Impressum

Jürgen Borchert

Die Papiere meiner Tante

Roman

ISBN 978-3-86394-692-0 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1984 bei

Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2012 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: verlag@edition-digital.com

Internet: http://www.ddrautoren.de

AMTSHANDLUNGEN

Die Notarin schlug einen Stempel auf den Erbschein. Wir zahlten eine Gebühr.

"Nicht mal der Tod ist umsonst", sagte mein Bruder.

Auf der Bank wollten sie auch noch ein Papier sehen, das wir nicht hatten. Wir besorgten es. Dann lösten wir das Konto auf. Beim Konsum sollten wir, um die fünfzig Mark Einlage herauszukriegen, eine Einkommensbescheinigung beibringen. Da pfiffen wir auf die fünfzig Mark Was ging denn den Konsum unser Einkommen an?

Die Friedhofsverwaltung verlangte die Beibringung eines Bestattungsscheines des Kirchenamts, und das Kirchenamt verlangte die Quittung der letzten überwiesenen Kirchensteuer.

Der Pastor wollte den Tauf- und Konfirmationsspruch wissen. Der FDGB zahlte ein Bestattungsgeld gegen Vorlage des Mitgliedsbuchs der Verstorbenen.

Alle diese Dinge setzten voraus, dass die Sterbeurkunde des Standesamtes von Schmuckberg, vorschriftsmäßig unterstempelt, unterschrieben und gebührenmarkenbeklebt, vorgelegt werden konnte. Diese Urkunde zu besorgen hatte drei Tage Zeit gekostet, denn die Tante war nicht in Schmuckberg selbst, sondern in der Bezirksstadt verstorben, im dortigen Krankenhaus. So musste erst der entsprechende vierseitige Statistikbogen aus der Bezirksstadt in Schmuckberg eingegangen sein, ehe Klappstieks, der Standesbeamte, die Urkunden ausstellen konnte. Danach hätte nun die Überführung der Leiche nach Schmuckberg erfolgen können. Da die Verstorbene jedoch eine Feuerbestattung gewünscht hatte, musste die Leiche in der Bezirksstadt verbleiben, denn dort befand sich das zuständige Krematorium. Daraus folgte logisch, dass die Trauerfeier erst im Zusammenhang mit der Urnenbeisetzung, also etwa vier Wochen nach dem Todesfall, stattfinden konnte. Anderenfalls hätte die Leiche aus der Bezirksstadt doch erst nach Schmuckberg transportiert werden müssen, um bei der Trauerfeier anwesend zu sein und anschließend, begleitet von den abschiednehmenden Blicken der Angehörigen, im schwarzen Barkas in die Bezirksstadt zurückzureisen, wo die Verbrennung stattfinden würde.

Es waren sieben Telefonate nötig, die Angelegenheit zu klären. Elf Tage nach dem Tode unserer Tante rief ich meinen Bruder an. Er kam aus einer Sitzung und sagte irritiert: "Die Tante war ein prima Mensch. Seit sie tot ist, geht sie mir auf den Geist!" Ich schlug vor, am nächsten Wochenende den Haushalt aufzulösen. "In Jottes Namen!", sagte mein Bruder.

FRAU SCHOEPKE SCHENKEN

Das Häuschen der Tante lag in der Badstraße. Ein langer Flur ging durch das ganze Erdgeschoss bis zum Hof, links davon lag eine Stube und eine winzige, lichtlose Kammer. Hinten führte eine Holztreppe in den ersten Stock, der etwas bessere Zimmer hatte, denn hier kam die Breite des Flures hinzu. Auf dem Hof, hinten 'raus, war eine Küche angebaut, und hinter der Küche ein Abtritt, ein so genannter "Donnerbalken" mit einer hölzernen Sitzbank, unter deren Blechdeckel sich ein Zinkkasten befand. Alles war schief und krumm; die Grenzen zu den Nachbargrundstücken änderten auf fast jedem Meter ihre Richtung. Links angebaut war ein fast gleiches, höchstens um einen Meter breiteres Häuschen, rechts war das Anwesen der Frau Schoepke, einer kodderschnauzigen und sehr dicken Frau, der ungeahnte Schmuddeligkeit nachgesagt wurde. Allerdings war auch sie kürzlich gestorben, und über den Zaun hinweg, der die beiden Grundstücke trennte, blickte man in ein Chaos der Verwahrlosung. Die Mauerbrocken eines zusammengebrochenen Schuppens, Reste verfallener Kaninchenställe, zerschlagene Möbel, verbeulte Schüsseln, eine aufgerissene Seegrasmatratze, Blumentopfscherben. Das Haus stand leer, niemand wollte es geschenkt nehmen, selbst junge Ehepaare in höchsten Nöten, die das Wohnungsamt wöchentlich dienstags belagerten und ängstlich auf den Ausgang des Wettlaufes zwischen Dienstweg und Schwangerschaft warteten, zerknüllten wütend die Einweisung.

