Impressum

Dietmar Beetz

Gift für den Herrn Chefarzt

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-133-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

 

Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck

 

© 2012 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de

 

G., dem besseren Arzt

PROLOG

Die Klinik war alt, ehrwürdig und winklig. Erbaut zu Zeiten von Robert Koch, hatten an dem Komplex seither Generationen herumgebastelt. Allen war es um etwas gegangen, das später "Optimalvariante" hieß, und allesamt hatten sie nebenbei ein günstiges Umfeld für einen Mord geschaffen.

Der Mann, der an diesem Abend hier einstieg, kannte sich aus. Er wusste, welches Kellerfenster nicht verriegelt war, wusste auch, wie es drinnen weiterging und was es zu beachten galt. Nur mit der Zeit - mit der Zeit hatte er sich verrechnet.

Es war jetzt 21 Uhr 39. Zu spät, dachte der Mann. In sechs Minuten glucken sie im Stationszimmer, und fünf, sechs Minuten brauche ich wenigstens.

Vorsichtig drückte er an den Fensterrahmen, der klemmte. Absatzgeklapper auf dem Gehsteig ließ ihn stocken, und einen Moment meinte er, Splitt oder Sand unter einer Sohle knirschen zu hören. Er hielt den Atem an. - Nur die Schritte auf der Straßenseite, hastig die Stufen zum Haupteingang hinauf.

Sicher Ramona, die's wieder mal verpennt hat, dachte der Mann, und ein Grinsen überzog sein Gesicht. Es hielt sich nicht lange. Wenn's Schwester Ramona so eilig hatte, war bestimmt schon das Spätdienstgeschwader im Anmarsch, und er hatte kaum mehr eine Chance.

Er verstärkte den Druck auf den Rahmen. Vergebens. Sollte einer der Heizer oder sonst wer das Fenster verriegelt haben?

In einem Anflug von Panik nahm der Mann die andere Hand zu Hilfe, drückte oben und unten, berührte mit den Handballen die staubige Scheibe. Da - endlich! - ging der Flügel auf. Ein Blick über die Schulter, während das rechte Bein bereits in der Öffnung verschwand...

Bewegte sich drüben bei den Garagen nicht jemand?

Jetzt tauchte der Schemen ein in die Schwärze dort.

Du siehst Gespenster, sagte sich der Mann.

Er setzte den rechten Fuß auf den schrägen Sockelabsatz, zog das linke Bein nach, schloss das Fenster, verriegelte es und sprang in den Gang.

Im Heizungskeller fuhr eine Schaufel scharrend über Beton. Dann Geräusche, wie sie beim Schippen entstehen, und das Klirren von Stahl...

Der Mann war inzwischen den Gang entlanggelaufen. Er bog erst links, dann rechts ab, hastete ein paar Stufen hoch. Hinter einer Tür, am Anfang eines der beiden Treppenflure, lauschte er kurz.

Nichts, nur das Gewummer im eigenen Brustkorb. Vielleicht kam er dem Geschwader doch noch zuvor.

Er hatte sich zum Hauptaufgang gewagt. Hier ging es direkt zu den Männerstationen. Von Nachteil war, dass sich schräg gegenüber die Pförtnerloge befand; aber man musste schon Pech haben und sich ziemlich doof anstellen, um von dort aus bemerkt zu werden.

Dennoch atmete der Mann, als er den Treppenabsatz erreicht hatte, auf. Nun war er außer Sichtweite der Pförtnerin. Noch mal zehn Stufen, und er würde vor der Tür zur Station Männer I stehen, und mit etwas Glück...

Das aber schien ihn plötzlich verlassen zu haben. Während er die letzten Stufen nahm, wurden über ihm Stimmen laut, und im Gang, der von den Frauenstationen herüberführte, flammte Licht auf. - Das Geschwader, die Schwestern vom Spätdienst und der Bereitschaftsarzt, unterwegs zur Besprechung.

Der Mann drückte auf die Klinke. Jetzt kam der heikelste Moment. Falls Schwester Ilse oder ein Patient auf dem Korridor war und hersah, brauchte man schon eine Tarnkappe, um nicht entdeckt zu werden.

Ein Blick nach rechts. - Verdammt, dort stand jemand, vermutlich Schulz-Nauhain, der Querkopf, neben ihm die Schwester. Die beiden hatten zwar den Rücken hergekehrt, aber an ihnen vorbeikommen, unbemerkt, das war unmöglich.

Das Geschwader im Nacken, blieb nur die Flucht nach vorn. Fünf Schritt, und der Mann befand sich, dem Einblick vom Korridor her entronnen, in einer Nische, wo es dämmrig war und eine Trage auf einem fahrbarem Gestell ihren Platz hatte. Er duckte sich, kroch zwischen das Gestänge.

Da erschien auch schon das Geschwader in der Tür: vornweg die Schwestern von anderen Stationen, dahinter Beyer, der Arzt in Bereitschaft. Der Mann erkannte ihn an den Jeans und den Sandalen, auch am zögernden Schritt. - Ob Beyer auf Ramona wartete?

Richtig, da kam sie angeklappert, die Hände - soviel war unter der Trage auszumachen - noch damit beschäftigt, den Kittel zurechtzustreichen. Kein schlechter Anblick, wie diese Ramona im Vorbeiklappern die Partie oberhalb der Knie zur Geltung brachte!

Dann aber verging dem Mann in der Nische das Grinsen. Zwischen dem Gestänge zu hocken, war an sich kein Vergnügen; zur Qual wurde es durch den Juckreiz, der zunahm, je länger die Besprechung dauerte.

Verdammtes Ekzem, verdammte Hautklinik, verdammte Übergabe!

