blick hatte etwas Hintergründiges, beinahe Triumphartiges.

„Ich sitze an einer größeren Arbeit, Herr Hauptmann. An einem Krimi!"

2. Kapitel

Was bist du nur für ein eingebildeter Fatzke, dachte Ursula Leipe. Sie stand am Fenster und hörte Dr. Kötters Ausführungen zu. An ihrem Gesicht war zu sehen, dass sie dessen Begeisterung kalt ließ. Stattdessen ärgerte sie das gönnerhafte Getue, mit dem der Mediziner sich herabließ, ihr das Wesen von Peter Scherings Krankheit zu erläutern. Leutnant Leipe seufzte. Dass der Mann vor ihr gut aussah, ausnehmend gut, brachte sie umso mehr in Rage. Aber was sollte sie machen? Sie musste zuhören. Kötter war für die weitere Ermittlung wichtig. „Wenn Sie das verstehen, Genossin: Ein Elektroenzephalograph zeichnet elektrische Aktionsströme unseres Hirns auf. Der gewöhnliche Schlaf wird ausgeschrieben mit großen, langen Wellen. Der paradoxe Schlaf hingegen — ich sagte bereits, dass er in der Nacht mehrmals auftritt und die Zeit begrenzt, die der Normalsterbliche als Traum bezeichnet — der paradoxe Schlaf also ist gekennzeichnet durch kurze, kleine Wellenkurven. Die Schlafzustände der Narkoleptiker weisen nun eine frappante Ähnlichkeit mit den Phasen des paradoxen Schlafs auf. Wenn Sie mir soweit folgen konnten?"

Ursula Leipe nickte beherrscht. Sie schätzte Dr. Kötter auf etwa dreißig Jahre. Sie waren fast gleichaltrig.

„Bei der Narkolepsie scheint es, dass, durch emotionale Reize hervorgerufen, kurz- beziehungsweise langzeitig ein paradoxer Schlaf entstehen kann ..."

„Lange Rede, kurzer Sinn, Doktor Kötter", fiel Leutnant Leipe ein „Scherings Körper weist keinerlei Verletzungen auf."

Kötter nickte. Seine Lippen pressten sich zu einem Strich. Mein Gott, dachte Ursula Leipe. Jetzt ist das Bübchen verletzt. Im gleichen Moment tat ihr Kötter leid. Der Mann war nun mal so. Böhni wartete im Bürohochhaus auf ihren Anruf. Eile tat not, wollten sie noch heute zu einem halbwegs zufriedenstellenden Ergebnis kommen. Die Leibesvisitation gleich nach ihrer Ankunft war ein Schlag ins Wasser gewesen. Vielleicht hatte die Einsatzgruppe unterdessen mehr Glück? Irgendwo musste das Etui mit den verdammten Briefmarken ja abgeblieben sein!

„Können Sie ihn denn nicht wach machen, Doktor?"

Der Arzt schüttelte den Kopf. Er schob seinen nackten Arm aus dem weißen Kittel, so dass Ursula Leipe nicht umhin konnte, die wertvolle Quarzuhr zu bemerken. „Über eine halbe Stunde ist vergangen. Er wird von selbst zu sich kommen. Sie müssen verstehen, ich brauche die Zeitdauer für meine Arbeit. Wir kommen nur durch Zufall an solche narkoleptischen Patienten, da es ihrer wenige sind und außerdem die meisten Betroffenen keine Ahnung von ihrer Krankheit haben. Ein Kollege von mir hatte da mal einen Mann, der felsenfest davon überzeugt war, an Leukämie erkrankt zu sein. Mattigkeit, blasses Aussehen und so weiter. Alles, was sich ein Durchschnittsbürger im Gesundheitsbuch an Symptomen zusammensuchen kann. An dem Tage, als die definitiven Ergebnisse vorlagen, teilte mein Kollege dem Patienten den negativen Befund mit. Und der Mann fiel um. Kerngesund, aber, wie der Volksmund zu sagen pflegt, er kippte aus den Pantinen. Wir haben ihn untersucht: Narkolepsie. Nun könnten Sie, Genossin, fragen, worin eigentlich der Unterschied zwischen Narkolepsie und Epilepsie besteht..." Das heftige Kopfschütteln irritierte Kötter. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Ein Knarren ließ beide herumfahren. Mit einem Satz war der Doktor an der Trage.