Die Auflösung des Haushaltes unserer Tante war eine wenig aufwendige Angelegenheit. Ein paar Stücke alten Porzellans, einige nostalgische Objekte, ein blaubemalter Schmalztopf, den Großmutter vor achtzig Jahren aus Ostpreußen mitgebracht hatte, ein bisschen Silber, drei Stapel Bücher, die ängstlich gehütete Bettwäsche, die uralten selbstgewebten Handtücher konnten mit einer Taxifuhre weggeschafft werden. Eine Nachbarin holte ein paar Möbel ab, eine Gartenleiter, vier Dutzend Weckgläser. Kleider und Wäsche wurden in die Lumpen gegeben, wer wohl sollte die Sachen der Neunundsiebzigjährigen noch tragen wollen, die sich in den letzten Jahren ohnehin kein neues Stück mehr gekauft hatte. Der Rest war Gerümpel: ein Waschgeschirr aus Steingut, ein Volksempfänger, der nicht mehr spielte, eine Lampenkrone mit Stoffschirmchen, ein Kleiderhaken, abgelebter Küchenkram. Ein Wecker, der seit dreißig Jahren stillstand. Mein Bruder wog ihn in der Hand. "Den schenken wir Frau Schoepke!", sagte er und warf ihn über den Zaun auf den Schutthaufen, wo er, durch den Aufprall aus seinem Jahrzehnteschlaf gerissen, ein letztes Mal grell zu klingeln begann und, leiser werdend, kläglich pingelnd verendete. Da erschraken wir doch.

Zuletzt blieb ein Schuhkarton voller vergilbter Fotos und Papiere: Briefe, Urkunden, Ausweise, Zeitungsausschnitte. "Das nehme ich mit", sagte ich.

"Von mir aus", sagte mein Bruder.

NOSTALGIE UND ERNÜCHTERUNG

Zum letzten Mal saßen wir in der mit Steinplatten ausgelegten Gartenecke unter dem krummen Birnbaum und warteten auf den jungen Mann, der das Häuschen kaufen wollte. Mein Bruder legte die flache Hand auf den rissigen Gartentisch, zog an seinem Zigarillo und sah nachdenklich zu, wie der Rauch durch die Birnbaumzweige und die Weinranken des Spaliers zog.

"Hier ist Geschichte gemacht worden, mein Lieber!", sagte er mit der ihm gelegentlich eigenen Überlegenheit des fünf Jahre Älteren. "Familiengeschichte!"

Familiengeschichten, um es genau zu sagen: Familiengeschichten meinte er.