Gewiss, so eine Zusammenkunft musste sein, und eigentlich hatte der Mann die Pünktlichkeit, mit der sie erfolgte, immer bewundert. Er verstand etwas von Präzision, wusste auch Tradition zu schätzen, und da es um das Wohl der Patienten ging, war er im Prinzip durchaus dafür, dass sich die Schwestern vom Spätdienst allabendlich drei Viertel zehn da drinnen versammelten, um dem Bereitschaftsarzt und der Nachtschwester Bericht zu erstatten. - Sollten sie, verdammt noch mal; Hauptsache, es war bald vorbei!

Gewöhnlich dauerte die Besprechung fünf, sechs Minuten. - Das ist heute vorgefallen, das steht an für die Nacht, nach diesem Patienten und dieser Patientin muss geschaut werden... Noch Fragen oder Probleme?

Die schien es ausnahmsweise zu geben. Der Mann erkannte die Stimme von Schwester Ilse, erfasste den besorgten Tonfall, verstand sogar, dass es um Schulz-Nauhain ging, jenen Patienten vorhin auf dem Korridor.

Dieser Querkopf! dachte der Mann, und er begann sich wütend zu kratzen. Wenn jeder, der mal falsch behandelt worden ist, gleich verrückt spielen wollte...

Der Juckreiz steigerte sich, bis er fast unerträglich war, und der Mann, zerknirscht, weil er sich hatte gehen lassen, biss die Zähne zusammen. Er spürte Schweiß auf der Haut, Schweiß, der wie Feuer brannte, und fürchtete sich plötzlich vor der Nacht, vor neuen Juckattacken, davor, dass er die Beherrschung verlieren und durchdrehen könnte wie neulich Schulz-Nauhain. Jetzt ein paar Pillen, dachte der Mann, der Verzweiflung nah. Wenn das so weitergeht, kann es ewig dauern, eh ich an das Zeug rankomm, und am Ende muss ich...

Geräusche unterbrachen seine Gedanken. Schritte - endlich! Die Besprechung war vorbei; die Schwestern gingen, hastig wie immer, um sich umzuziehen und auf den Heimweg zu machen.

Ramona und Beyer waren im Stationszimmer zurückgeblieben. Die Schwester hatte sich dort in Bereitschaft zu halten, aber das Zimmer der Ärzte befand sich ein Stockwerk höher, auf Station Männer II. - Wollte sich Beyer etwa bei Ramona einnisten?

Sie schien von dieser Aussicht nicht sonderlich erbaut, schien heute überhaupt etwas vergnatzt zu sein. Unwillig - die Stimme, die herdrang, der Tonfall, der in der Nische zu deuten war. Sie hält ihn auf Distanz, um ihn noch schärfer zu machen, dachte der Mann und fuhr sich über das brennende, schmerzende Gesicht.

Im nächsten Moment erstarrte seine Hand. Ramona war, im Scherz oder ernsthaft, aus dem Zimmer geflüchtet - Beyer hinter ihr her. Vor der Nische bekam er sie zu fassen, rang mit ihr, drängte sie an das Gestell.

"Bist du verrückt? Wenn ein Patient was mitkriegt! Oder der Chef!"

"Soll er doch!", stieß Beyer hervor. "Dann wird ihm hoffentlich klar, dass er seine Pfoten von dir zu lassen hat." Als wolle er einen Alleinanspruch bekräftigen, griff er nach ihrem Kittelsaum.

Sie schlug seine Hand weg, überraschend heftig. "Wennschon, hat er dasselbe Recht wie du. Sogar noch eher ein Recht, weil er geschieden ist."

Das schien ihn zu treffen. Er ließ von ihr ab, wich zurück. "Du hast also, hast auch mit ihm...?"

Da sprang sie ihm an den Hals. Sie sprang tatsächlich; der Mann, geduckt unter der Trage, sah, wie Ramona auf die Zehen schnellte, wie sie auf den Zehen stand, hörte ihre Stimme und die Stimme von Beyer - leidenschaftliches, beschwörendes Geflüster.

"Nichts ist, Hardy, gar nichts mit ihm."

"Ich bring ihn um, wenn er dich nicht in Ruhe lässt, ich mach ihn kalt!"

"Ich will doch nur dich, ehrlich, nicht so einen Knacker!"

"Wenn er noch mal die Hand nach dir ausstreckt, passiert's."

Irgendwo knarrte etwas. Die Tür zur Station, die spaltbreit offen stand, bewegte sich ein Stück, hielt an. Fiel nicht ein Schatten in den Spalt? Jetzt war er weg.

Hatten Ramona und Beyer auch was bemerkt?

Die beiden ließen ab voneinander, flüsterten, für den Mann in der Nische kaum mehr verständlich. Sie wirkten auf ihn plötzlich nervös, wie Verschwörer in Eile. - Oder kam dieser Eindruck vom Juckreiz, der wieder überhand nahm?

"Geh!", drängte die Schwester. "Bitte, geh jetzt!"

"Du kommst doch?"

"Erst muss ich den Tee für ihn kochen und..."

"Der und sein Tee!", fuhr Beyer auf, und der Mann unter der Trage biss sich auf die Lippen. Tee, dachte er, der verdammte Tee für den Chef! Er fühlte sich kurz vor dem Durchdrehen.

ERSTES KAPITEL

1

Der Anruf kam gegen 23 Uhr 15. "Ein Fall für die K" - so der Mann in der Vermittlung. Dann knackte es im Hörer, und bei den nächsten Worten, die Leutnant Hauboldt erfasste, wurde ihm klar, dass nun an Schlaf nicht mehr zu denken war.

"Moment", rief er, "Moment! Wenn's geht, bitte der Reihe nach! Wer ist ermordet worden, wie hieß der...?"