„Da sind wir ja wieder, mein Lieber", sagte Kötter. Er tätschelte Scherings Wangen. „Nun bleiben wir aber hübsch wach, was?"

Ursula Leipe stand am Fußende. Sie beobachtete, wie Peter Schering die Augen mehrmals öffnete und schloss. Dann fuhr er plötzlich in die Höhe. Mehr Schreck als Staunen war ihm anzusehen.

„Alles in Ordnung bei uns", beruhigte Kötter den Patienten. „Wir waren mal kurz weggetreten. Sagen Sie mal ..."

„Augenblick, Herr Doktor!" Ursula Leipe hob die Hand. Jetzt war sie an der Reihe. '

„Bitte!" Kötter bedachte die Frau neben ihm mit einem Augenaufschlag Marke Demütigung. Er trat an die Wand und legte abwartend die Arme auf den Rücken.

„Leutnant Leipe. Kriminalpolizei!"

Schering blickte verständnislos zu Kötter. Der zuckte die Achseln, seine Ohnmacht ob dieser unwissenschaftlichen Belästigung demonstrierend.

„Herr Schering, wir benötigen dringend eine Auskunft von Ihnen. Erinnern Sie sich, dass ein Herr Berner Briefmarken abholen wollte? Dass Sie mit dem Etui ins Erdgeschoss gefahren sind ..." Ursula Leipe hielt inne.

Schering nickte heftig. Dann sagte er leise: „Wenn Sie mir sagen würden, was passiert ist? Ich weiß, ich bin mit meinem Bruder in den Fahrstuhl gestiegen ..."

„Hatten Sie das Etui bei sich?"

„Das Etui mit den Sachsendreiern? Aber sicher!"

Ursula Leipe krampfte die Finger zur Faust. Also doch! Da konnten sie sich auf Arbeit gefasst machen. Im Geiste zählte sie noch einmal die verdächtigen Personen, fast eine Handvoll.

„Ist was mit den Marken?", fragte Schering ahnungsvoll.

„Sie sind verschwunden."

„Verschwunden?" Schering stieß das Wort heraus. Er fiel aufs Kopfkissen zurück. „Verschwunden? Durch meine Schuld! Wie konnte ich auch ..." Schering schluckte erregt. Sein Körper zuckte krampfhaft.

Sofort stand Kötter neben der Trage. „In seiner Verfassung riskieren Sie einen erneuten Anfall", sagte Kötter. Seine Stimme klang nicht ärgerlich, eher erwartungsvoll. Er wandte sich zu Schering: „Wie oft sind wir denn schon auf diese Art weggetreten?"

Scherings Atem ging heftig. Er dachte nach. „Zweimal vielleicht? Aber ich habe so was bisher für Zeichen von Überarbeitung gehalten."

„Erinnern Sie sich, Herr Schering! Sie waren mit Ihrem Bruder in den Fahrstuhl gestiegen ..." Leutnant Leipe wartete auf Antwort. Irgendetwas musste diesen narkoleptischen Anfall ausgelöst haben.

„Hat Ihr Bruder Ihnen einen Witz erzählt?", fragte Kotier.

Ursula Leipe fuhr herum. Sie musste Kötter darauf aufmerksam machen, dass sie einen wichtigen Zeugen einvernahm.

„Sie können es nicht wissen, Genossin", sagte Kötter in seiner herablassenden Art, „narkoleptische Anfälle werden auch durch Heiterkeit, plötzliche Heiterkeit, hervorgerufen. Ich habe da einen Patienten, der ist von Beruf Anstreicher. Wenn die Kollegen ihm einen Streich spielen wollen, warten sie, bis der Besagte mit einem vollen Farbeimer kommt. Dann gibt jemand schnell die Pointe eines Witzes wieder. Sie können sich das Weitere selbst ausmalen. Bei jenem Patienten dauert der narkoleptische Schlaf übrigens nur dreieinhalb bis vier Minuten."

„Herr Schering, was geschah im Fahrstuhl?", fragte Ursula Leipe gereizt.

„Es gab Streit. Zwischen meinem Bruder und mir. Aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Sie hat mit den Briefmarken nichts zu tun."

„Und wer konnte, Ihrer Meinung nach, das Etui aus der Tasche nehmen, bevor Sie ins Erdgeschoss fuhren?"

Schering schloss die Augen. Er ließ sich Zeit.