Manchmal, wenn die ganze "Mischpoche" — so meines Bruders Lieblingsbezeichnung für den Tross der Verwandtschaft — hier um den Gartentisch der Tante versammelt war, um einen Geburtstag zu feiern, ein Jubiläum zu begehen, einen Beerdigungskaffee einzunehmen, dann lebten nach kurzer Zeit jene Geschichten auf, in denen sich alle wieder finden konnten. Dann hatten die Generationen einander etwas zu sagen, dann waren wieder diese Geschichten im Schwange, die sich in drei Kategorien einteilen ließen, als da sind: "Ganz früher", "Während des Krieges" und "Die Jungs". Die Jungs: das waren wir, 1936 und 1941 geboren. In den Geschichten, die uns beide betrafen und die wir der Einfachheit halber nach der Methode des uralten Tünnes & Scheel-Witzes nummeriert hatten, spiegelte sich die Welt wie in der Scheibe des Spions, der hier in der Badstraße an manchem Fenster befestigt war und den Blick auf die Straße gewissermaßen um die Ecke freigab. Wie ich als Vierzehnjähriger mit ausgeprägter Berlinerfahrung die alte Bötzern nach Westberlin zu bringen hatte, um sie dort bei ihrer Tochter abzuliefern, und wie die Grenzer in Falkensee mit den Stricknadeln in den Kuchen stachen. Sollte da wohl das Familiensilber drin sein? Und wie die Frau im Zug, mit einem Korb frischer Eier auf der Fahrt in Richtung Westen erwischt, den ganzen Korb aus dem offen stehenden Gangfenster schmiss. Oder wie mein Bruder den nach langer Abwesenheit erstmals aus dem "Felde" auf Urlaub heimkehrenden Vater mit "Onkel" anredete. "Der Onkel soll weggehen!", krähte er erbost, als der fremde Soldat die Mutter umarmen wollte.

Und solche Geschichten, endlos wiederholt, bis zur Perfektion einstudiert, immer die gleichen Bewegungen des Kopfes, der Hände, ja, fast immer gebunden an einen Erzähler. Wie Opa Lindenow sechsundvierzig an der Wassersucht starb: die Geschichte gehörte unserer Mutter, und wie sie 1943 den toten Soldaten, als das Hochwasser weg war, im Garten gefunden hatten: das konnte nur Martha erzählen.

Ja, hier kamen unsere Geschichten her, hier hatten wir die Familie "gelernt". Hier hatten sie uns die Toten nahe gebracht, und hier hatten sich die Lebenden eingeprägt: Gestus, Tonfall, die Art zu rauchen (denn sie rauchten fast alle), hier hatten wir sie und also uns kennen gelernt, hier, unter dem krummen Birnbaum, der kaum noch Früchte trug, aber Blätter genug, den uralten Tisch ausreichend zu beschatten. Die morsche Schuppenwand, von dem wilden Wein berankt, schirmte gegen den Westwind ab, die Zementplatten auf dem Boden waren abgetreten, zwischen ihren Fugen wuchs Moos.

Nun also saßen wir zum letzten Mal hier, mit der Absicht, das Haus zu verkaufen. Verkauften wir ein Stück unserer Kindheit oder unsere Erinnerungen? Warfen wir dem Haus die Geschichten hinterher?

Dann klingelte es. Dieser immer noch unveränderte Ton: als wäre das alte, kleine Haus noch belebt, als wäre nicht längst sein Innenleben verstummt, als wäre kein Stück des Hausrates von seinem Platz gerückt oder gar "Frau Schoepke geschenkt" worden. Dieses Klingeln war für einen winzigen Moment die letzte Illusion einer heilen Welt, Badstraße 25. Gleich würde Martha ihren weißen Kopf aus dem Fenster stecken, "Moment!" würde sie rufen, wie sie es immer getan hatte, und würde die Treppe hinunter und durch den langen Flur eilen, um zu öffnen.

Es war der Käufer. Er hatte seine junge, hochschwangere Frau mitgebracht "Überlegen Sie sich's noch mal", sagte ich zur Begrüßung. "Das ist kein Palast hier, Sie werden allerhand investieren müssen!" — "Unsere Tante war eine alte Frau, sie hat lange nichts machen lassen", fügte mein Bruder entschuldigend hinzu. "Schauen Sie sich meine Frau an!", sagte der Käufer und wies auf den Bauch unter dem geblümten Umstandskleid. "Wir haben keine Zeit mehr, aufs Wohnungsamt zu warten! Außerdem bin ich vom Bau ..." — "Da werden Sie's schon schaffen. Hier sind die Schlüssel. Wir sehen uns dann morgen im Notariat!"

Der junge Mann nahm das Schlüsselbund, wog es in der Hand, sah sich befriedigt um, musterte das Gärtchen. Vielleicht sah er schon den Laufstall seines Kindes unter dem Birnbaum stehen und seine Frau, wie sie Windeln aufhängte zwischen Hauswand und Schuppen. Nein, die Geschichten konnte er nicht kaufen. Er wollte sie auch nicht — er und seine Leute würden eigene Geschichten machen. Eigene Geschichten, andere Geschichten, gleiche Geschichten, nummerierbare Geschichten, alltägliche Geschichten. Das Leben, das ist nämlich der Alltag.