"Grotsche, Doktor Grotsche, Chef der Hautklinik."

Hauboldt notierte den Namen und ließ sich auch den Namen des Mannes, der auf ihn einsprach, buchstabieren. "Ebenfalls Doktor?". erkundigte er sich.

"Ja. Das heißt - nein." Zum ersten Mal stockte Beyer.

"Wie denn nun?"

"Ich bin... Dipl.-Med. bin ich, Diplom-Mediziner; ich habe gerade, als es passiert ist, an meiner Doktorarbeit geschrieben. Im Zimmer für den Arzt vom Dienst."

"Verstehe. Und als Arzt vom Dienst haben Sie den Tod festgestellt?"

"So ist es."

"Um welche Todesursache handelt es sich Ihrer Meinung nach?"

"Um Vergiftung. Wahrscheinlich Zyankali."

"Und berührt, am Tatort verändert...?"

"Ich werde mich hüten!"

"Gut, Herr Beyer. Wir kommen. Bis gleich!"

Hauboldt blieb noch einen Augenblick auf dem Rand der Liege hocken. Er hatte die Jacke über die Stuhllehne geworfen, den Gürtel gelockert und nur die Sandalen und die Socken ausgezogen. Trotzdem war er sofort in tiefen Schlaf gefallen.

Mist, dachte er jetzt. Nun werden sogar die Ärzte umgebracht, die Helfer der Menschheit! Falls es überhaupt ein Mord war und dieser Diplom-Mediziner nicht bloß blinden Alarm ausgelöst hat. Wenn ich plötzlich vor der Leiche von Schmidt stehen würde... Die Vorstellung hatte etwas Befremdendes. Hauboldt stockte. - Wie kam er auf so eine Idee?

Er rief die Vermittlung an und ließ sich mit der Wohnung von Oberleutnant Schmidt verbinden. Dabei wurde ihm bewusst, dass er drauf und dran war, sich in Beyer hineinzuversetzen. Die Sache hatte ihn also bereits gepackt.

"Tut mir leid", sagte er zu Schmidt, "aber auch heute wird's nichts mit der Nachtruhe. Ein Mord, wie's scheint. In der Hautklinik hat man den Chef umgebracht, einen Doktor Grotsche, vermutlich mit Zyankali."

"Grotsche?", fragte Schmidt, und Hauboldt meinte zu sehen, wie sich die Stirn seines Vorgesetzten in Falten legte. "Doktor Grotsche? War der Chef der Hautklinik nicht ein gewisser Vogelsang? Oder Vogelfang?"

Hauboldt empfand sein altbekanntes Unbehagen. "Keine Ahnung", sagte er. Ihm war, als sei ihm eine Wissenslücke nachgewiesen worden.

"Na, ist ja auch egal", erwiderte der Oberleutnant. "Jedenfalls war's ein ulkiger Name, einer, der zu dem Alten gepasst hat. Und der Nachfolger, sagst du, wurde ermordet?"

"Nicht ich sag das. Der Arzt vom Dienst, der mich informiert hat, ein Arzt der Klinik, wo es passiert ist - der war der Meinung, es sei Mord; und ob es sich um den Nachfolger handelt..."

"He, he! Du hast wohl schlecht geschlafen? Wann holst du mich ab?"

"Bin schon unterwegs."

2

Die Hautklinik lag am Rande der Stadt. Kam man vom Zentrum her, fiel der Blick plötzlich auf ein markantes, die Umgebung überragendes Gebäude: zwei Flügel und ein Mitteltrakt mit gedrungenem, turmförmigem Aufsatz. Dazu die Erker auf den Satteldächern, deren Schindeln matt im Mondschein glänzten...

"Früher hieß der Bau 'die Tripperburg'", sagte Schmidt. "Anfang der fünfziger Jahre, als ich so alt war wie du und noch mit Streife gegangen bin, hatten wir hier oben beinah jede Woche zu tun. Zeiten waren das damals!"

Hauboldt, am Lenkrad des Dienstwagens, knurrte. Immer dasselbe, dachte er. Als sei es meine Schuld, dass wir jetzt zweiundsiebzig schreiben und ich nicht mit Streife geh wie er in seinen goldenen fünfziger Jahren.

Er bog ab von der Straße und steuerte den Wagen, von Schmidt dirigiert, um den rechten Seitenflügel herum.

"Hier haben wir auch damals immer geparkt", sagte der Oberleutnant. "Und dort unterm Dach - dort war die geschlossene Station, der 'Himmel' für die 'Engelchen', die Mädchen mit ha-we-Ge, die sich der Kontrolle entzogen hatten und von uns hinterm Bahnhof oder in ihren Stammkneipen..."

"Ich weiß", fiel ihm Hauboldt ins Wort. "Ich kenne das alles von der Ausbildung her."

Schmidt erwiderte nichts und lächelte nachsichtig.

Sie gingen die Zufahrt zurück, schritten über Splitt und dann auf Steinplatten zum Haupteingang. Im ersten Stock des linken Flügels waren mehrere Fenster erhellt. Die übrige Fassade stand schwarz im Mondschatten.

Jetzt mit Ulla in der Mansarde liegen! dachte Hauboldt. Oder, wennschon, über Land gehn. In so einer Nacht einen Menschen umzubringen!

Auch Schmidt, der Oberleutnant, war nachdenklich geworden. Sein Gesicht, rund und hell wie der Mond, wirkte einfältig. Beschäftigten ihn noch immer Erinnerungen, Abschweifungen, von denen er behauptete, sie gehörten dazu; einen Fall gehe man am besten vom Umfeld her an?

Steinstufen, auf denen die Schritte hallten; eine mehrteilige, verschlossene Haustür... Schmidt drückte auf einen Klingelknopf. Eine Weile war nur Motorengeräusch zu hören, ein einzelnes Auto auf der nahen Straße.