Ursula Leipe blickte ungeduldig zur elektrischen Uhr, die an der Stirnwand des Zimmers hing. „Also gut", sagte sie, „stimmen Sie mir zu, dass es theoretisch alle sein können, die sich bis zuletzt in den Ausstellungsräumen aufhielten? Doktor Bernhardy, der Kellner. Ihr Bruder, Ihre Verlobte ..."

Schering schüttelte heftig den Kopf. „Meine Verlobte? Sie war doch gar nicht in der Ausstellung anwesend, als ..." Mit einem energischen Schwung kam Schering zum Sitzen. Er musterte sich. Zufrieden, dass er noch immer seine Kleidung trug, versuchte er zaghaft aufzustehen.

„Sie können", ermunterte ihn Kötter.

„Ich fahre sofort mit Ihnen in die Ausstellung", sagte Schering. „Obwohl ich gerade jetzt Berner nicht unter die Augen treten möchte. So eine Blamage. Und an allem bin ich schuld!"

Ursula Leipe sah sich im Zimmer um. „Darf ich mal telefonieren?"

Kötter nickte und deutete zum Vorhang. Die beiden Männer schwiegen während des Telefonats. Leutnant Leipe gab Bescheid, dass sie mit Peter Schering ins Bürohochhaus kommen würde.

Es war Kötter anzusehen, dass er nur ungern seinen Patienten entließ. Er trat zum Schrank und holte Scherings Jacke.

„Sie haben uns sehr geholfen." Ursula Leipe lächelte verbindlich. Kötter verbeugte sich knapp. Er begleitete beide bis zum Ausgang.

„Sagen Sie, Herr Doktor", fragte Peter Schering leise, „kann so was in der Familie liegen? Ich meine, diese Narkolepsie?"

„Schwer zu sagen."

„Und so ein Anfall, der lässt sich einfach herbeiführen? Ich meine, von jemand anders?"

„Durchaus möglich, wenn dieser Jemand weiß, worauf der Narkoleptiker anspricht."

Ursula Leipe hielt Schering den Wagenschlag auf. Als Schering eingestiegen war, warf sie die Tür zu.

„Sie fahren selbst?". wunderte sich Kötter.

„Keine Leute", witzelte Ursula Leipe. Sie startete und fuhr einen eleganten Bogen um den Doktor. Dann schoss der Wartburg durch die Ausfahrt.

„Ich fass' das noch immer nicht", murmelte Schering.

Leutnant Leipe warf ihm einen Seitenblick zu. Sie glaubte Schering zu verstehen. Wer sich Briefmarken lieh für eine Ausstellung, diese durch Fahrlässigkeit, soviel stand auf jeden Fall bereits fest, aufs Spiel setzte, dem konnte nicht wohl sein in der Haut.

„Warum fragten Sie nach der Vererbung?"

„Warum?" Schering lehnte sich ins Polster.

Ursula Leipe nickte.

„Vor einem Monat ist mein Onkel tödlich verunglückt. Mit seinem Auto. Und mir fiel bei Doktor Kötters Erklärung ein, dass mein Bruder Harald darauf bestand, dass in dem alten Wagen ein Kassettenrekorder eingebaut wurde. Dabei hat der alte Herr sich nie was aus solchen Dingen gemacht. War Reusenfischer sein Leben lang. Die Unfallursache, so sagen es jedenfalls Ihre Kollegen von der Polizei, ist nicht geklärt. Die Kassette hat sicherlich niemand überprüft ..."

Ursula Leipe fasste das Lenkrad fester.

„Die Testamentseröffnung war für meinen Bruder ein schwerer Schlag", fuhr Schering fort, „Onkels Vermögen ist nicht unerheblich. Harald hatte wohl geglaubt, als Bohemien davon leben zu können. Seltsamerweise ist mir alles zugefallen."

„Seltsamerweise?"

„Ja. Und ich habe Grund zu der Annahme, dass Harald sich dafür rächen will."

3. Kapitel

Böhni blickte mit unbewegtem Gesicht auf den vor ihm sitzenden Timpe. Aber dessen Redeschwall schien endlich erschöpft. Böhni räusperte sich. „Ich finde es gut, dass Sie gleich so vom Leder gezogen haben, Herr Timpe. Klare Fronten, das geht in Ordnung. Aber manchmal, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, kann es auch Bluff sein. Sie reden gleich von Ihren drei Vorstrafen und davon, dass natürlich Sie deshalb von Anfang an verdächtigt würden. Ich will Ihnen nur mal sagen, wie ich über Ihre Auslassungen auch denken könnte."