Dann gingen wir. Gingen zum letzten Mal durch den langen Flur, ließen zum letzten Mal die Haustür hinter uns ins Schloss fallen. Mir war, als hätte das schon ein wenig anders geklungen als sonst.

OSTPREUSSISCHE TOPOGRAPHIEN

Ahnenforschung hieß das. Sie wollten heiraten, also mussten sie einen arischen Nachweis beibringen. Da gab es das Familienstammbuch, da waren vielspaltige Riesenbögen auszufüllen, da wurde ein ganzes Volk in eine völlig widersinnige und dabei höchst angestrengte Tätigkeit gestürzt. Druckereien spieen die Papierflut aus, die erforderlich war, dem Befehl der Ausgeburt nachzukommen. Die Notwendigkeiten überboten einander. Es gab einen Ahnenpass. Es gab einen Antrag auf Erteilung eines Ahnenpasses. Es gab Ahnenregister und Ahnenhallen. Aber niemand war da, der Einspruch erhob gegen diesen maßlosen Wahnwitz, der Ahnenforschung hieß und wie ein vielarmiger Götze mit Stempeln und Formularen, mit Erlaubnissen und Verboten, mit Geburten- und Sterberegistern auf die Leute einschlug.

Und die merkten nichts. Sie begriffen selbst dann nichts, wenn sie, was in der Mehrzahl der Fälle geschah, irgendwann am Ende des 18. Jahrhunderts mit ihren Forschungen stecken blieben und man sich also an den zehn Fingern abzählen konnte, was der Vater des Friedrich Friedel, des letzten feststellbaren Vorfahren, der "Losmann in Roßoßen" gewesen war, wohl für einen Stand gehabt haben mochte: Leibeigener war er, was sonst.

Und mancher fand bei seiner Suche nach der Wahrheit eine Wahrheit heraus, die ihm gar nicht recht war: plötzlich stammte der angesehene Zahnarzt von einem leibeigenen polnischen Bauern ab, der Herr Ortsleiter gar fand einen herumstreichenden Zigeuner in seiner Ahnenliste oder einen Handelsjuden aus Livland, und viele, die sich stolz "Mittelstand" nannten, stellten zu ihrem Entsetzen fest, dass sie ganz und gar proletarische Voreltern hatten.

Für Martha allerdings, als sie die Dokumente für ihren Lieblingsbruder Karl Angerburg zusammentrug, kam diese Entdeckung nicht überraschend. Sie kannte ihre Herkunft und konnte sich denken, dass die Angerburgs nicht von ostpreußischen Ordensrittern abstammten, sondern von namenlosen Knechten und Mägden. Die Großmutter winkte ab, sie hatte von Ostpreußen die Nase voll.

Da waren sie hergekommen, herüber "ins Reich", gleich nach ihrer Hochzeit, 1895. "Nach Ostpreißen jeh ich nie nich widder zerrick!", hatte sie damals schon gesagt. Sie stammte aus Groß Guja (sie sagte "Jroßjuja") bei Engelstein, Kreis Gerdauen, ihre Mutter war eine hugenottische Schreinerstochter aus Drengfurth gewesen, ihr Vater Pferdeknecht auf dem Gut des Herrn von Fahrenheid, oder, besser, eines Herrn von Fahrenheid, diese Sorte war dort weit verbreitet Und wenn man keine Lust mehr hatte, sich von dem Inspektor des Herrn von Fahrenheid schikanieren zu lassen, dann kündigte man zu Johanni und verdingte sich eben in Wesselowen oder Raudischken oder Jakunowen oder Stalungkehmen und begab sich unter die gewiss nicht sanftere Fuchtel des Inspektors eines Herrn von Dönhoff, denn die waren ebenso weit verbreitet wie die Fahrenheids. Die Landarbeiter"Wohnungen" waren überall die gleichen, die Löhne und das Deputat waren überall nicht viel wert, und man musste nebenher eine Kuh halten und ein Schwein und "scharweijken" wie ein Kümmeltürke, wenn man das Nötigste haben wollte.