Hauboldt, ungeduldig geworden, wollte ein zweites Mal klingeln, als drinnen Licht anging. Durch das Glas der Tür sah er, wie eine Krankenschwester herkam, um aufzuschließen. Die Umrisse ihrer Gestalt mit dem Häubchen und dem kurzen Kittel erschienen ihm viel versprechend.

Was er dann aus der Nähe sah, war mehr als eine Bestätigung. Beeindruckt musterte er das Mädchen, das die Tür hinter ihnen zuzog und dabei ohne Unterbrechung redete. Schneewittchen, dachte er, aber ein Schneewittchen mit Drum und Dran, und davon nicht zu knapp.

Die Kriminalisten hatten ihre Ausweise gezeigt und ihre Namen genannt; die Schwester schien es überhaupt nicht bemerkt zu haben. Gut, dass sie kämen, sagte sie, als könnten nur sie und sonst niemand Einlass erbitten, und nun erzählte sie bereits zum zweiten Mal, wie schrecklich es gewesen sei: der Chef - ganz blau im Gesicht, und die Krämpfe!

"Da haben Sie ihn also sterben gesehn?", fragte Schmidt, während er sich im Vorraum umsah.

Die Schwester nickte, beflissen wie ein Schulmädchen. Hauboldt fiel auf, dass ihre Lippen zuckten. Sie war von einem Augenblick zum anderen verstummt.

Schmidt richtete seine Aufmerksamkeit auf die Pförtnerloge, die sich rechts neben einem Fenster befand, und erkundigte sich: "War er ihr erster Toter?" Er klopfte dabei an die dunkle, spiegelnde Scheibe.

Die Schwester schwieg verwirrt. Hilfe suchend schaute sie zu Hauboldt. Der verdeutlichte ihr die Frage des Oberleutnants, wobei ihm ein Grinsen unterlief.

"Nein, nicht der erste", antwortete sie. "Als Krankenschwester ist man ja öfter dabei, wenn jemand stirbt, schon während der Ausbildung. Aber er war doch der Chef, und ich - ich hatte ihm den Tee gebracht."

"Den Tee mit dem Gift?"

"Ja. Das heißt, ich weiß nicht. Ich kann mir nicht erklären, wie es passiert ist, und auch die anderen, Beyer und der Oberarzt - wir alle stehen vor einem Rätsel."

Inzwischen war Schmidt an einer Flügeltür mit Glasfüllung angelangt. Dahinter zeichnete sich im Licht einer Deckenbeleuchtung verschwommen eine Halle ab. Schmidt hielt der Schwester die Tür auf und sagte in seinem verbindlichsten Ton: "Um das Rätsel zu lösen, deshalb sind wir ja hier."

Hauboldt folgte in die matt erhellte Halle. Links las er auf einem Schild: POLIKLINISCHE ABTEILUNG, rechts bemerkte er einen Korridor, der sich im Dunkeln verlor; LABOR und TESTABTEILUNG war neben dem Eingang zu lesen. Türen im Dämmer, Winkel und Nischen mit Türen; Türen und Pforten, wohin man sah.

Ein unübersichtliches Haus, sagte sich Hauboldt, und auf der Treppe, im Blick ein Paar gebräunter, flaumig behaarter Beine, dachte er: Da herrscht mehr Übersicht, alles, was recht ist.

Im ersten Stock, vor der Tür zur Station Männer I, blieb Schmidt stehen und wies zu einem Bild an der Wand.

"Der Professor", sagte die Schwester. "Professor Vogelsang, unser ehemaliger Chef."

"Hast du gehört?", wandte sich Schmidt triumphierend an Hauboldt.

Das Porträt zeigte einen Mann mit hoher Stirn und großen Augen. Die Augen waren das Bestimmende. Ernst und mit einiger Trauer, schien es, schauten sie den Betrachter an.

"Von Ulk keine Spur", sagte Hauboldt zu Schmidt.

"Und doch war er ein lustiger Mann", beharrte der Oberleutnant. "Lebt er eigentlich noch?", erkundigte er sich bei der Schwester.

"Er ist vor zwei Jahren gestorben. Leider. Das Herz..."

"Und Doktor Grotsche war sein Nachfolger?"

"Nicht direkt." Die Schwester, die Hand schon auf der Klinke, senkte die Stimme. "Bis Januar hatten wir Doktor Marburgk, den Ersten Oberarzt, als kommissarischen Chef. Er ist drin; Beyer hat ihn gleich angerufen."

Die beiden Ärzte kamen den Kriminalisten entgegen. Der eine, jüngere, trug einen weißen Kittel, der andere einen grauen Anzug. Auch sein schütteres Haar und selbst sein Gesicht waren grau.

"Marburgk", sagte er und gab Schmidt und Hauboldt, die sich gleichfalls vorstellten, die Hand.

Sie war trocken und weich, anders als die feste, zupackende, schweißfeuchte Hand von Beyer.

"Kommen Sie bitte!" Der Oberarzt ging voran - ein Hausherr, der mit Würde und Selbstverständlichkeit führt. Vor einer Tür in der Mitte des Korridors, die sich in nichts unterschied von den anderen Türen dieser Krankenstation, blieb er stehen. "Bitte!"

Hauboldt ließ Schmidt den Vortritt. Von der Schwelle aus umfasste er mit dem Blick Bücher und Mappen in einer Schrankwand, ein Buch und ein Tablett mit Geschirr auf einem Schreibtisch, ein Tischchen und zwei Sessel in einer Ecke...

Dem Toten auf der Liege wandte er sich, wie vor ihm der Oberleutnant, zuletzt zu.