„Und wie denken Sie?"

„Ich denke an die Sachsendreier. Katalogwert sechzigtausend Mark. Verschwunden seit knapp einer Stunde, in diesem Haus. Nach Feierabend blieb nur ein kleiner Personenkreis hier. Das Schlüsselbrett hinter Ihnen an der Wand weist es aus. Der Pförtner bestätigte es ebenfalls. Wie gesagt, an den Fingern abzählbar. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ist darunter derjenige ..." Böhni hielt inne. Abwartend musterte er Timpe. Von den unsteten Augen abgesehen, ist er ein ganz passabler Bursche, fand Böhni. Beinahe ein Frauentyp, einer von der schlanken, zähen Sorte. Stets ein unverbindliches Lächeln. Weiß über Gott und die Welt zu reden. Mehr Schein als Sein. Wenn so einer erst mal auf die schiefe Bahn geraten ist, der Strafvollzug wird ihn kaum ändern. Kommen dort zu viele vom gleichen Kaliber zusammen. Tscha, gehen mit den besten Absichten aus'm Bau — awers dat is so as wie mit de Motten un dat Licht.

„Ich kann nur wiederholen, was ich bereits ausgesagt habe: Nachdem ich die vier Herren bedient habe ..."

„Wieso vier?", unterbrach Böhni. „Bisher war nur immer von den beiden Scherings und Doktor Bernhardy die Rede!"

„Dann haben Sie Herrn Langneder vergessen. Er ist doch der Chef vom ganzen Unternehmen. Er ist als Erster gegangen. Lange vor Herrn Schering."

„Und Fräulein Langneder?"

„Fräulein Langneder? Oben im Café war sie nicht!"

Böhni erhob sich und ging zur Tür. Er winkte den stramm dastehenden Denkel zu sich heran und erteilte ihm den Auftrag, auf die Schnelle Langneder herbeizuholen. Vielleicht konnte die Tochter einen Hinweis geben, wo Langneder zu finden war. Denkels Hackenschlagen hörte Böhni nicht mehr. Grimmig stapfte er in die Pförtnerloge zurück. Er dachte an Harald Schering. Der könnte solche Unklarheiten in seinem Werk brauchen. Hauptmann Böhni wandte sich Timpe zu: „Ziemlich verantwortungsvoller Posten, den Sie haben. Kleines Ausstellungscafe ..."

„Das ist nun mal in unserem Staat so. Jeder Gestrauchelte kriegt eine Chance, Genosse Hauptmann."

Böhni knurrte innerlich. Wenn so einer ihn mit Genosse titulierte, fühlte er sich stets auf den Arm genommen. Was bei anderen Vertrauensbeweis war, hier klang es nach einem plumpen Anbiedern. „Sie hatten also die vier Herren bedient."

Timpe nickte. „Jeder von uns sah, dass Langneder Peter Schering eine Tasche übergab, bevor er wegging. Keiner nahm davon besonders Notiz, Genosse Hauptmann. Wie gesagt, ich räumte dann ab und machte meine Abrechnung fertig. Dann bin ich ins Lager gefahren, um nach der Ware zu sehen. Am Donnerstagmittag ist nämlich Lieferung, müssen Sie wissen. Und die faulen Säcke", Timpe stockte, „na ja, die Kollegen stellen alles einfach auf die Rampe statt ins Lager. Wie leicht kann da was verschwinden, Genosse Hauptmann!"

Böhni nickte ergeben. Wenn man Timpes salbungsvollen Ton hörte, war man versucht, ihm Blankovollmachten zu übertragen. Der Wolf im Schafpelz, fiel Böhni ein. Und mit dem Schafpelz die Wolfsjagd. Und mit der Wolfsjagd die Afghanen, die heute Abend im Fernsehen ... Böhni wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. War er urlaubsreif? Warum vermochte er sich nicht auf den Fall zu konzentrieren? Oder fing es damit an? Mit fünfzig, so ging die Rede, war einer als Kriminalist verheizt. Da taugte einer nicht mehr für Unternehmen, bei denen alles abverlangt wurde: körperliche und geistige Frische. Böhni straffte sich. Von wegen! „Reden Sie nur weiter, Herr Timpe!"