Erzählt hatte der Alte, wie ihn die Großmutter zu nennen pflegte, oft von Ostpreußen, wenn er, zum Feierabend auf dem "Soffa" unter dem Regulator liegend, sich von der Tochter den Bart kämmen ließ. Er hatte, des Pferdeknechtlebens satt, zwölf Jahre bei den Ulanen gedient, sich von der "Auszahlung" einen Bierwagen gekauft und war Bierkutscher geworden in Schmuckberg. Das war ein ander Ding, seine eigenen Pferde Hannibal und Priester zu striegeln als die Gäule des Herrn von Fahrenheid! Er hängte stolz seinen Gewerbeschein, sauber verglast, neben den Regulator und kaufte sich eine lange Pfeife mit einem Kaiserbild auf dem Kopf. Und anno 1900 ließ er sich fotografieren, mit Frau und zwei Töchtern. Oktober 1900 waren es dann schon drei Töchter, und diese dritte, Martha, wurde ebenfalls fotografiert. Die Bilder standen auf dem Vertiko bis zu Großmutters Tod, also achtundfünfzig Jahre lang.

"Ich war doch ein hübsches Ding, was?", sagte sie manchmal, als sie schon sehr alt war. "Im Heu hat er mich erwischt, der August, das war achtundachtzig, im Dreikaiserjahr. Und einmal ist der Herr Inspektor gekommen und hat gesagt, ich soll doch lieber mit ihm ins Heu, er würd' besser zahlen. Da ist der August zum Herrn Pastor gegangen und hat dem das erzählt, und der Inspektor hat müssen gehen!" Der Stolz der kleinen Leute über einen kleinen Triumph. Die Bilder sind noch da, sie liegen zuoberst in dem Schuhkarton, gebräunt und ausgeblichen, aber deutlich. Großvater steht, ein richtiger Bierkutscher: breit in den Schultern, ein offenes, freundliches Gesicht, stolz und zufrieden hat er den Arm auf die Schulter seiner Frau gelegt. Die sitzt und hat Minna, die jüngste, auf dem Schoß, während sich Anna, die ältere, an ihr Knie lehnt. Ein idyllisches Bild im Stil der Zeit. Großvater trägt einen dunklen Anzug, wohl den "Guten", und einen sicher unbequemen Vatermörder. Großmutter hat einen langen schwarzen Rock mit Volant an und eine Bluse aus kariertem Zeug. Sie blickt ernst. Glückliche Zeiten?

MEIN KIND, WIR WAREN KINDER

Also, von Lübtau nach Schmuckberg: das ist gar nichts. Ein Stückchen an der Steppenitz lang, dann durch den Wald. Kommt man bei Neumühl aus dem Holz, liegt da schon die Stadt wie auf einem Teller. Die Kirche ist ein wenig groß für das Nest. Überhaupt Schmuckberg: das bisschen Marktplatz mit Rathaus und Apotheke drumherum, die paar Gassen, wenn man da an Darkehmen denkt oder an Nordenburg! Das jedenfalls sagte Martha manchmal, obwohl sie nie in ihrem Leben in Darkehmen oder in Nordenburg gewesen war, auch in Raudischken nicht und nicht in Roßoßen und niemals überhaupt in Ostpreußen und Masuren. Sie war schon in Schmuckberg geboren, wie alle ihre Geschwister, "ums Jahrhundert 'rum", wie die Großmutter das nannte. Aber Vater Angerburg hatte Ostpreußen mitgebracht in die Prignitz, und Martha wusste also, wie es dort aussah. Wenn August seine Tochter auf den Kutschbock hob und sie mitnahm auf die Liefertour von einer der zweiundzwanzig Kneipen Schmuckbergs zur anderen, dann erzählte er's ihr.

"Mein Kind, wir waren Kinder!", sagte Martha siebzig Jahre später zu ihren Neffen, und dann erzählte sie's uns. Heine mochte sie, die "Lorelei" konnte sie auswendig und das halbe "Buch der Lieder".