Mittelgroße Gestalt um die Vierzig, glattes, fahlblondes Haar, hageres Gesicht mit entspannten, dennoch harten Zügen... Ein Dutzendtyp, vielleicht nicht unansehnlich, dachte Hauboldt, froh, zu diesem Chefarzt keinen Steckbrief verfassen zu müssen.

Inzwischen hatte sich Schmidt an den Schreibtisch herangepirscht. Das Geschirr auf dem Tablett ließ er unbeachtet; die Hände auf dem Rücken, beugte er sich über das Buch, das daneben aufgeschlagen lag - quer auf den Seiten ein Schullineal und drei Farbstifte.

"'Handbuch der Hautkrankheiten', Band zwei", sagte Dr. Marburgk, der Oberarzt, von der Tür her. "Erweitertes Facharztwissen", fügte er im selben nüchternen Tonfall hinzu.

Schmidt schaute auf. "Haben Sie nachgesehen, darin geblättert?"

Marburgk lächelte. "Nicht nötig. So was erkennt man im Vorbeigehn oder von hier aus."

Schmidt nickte und schnupperte kurz an der Tasse - das Zeichen für Beyer, der neben dem Oberarzt stand und jede Bewegung der Kriminalisten misstrauisch verfolgte. "Zyankali!", stieß er hervor.

Einen leichten Geruch nach bitteren Mandeln hatte Hauboldt bereits beim Eintreten bemerkt. Auch die hellroten Flecken am Hals des Toten waren ihm nicht entgangen, und hatte die Schwester nicht von Krämpfen geredet? - Alles Zeichen einer Zyankalivergiftung, und doch ließ Schmidt sich mit einer Erwiderung Zeit.

Er stand jetzt hinter dem Schreibtisch, breit und gedrungen, musterte die Schwester und die beiden Ärzte, musterte sie und schwieg. Die drei, ohnehin voller Erwartung, schienen zu erstarren, und selbst Hauboldt, der die Taktik des Oberleutnants kannte, wartete mit zunehmender Spannung auf das nächste Wort.

"Zyankali..." Es kam ganz beiläufig heraus. "Man wird's bestätigen. Wie aber" - die Stimme stieß zu -, "wie kommt Zyankali in seinen Tee?"

Diesmal wollte die Rechnung nicht aufgehen. Oder doch?

Die drei an der Tür, nach den ersten Worten entspannt, hielten die Luft an, und nun blieb der Oberleutnant am Ball.

"Ihre Meinung, Doktor Marburgk: Liegt Suizid vor?" Der Graugesichtige wiegte den Kopf. "Wohl kaum."

"Also Mord", schloss Schmidt. "Und woher das Gift, Herr Doktor?"

"Woher soll ich das wissen?"

"Und Sie, Herr Beyer?"

"Ich?" Der Diplom-Mediziner warf einen Blick zu der Schwester. "Sie tun ja gerade, als wären wir..., als käm jemand von uns in Frage!"

"Was natürlich kompletter Blödsinn ist, nicht wahr, Schwester Ramona?"

Sie riss die Augen auf, holte tief Luft, brachte aber kein Wort heraus.

In der Stille, die eintrat, meinte Hauboldt Geräusche zu hören. Er sah, wie Schmidt zu einer Attacke ansetzte, machte ihm ein Zeichen, bedeutete der Schwester und den Ärzten, ihn vorbeizulassen, stieß die angelehnte Tür auf.

"Schön", hatte der Oberleutnant zögernd begonnen. "Sie schweigen also, obwohl..." Er brach ab.

Auf dem Korridor wurden Schritte laut, und Gemurmel drang her. Hauboldt stand noch immer in der Tür, blickte nach rechts, nach links. Was ging hier vor?

3

Es waren Schröder und Ludwig, Spezialisten für Spurensicherung, die Hauboldt vor der Abfahrt benachrichtigt hatte. Dass sie jetzt am Tatort erschienen, war zu erwarten gewesen, nicht aber, dass sie so daherkamen. Und erst der Auflauf!

Noch vor den beiden Genossen - Oberleutnant der eine, Leutnant der andere -, noch vor ihnen hatte sich Hauboldt fünf, sechs Gestalten gegenübergesehen. Patienten, kein Zweifel, Männer zwischen siebzehn und siebzig, alle in knöchel- oder wadenlangen Kitteln, drei mit gestreiften Bademänteln darüber. Unschwer zu erkennen, dass sich die Männer ertappt fühlten; nur das Gesicht eines Alten, maskenhaft starr, verriet keine Regung.

Genug gelauscht, ab in die Kojen! So wollte Hauboldt schon lospoltern; da bemerkte er, wie sich schräg gegenüber eine Klinke bewegte, eine Tür sachte schloss.

Diese Bewegung - sie geschah im selben Moment, als Schröder und Ludwig, beladen mit ihren Geräten, gerade die Station betreten hatten. Im Zimmer hinter Hauboldt war Schmidt eben in seiner neuen Attacke stecken geblieben, und die Lauscher auf dem Korridor wappneten sich offenbar für ein Donnerwetter.

Das sollte ausbleiben; Hauboldt hatte anderes vor. Er räumte erst einmal die Schwelle, machte für das Nahe liegende Platz: stellte sich zu den ertappten Patienten, damit sich keiner von ihnen verkrümeln konnte, und behielt den Korridor, speziell jene Tür, im Auge.

Es war wie im Theater, wenn man den Text kennt; zunächst lief alles, wie Hauboldt erwartet hatte. Schmidt begrüßte Schröder und Ludwig, stutzte. "Wie seid ihr denn hier reingekommen?"

"Wie?" Schröder, bekannt für seine Derbheit, brummte: "Natürlich durch's Klofenster."