„Ich kam dazu, als die Herren gerade Schering aus dem Fahrstuhl trugen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Genosse Hauptmann."

„Sind Sie vor den Scherings mit dem Fahrstuhl gefahren?"

„Ja."

„Und wo befindet sich dieses Lager, von dem Sie sprachen?"

„Im zweiten Stock."

„Im zweiten Stock also", wiederholte Böhni ohne besondere Betonung, obwohl das Stockwerk bei ihm Gedankengänge auslöste: Im zweiten Stock war der Aufzug stehen geblieben, Harald Schering stieg aus, um zur Toilette nach Wasser zu laufen, hinter ihm kam Dr. Bernhardy. Als sie zurückkehrten, war der Fahrstuhl weg ... „Haben Sie jemanden im zweiten Stockwerk gesehen? Oder haben Sie etwas gehört, Herr Timpe?"

Der Kellner schüttelte den Kopf. „Ich bin, weil kein Fahrstuhl da war, vom Lager aus die Treppe hinuntergegangen."

„Ihr Weg hat Sie nicht zufällig an einem offen stehenden Fahrstuhl vorbeigeführt, in dem Herr Schering lag?"

Timpe schloss beleidigt die Augen. „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst", seufzte er sichtlich betroffen.

„Die Katze lässt das Mausen nicht", erwiderte Böhni kalt.

„Ich habe nichts gesehen, nichts gehört, Genosse Hauptmann!" Zum ersten Mal kippte Timpes Stimme etwas ab. Seine Gereiztheit war nun offensichtlich.

„Wir werden Ihre Bücher prüfen müssen, Herr Timpe. Vielleicht irgendwelche Unregelmäßigkeiten bei den Abrechnungen? Brauchten Sie deswegen Geld? Sagen Sie es besser jetzt. Noch ist Zeit."

„Wenn Sie mir die Inventur abnehmen wollen, bitte!"

Böhni nickte. Es war klar, dass er von Timpe nichts Wesentliches erfahren würde. Er hoffte, dass die Spurensicherung ihm mehr in die Hand geben würde als vage Vermutungen. Böhni wehrte sich dagegen, Timpe zu verdächtigen. Aber wenn er seine Erfahrungen zu Rate zog? Es stand oft einleuchtend positiv in Statistiken und Artikeln, von wegen Erziehung Gestrauchelter, aber wer die Probleme abzuarbeiten hatte, der wusste es besser.

„Kann ich jetzt gehen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Timpe auf, nahm seinen kleinen Blumenstrauß und bewegte sich zur Tür.

„Moment mal, Herr Timpe!" Böhni strich sich über das schüttere Haar.

„Ich bin verabredet, Genosse Hauptmann! Meine Braut hat Geburtstag."

„Deswegen die Blumen und die Strümpfe?"

„Da werd' ich was zu hören kriegen. Ihretwegen. Ich hatte das alles so gut verpacken lassen. Schnüffeln können Ihre Leute, aber den ursprünglichen Zustand wiederherstellen, daran hapert es!" Wie zum Beweis streckte Timpe die Blumen und die aufgerissene Strumpfpackung Böhni entgegen.

„Sagen Sie Ihrem Fräulein Braut, warum das Geschenk nicht ganz so propper verpackt ist. Ich glaube, sie wird Verständnis dafür zeigen, Herr Timpe."

„Sie haben gut reden. Entweder Sie sind schon ewig verheiratet oder gar nicht!"

Böhni winkte ab. Timpe nahm dies für Zustimmung, die Pförtnerloge verlassen zu dürfen, schoss gleich Richtung Ausgang davon und prallte auf Leutnant Heise. Heise blickte fragend zu Böhni hinüber. Der Hauptmann schüttelte den Kopf. Ärgerlich ließ Timpe sich zur Sesselgruppe an der Stirnwand des Foyers abschieben. Neben einer jungen Frau fiel er in die Polster. Wütend warf der Kellner Blumen und Strumpfpackung auf den flachen Tisch. Alles Mache, dachte Böhni. Während er um den Schreibtisch herumging, fielen ihm Timpes letzte Worte ein. Ewig verheiratet. Das wäre er. Vielleicht, wenn Margot nicht vor acht Jahren gestorben wäre. Krebs. Damit hatten beide das letzte halbe Jahr gelebt, mit dem Wissen um das bevorstehende Ende. Es war eine Zeit, in der Böhni sich wie ein alter Mann fühlte, gelähmt durch einen unbezwingbaren Druck auf Herz und Hirn. Als alles vorbei war, dauerte es lange, ehe Böhni seine Arbeit so versehen konnte, dass er mit sich zufrieden war. Von Mängeln war vorher zwar nie die Rede gewesen, keiner der Vorgesetzten hatte jemals einen Vorwurf geäußert, ihr Aufatmen bezeugte aber, dass sie froh waren, als Böhni wieder halbwegs der Alte war. Und es schien allen, als wollte er die Versäumnisse vergangener Monate aufholen. Böhni hatte erkannt, dass nur die Arbeit ihm über die folgenden Jahre des Alleinseins hinweghelfen konnte. Frauen? Böhni lächelte. Wo sollte er sie kennen lernen? Ihm blieb ja kaum Zeit für seinen Hund. Ja, so ist das, seufzte Böhni. Andere Leute haben Familie, Kinder. Er hatte einen Jagdspaniel und eine aufreibende Arbeit, die keine Rücksicht darauf nahm, dass vor acht Jahren Margot Böhni die Augen für immer schloss ...

„Fräulein Langneder!" Böhni winkte mit der Hand. Ehe die junge Frau sich erhob, sprang Bernhardy aus dem Sessel und eilte auf Böhni zu.

„Sie müssen entschuldigen, Genosse. Aber ich habe auf der Werft Bereitschaftsdienst. Lässt sich denn diese lange Wartezeit nicht umgehen?"

„Tut mir leid, Herr Doktor. Die ersten Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Bitte, gedulden Sie sich einen Augenblick."

„Aber ich kann Ihnen doch sowieso nicht helfen. Ich war die ganze Zeit hier unten. Habe aufs Taxi gewartet. Herr Kreigenbrink wird es Ihnen bestätigen. Nicht wahr, Herr Kreigenbrink?" Zustimmung fordernd, sah Dr. Bernhardy zur Sesselgruppe hinüber.

Steif wie eine Holzpuppe saß der alte Kreigenbrink dort. Wie verloren wirkte seine dürre Gestalt zwischen den protzigen Sitzgelegenheiten. „Das ist wohl wahr!", trompetete Kreigenbrink.

„Herr Doktor!", wehrte Böhni ab.

Aber Bernhardy schüttelte den Kopf. „Wir haben oben etwas getrunken. Deshalb wollte ich nicht mit meinem Wagen fahren. Und weil das Taxi auf sich warten ließ, bin ich mal schnell zur Toilette hochgegangen. Dort habe ich Herrn Scherings Bruder getroffen. Zusammen sind wir zum Fahrstuhl … Weil dieser nicht mehr da war, begaben wir uns sofort ins Erdgeschoss. Ich veranlasste dann Scherings Abtransport ins Krankenhaus. Bitte, mehr können Sie von mir nicht erfahren." Bernhardy holte heftig Luft. Seine Erregung schlug sich in Atemnot nieder.

„Ich muss Sie trotzdem bitten, Platz zu nehmen, Herr Doktor Bernhardy!"

„Unglaublich, was man über sich ergehen lassen muss! Bin ich ein Verbrecher, dass ich hier hocken soll? Vielleicht brauchen auf der Werft kranke Menschen dringend meine Hilfe. Sie können mich dort und zu Hause jederzeit erreichen ..." Bernhardy schnappte wieder nach Luft. Unsicher blickte er in die Runde. Ihm war der Faden ausgegangen.

„Ich werde dringend auf einer Feier erwartet!", schaltete sich Timpe ein. „Die Leibesvisitationen haben wir über uns ergehen lassen. Die Marken wurden anscheinend nicht gefunden. Also was sollen wir noch hier? Ich kann nur voll und ganz Herrn Doktor Bernhardy zustimmen, dass ..."

„Ach, seien Sie doch still!", rief Bernhardy durch das Foyer. „Mit Ihnen mache ich mich nicht gemein. Wer seine Gäste übervorteilt, kommt sehr schnell in den Geruch, auch andere Dinge zu tun!"

„Dafür habe ich mich entschuldigt, Herr Doktor. In aller Form. Ein Rechenfehler."