Schmidt sah zu Ramona, die sich wie ein kleines Mädchen erschrocken an den Mund fasste.

"Hab ich etwa...? Die Fragerei! Und durcheinander, wie ich war... "

Stimmt, erinnerte sich Hauboldt. Bei all dem Gerede im Raum neben der Pforte hat sie das Abschließen vergessen.

"Die Haustür war offen", sagte Ludwig, korrekt wie immer, "und diese Station lag am Weg. Außerdem konnte man vom Gehsteig Licht hinter vier Fenstern der ersten Etage sehn und sich ausrechnen, wo's ist."

Das war also geklärt. Schröder und Ludwig verschwanden im Zimmer des toten Chefarztes. Schwester Ramona klapperte los, um die Hautür abzuschließen, und Hauboldt nahm Anlauf für seinen Vorstoß.

Er hatte gedacht, Schmidt werde sich nun die Patienten vornehmen. Der aber tat, als bemerke er sie nicht, und wandte sich an Dr. Marburgk: "Sagen Sie mal, Herr Oberarzt..."

"Moment!", fiel ihm Hauboldt ins Wort. Schmidt führte zwar die Untersuchung, doch wollte er hoffentlich nicht vor Publikum ermitteln. "Die Patienten..."

"Schick sie ins Bett!", sagte Schmidt.

"Ein Vorschlag, Genosse Oberleutnant..."

Wenn Hauboldt dienstlich wurde, hatte Schmidt Grund genug, aufzuhorchen. Meist war es in solchen Fällen auch angebracht, ein Stück beiseite zu gehen und die Stimme zu senken. So jetzt, wobei Schmidt erst den Kopf wiegte, etwas erwiderte und dann nickte.

"Gibt's hier einen Raum, der zur Zeit nicht genutzt wird?", fragte er Marburgk.

"Ein Raum, nicht genutzt?" Der Oberarzt schien zu überlegen. "Vielleicht das Schmierzimmer, obwohl..."

"Schmierzimmer?", erkundigte sich Schmidt.

"Der Raum, wo behandelt wird, wo Pasten, Farbstoffe und dergleichen zur Anwendung kommen." Er wies zu der Tür links neben jener, die vorhin so vorsichtig geschlossen worden war.

"Wunderbar!", rief Schmidt. Und zu den Patienten: "Meine Herrn, bitte ins Schmierzimmer!"

Die Männer hatten noch mit der ersten Verblüffung zu tun, da verschaffte ihnen Hauboldt die zweite. Er ging, als wolle er sie ins Schmierzimmer führen, voran, riss aber die Tür daneben auf. Der Protest, den der maskengesichtige Alte schon angestimmt hatte, brach ab.

Hauboldt registrierte es mit Genugtuung und fixierte dabei die Horcher, die er überrascht hatte. Es waren zwei in einem Zweibettzimmer: ein etwa dreißigjähriger Mann und ein Bürschchen von höchstens fünfzehn. Sie standen noch an der Schwelle, starr wie Figuren zum Thema "Ertappt".

"Ins Schmierzimmer, auch Sie beide, bitte!"

Das wirkte wie der Funke im Pulverfass - eine Explosion, die Hauboldt einkalkuliert, ja beabsichtigt hatte. Wer, fragte er sich, wird in die Luft gehn, wer sich auffällig bremsen, wer überhaupt wie reagieren?

Mit den beiden heimlichen Lauschern waren es acht ertappte Horcher - acht Patienten, von denen Schmidt und Hauboldt einen jeden beobachten mussten. Dazu die beiden Ärzte und die Schwester, die zurückgekommen war...

Schmidt hatte inzwischen die Tür zum Schmierzimmer geöffnet. Stumm - die Aufforderung, einzutreten.

Oder gingen seine Worte unter im Gemurr, im ersten Protest?

Die beiden heimlichen Lauscher, fiel Hauboldt auf, hielten sich zurück. Der ältere wirkte benommen, der jüngere nervös. Entweder standen sie noch unter einer Art Schock, oder sie legten sich eine Taktik zurecht.

Falls sie oder einer von ihnen mit dem Mord überhaupt was zu tun hat, schränkte Hauboldt in Gedanken ein. Er war sich jetzt nicht mehr so sicher wie vorhin, dass der Täter unten den Patienten zu suchen sei. Aber stand nicht auch der Verdacht von Schmidt gegen Beyer und Schwester Ramona auf wackligen Beinen?

Die beiden - Hauboldt fiel es ebenfalls auf - befanden sich abseits. Beyer verfolgte finster das Treiben vor dem Schmierzimmer oder tat wenigstens so; die Schwester redete flüsternd und offenbar besorgt auf ihn ein, bis eine unwillige Bewegung von ihm sie zum Verstummen brachte.

Weshalb dieser Unmut und die Besorgnis? War vielleicht doch was an Schmidts Verdacht, oder wollte sich Beyer einfach nichts von dem Streit entgehen lassen?

Anfangs hatten sich Schmidt und drei, vier Patienten ein Wortgeplänkel geliefert. Dann griff Dr. Marburgk ein, bat, der Polizei bei der Arbeit behilflich zu sein. Die Patienten verstummten - alle bis auf den Alten mit dem maskenhaft starren Gesicht.

"Sie", stieß der hervor, "Sie und Ihresgleichen! Nun auch noch Mord, Mord wie im Mittelalter! Ja, wenn's um die Pfründe geht..."

"Das ist doch..." Dr. Marburgk war fahl geworden. Er rang um Beherrschung.

"Es ist die Wahrheit, Herr - Oberarzt. Oder jetzt wieder kommissarischer Direktor? Ging's um den Chefarztposten und die Privatsprechstunden; war das der Grund?"

Dr. Marburgk bekam sich rasch in die Gewalt. Er schüttelte den Kopf, lächelte sogar. "Ihr Elend, Herr Schulz-Nauhain, erklärt zwar manches, bei aller Nachsicht aber - Sie sind ja nicht bei Verstand!"

Etwas im Gesicht des Patienten schien sich verschoben zu haben. Verändert - auch die Stimme, die ohnehin seltsam klang: wie bei starkem Schnupfen. "Nicht bei Verstand? Verrückt sind hier andere. Krähen, die einander die Augen aushacken..."

War der Zorn verraucht, die Luft ausgegangen, oder hatte Schulz-Nauhain seine Beschuldigung variiert, den Kreis der Beschuldigten erweitert?

Er wirkte jetzt erschöpft, tastete an seinem Gesicht herum und tat ein paar schlurfende Schritte.

Schmidt stellte sich ihm in den Weg. "Ins Schmierzimmer, bitte! Es wird nicht für lange sein."

Der Versuch eines letzten Protestes und eine Geste der Resignation. Schulz-Nauhain folgte den anderen Patienten mit hängenden Schultern; er hatte nicht einmal mehr sein Gesicht in Ordnung gebracht.

"Warum sperrt ihr sie ein?", fragte Schröder. Er und Ludwig waren, unbemerkt von Hauboldt, zurück auf den Korridor gekommen. Sie hatten ihre Geräte mit.

"Seid ihr fertig?", erkundigte sich Schmidt.

"Sind wir. Und ihr hier? Was habt ihr mit den Patienten vor?"

"Ihre Zimmer von euch durchsuchen lassen", sagte Schmidt so gleichmütig wie möglich.

"Die Zimmer von einem Dutzend Personen?" Schröder guckte nicht gerade begeistert.

"Es sind nur acht Patienten", erwiderte Schmidt, "und wenn man berücksichtigt, dass sie vielleicht zu zweit oder gar zu dritt untergebracht worden sind, kommen wahrscheinlich bloß drei Zimmer zusammen. Oder, Herr Oberarzt?"

"Vier", antwortete Marburgk. "Ein Drei-, zwei Zwei- und ein Einbettzimmer. Einzeln liegt Herr Schulz-Nauhain."

"Und die übrigen Räume?", erkundigte sich Ludwig.

Schröder bedachte ihn mit einem grimmigen, Schmidt mit einem dankbaren Blick, und Dr. Marburgk gab Auskunft, so prompt wie vorher: "Zwei sind mit bettlägerigen Patienten belegt, und je ein Raum dient als Toilette, Schmierzimmer, Küche, als Stationszimmer, Untersuchungs- und Injektionsraum beziehungsweise als Unterkunft von Doktor Grotsche."

"Macht acht Räume, insgesamt also zwölf", verkündete Ludwig, und Hauboldt fügte hinzu: "Ihr könnt sie ja alle unter die Lupe nehmen."

"Warum nicht gleich den ganzen Bau?", fragte Schröder.

"Keine schlechte Idee", sagte Schmidt, "aber alles zu seiner Zeit. Was ich längst fragen wollte: Hat Doktor Grotsche, der Chef, hier gewohnt?"

"Provisorisch." Marburgk zögerte, bevor er ergänzte, Grotsche habe ein Grundstück gekauft, Bauland auf dem Herrenhügel. "Soweit mir bekannt ist, laufen bereits die Erdarbeiten."

"Verstehe", sagte Schmidt, wobei er eher nachdenklich blickte. "Ach ja, Doktor Marburgk, würden Sie bitte unsere beiden Spurensicherungsexperten zu den einzelnen Zimmern begleiten?"

"Wenn's sein muss..."

"Von einem Muss kann keine Rede sein!", rief Schmidt. "Ich dachte nur, weil Sie uns bisher so hilfreich beigestanden haben und als alter beziehungsweise neuer kommissarischer Direktor..."

"In Ordnung", sagte der Oberarzt, und zu Schröder und Ludwig: "Fangen wir an!"

"Nun zu uns!", wandte sich Schmidt an Beyer und Schwester Ramona.

Da schnarrte es, und ein Feld der Rufanlage neben der Tür zum Stationszimmer leuchtete auf.

"Das ist für mich", sagte die Schwester. "Eine Patientin auf Frauen zwei. Wahrscheinlich wieder blinder Alarm."

4

"Eine Patientin auf Frauen zwei", hatte Schwester Ramona gesagt, und Hauboldt war klar gewesen, dass Schmidt umdisponieren würde. Der Oberleutnant liebte es, solchen Anstößen zu folgen; er nannte das "beweglich sein" und verwahrte sich dagegen, dass seine Taktik als "Sich-treiben-Lassen" verkannt wurde.

"Wir kommen mit", entschied er jetzt.

"Geht denn das?", fragte Schwester Ramona.

Beyer zuckte die Schultern.

Ehe die Schwester losklappern konnte, schnarrte es wieder, und diesmal leuchtete außer einem weiteren Feld der Rufanlage eine Lampe über der Tür zum Schmierzimmer auf.

"Erst nichts", sagte Schmidt, "nun gleich zweimal was."

"Duplizität der Ereignisse", kommentierte Hauboldt.

"Wir sind kein operatives Haus", erklärte Beyer. "In der Chirurgie, beispielsweise, geht's anders rund. Nacht für Nacht."

Hauboldt war Schwester Ramona zum Schmierzimmer gefolgt. Er sah, wie sie die Rufanlage abstellte, und hörte sie fragen, was los sei; ihre Stimme, fiel ihm auf, klang sachlich, sicher, bestimmt.

"Wir haben Durst", sagte einer der Männer, und jener Dreißigjährige, der heimlich gelauscht hatte, erklärte grinsend: "Wir kommen vor Durst bald um."

"Ganz so schlimm wird's schon nicht sein, Herr Meinhold. Ich hole den Tee, der noch vom Abendbrot da ist, und koche neuen, falls er nicht reicht."

Die Männer saßen fast alle auf Stühlen rechts an der Wand, die meisten gelangweilt und schläfrig; einige hatte die Füße auf Hocker oder verstellbare Beinstützen gelegt. Am Fenster, für sich und hellwach - der Zimmergefährte von Meinhold, jenes fünfzehnjährige Bürschchen.

Die Schwester brachte eine Kanne und Tassen auf einem Tablett aus der Küche. "Bitte, bedienen Sie sich!" Dabei stellte sie das Tablett auf einem Suhl ab und wandte sich zur Tür - alles völlig unbefangen.

Hatte sie nicht vor kurzem erst dem Chefarzt ebenfalls Tee serviert, den tödlichen Tee? Nun die gleichen Handgriffe ohne die geringste Betroffenheit... Hauboldt schüttelte den Kopf.

Auch den Patienten schien das Makabre der Situation bewusst, ja, vielleicht hatten sie es sogar absichtlich heraufbeschworen. "Mit oder ohne Gift?", fragte Meinhold, während er nach einer der Tassen griff.

Das war deutlich. Und die Reaktion? - Schwester Ramona guckte großäugig, und Beyer versetzte an ihrer Statt: "Trinken Sie, Herr Meinhold, dann werden Sie ja sehn."

Das Bürschchen am Fenster lachte gepresst, und Schulz-Nauhain knurrte: "Ärzte sind das!"

Schmidt zog einen Strich, indem er die Patienten anwies, den Raum bis auf weiteres nicht zu verlassen.

"Glaubst du, sie parieren?", fragte Hauboldt.

"Bestimmt", sagte Schmidt. "Und wenn nicht" - er grinste - "um so besser. Gehn wir!"

Die Schwester war schon vorausgeeilt; ihre Schritte hallten in der nachtstillen Klinik. Beyer folgte ihr mit den Kriminalisten über einen Korridor, wo nur das Feld der Rufanlage, das Station Frauen II anzeigte, erhellt war. Es flackerte jetzt, begleitet von Schnarren - ein Signal, das wiederholt wurde und nicht mehr abbrach.

"Scheint dringend zu sein", sagte Schmidt.

Beyer zuckte die Schultern. "Was man hier so unter 'dringend' versteht." Trotzdem legte er einen Schritt zu.

Station Frauen II unterschied sich kaum von Station Männer I: der gleiche mäßig erhellte Korridor, der gleiche hellgraue Fußbodenbelag, die gleichen weißen, matt lackierten Türen... Über der vorletzten rechts hinten brannte wie ein glühendes Froschauge die Signallampe.

Schwester Ramona verschwand dort gerade, und kurz darauf trat auch Beyer ein. Hauboldt war mit Schmidt, der, wie immer bei Eile, schnaufte, ein Stück zurückgeblieben; was für sie vielleicht Bedeutung hatte, würden sie, meinte er, schon mitbekommen.

"Ach, Frau Hartung!", rief Ramona. Und offenbar zu Beyer: "Diesmal ist es tatsächlich passiert."

"Ganz schön", sagte er. "Eigentlich gehörte sie in ein Pflegeheim."

"Eigentlich, ja."

Wie Hauboldt durch den Türspalt erkannte, handelte es sich um eine hagere, alte Frau. Sie hockte, halbnackt und brabbelnd, auf dem zerwühlten, beschmutzten Laken. Ein zweites, frisch bezognes Bett stand leer.

"Stell die Klingel ab!", bat Beyer.

"Sie liegt drauf", sagte Ramona.

Er: "Wart, ich heb sie hoch."

Sie: "Pass auf, beschmier dich nicht!"

Auch kein Zuckerlecken, dachte Hauboldt. Er wollte dem Arzt und der Schwester beispringen, doch Schmidt hielt ihn zurück. Wortlos wandten sich beide ab, als Beyer die Patientin unterfasste und anhob, damit Ramona das Laken hervorziehen und zur Säuberung benutzen konnte. Bevor sie herauskam, schaltete sie die Rufanlage aus.

"Sie?" Ihr Gesicht spiegelte Überraschung, dann Verlegenheit. Hastig verschwand sie mit dem zusammengeknüllten Laken.

Am Ende des Korridors befand sich ein Fenster. Dorthin stellten sich, den Rücken zur Station, Hauboldt und Schmidt. Sie schwiegen und starrten auf eine Lichterzeile, einen Zipfel der Stadt.

"Die beiden duzen sich", sagte Schmidt, als wieder einmal Worte von Beyer und Schwester Ramona zu hören waren.

Hauboldt zuckte die Schultern. "Das hat heutzutage nicht viel zu bedeuten."

"In so einer Klinik schon", meinte Schmidt. Und nach einer Weile: "Die zwei haben was miteinander."

"Auch das, Willi, ist nichts Besonderes, im Unterschied vielleicht zu deinen fünfziger Jahren. Obwohl es" - Hauboldt wurde ernst - "durchaus ein Motiv sein kann, sobald jemand dazwischenpfuscht."

"Womit wir uns wieder mal einig wären", konstatierte Schmidt.

"Hab ich etwa Ärzte und Schwestern prinzipiell ausgenommen?", verteidigte sich Hauboldt.

"Andererseits", fuhr Schmidt fort, "kommt natürlich auch ein Täter aus der Schar der Patienten in Frage. Wichtig überhaupt, erst mal zu wissen, wie Doktor Grotsche zu den Kranken und zu seinen Kollegen gestanden hat."