"Mein Kind, wir waren Kinder." Dann erzählte sie auch von Lübtau, dem Dörfchen flussauf, wohin Vater Angerburg Bier zu liefern hatte. Einmal die Woche kutschierte er seinen schweren Bierwagen durch den Mahlsand zu Westphals Kneipe. Bis Neumühl fuhr sie mit, dann sprang sie vom Bock und ging in den Wald, um Pilze zu sammeln. Wenn er zurückkam, hatte sie den Korb voll. Der Vater schüttete die Pilze auf die Pritsche des Bierwagens und sortierte: "Jiftig. Jiftig. Jut!" Konnte er sich nicht entscheiden, hielt er den Pilz den breitärschigen Hannoveranern Hannibal und Priester vor die Nüstern. Schüttelten die Pferde unwillig die Mähnen, wurde der Pilz weggeworfen. Fraßen sie ihn indessen, galt die Sorte für essbar.

Mein Kind, wir waren Kinder. Unsere Sehnsucht, gleich nach dem Krieg, war ein Reck. Auf unserem großen Hof sollte es stehen, zwischen den beiden alten Weiden. In den Mietshäusern, die das Karree des Hofs umstanden, wohnten Leute mit Kindern — was heißt Leute: Mütter mit Kindern, die Väter waren in Sibirien oder in Nancy oder in West Virginia und arbeiteten die Kriegsschulden ab, und manche auch nicht: die waren tot

Unser Vater, Marthas Bruder, saß in der Hinterstube eines Uhrmachers in Edinburgh und führte die Bücher für Mr. Green. Abends kam ein Kübelwagen der britischen Armee und holte den POW Angerburg, Charly, heim ins Camp. Das war eine merkwürdige Art von Wiedergutmachung, und Mr. Green erklärte es ihm auch. "Du hast die Bomben und V 2 ja nicht auf Coventry geschmissen", sagte er. "Ihr Deutschen seid doch so anständige Kerle, wie habt ihr euch nur diesen Mr. Hitler anschaffen können ..." Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte; hier soll doch von dem Reck erzählt werden.

Holz aber war knapp, nur im Walde, im Bauernwalde von Löbtau, wuchs es. Rechts und links der Steppenitz stieg der Wald hügelan. Zu ihm hin führten, den Fluss begleitend, die sandigen Wege, über die vorzeiten schon Großvaters Bierwagen gerollt war. Manchmal, im Sommer, nahmen wir den Grund im flachen Wasser unter die Füße, im Winter fuhren wir auf klirrenden Schollen. Und dort war das Holz. Dort lagen auch die frisch gefällten Stämme in Wetzels Tannen. Nahe beim Fluss lagen sie, verführerisch nahe. Sollte man nicht zwei Enden abschneiden und einfach den Hügel und das hohe Ufer hinabrollen lassen, ins Wasser? Moral kümmerte uns nicht So sehr wollten wir das Reck. Die Kleinen wurden auf den Wegen als Wachen aufgestellt, während die Großen sägten. Ich sehe mich immer noch stehen im Sonnenglast, barfuß, im knöcheltiefen, heißen Sand und den Weg hinunter starren in Richtung Lübtau. Oh, wir hätten schon Alarm geschlagen, wenn nickende Pferdeköpfe aufgetaucht wären hinter der Biegung oder ein schwarzes Knüpptuch oder der grüne, bebuschte Lodenhut Wetzels, des Bauern, dem der Wald gehörte. Wetzel fürchteten wir. Er war ein vierschrötiger, vollgefressener Kerl, der einen fetten borstigen Nacken hatte und immer mit einer Hundepeitsche herumlief, obwohl er gar keinen Hund besaß. Mit dieser Hundepeitsche hatte er einen von uns halbtot geprügelt, als er ihn in einem seiner Apfelbäume erwischte. Zu beweisen war es nicht; die dabei waren, hatten nichts gesehen. Die Schwachen hatten ihre Chance noch nicht verstanden.

Jetzt aber kam er nicht, die Stämme waren gesägt. Sie stießen und polterten den Hang hinab, klatschten ins Wasser, schaukelten dort trag in der trüben Flut, die von mitgerissenen Lehmbrocken gelb gefärbt war. Dann flößten wir das Holz fachgerecht das Flüsschen hinab, stadtwärts, kurbelten an der Mühle das Wehr hoch, um die Stämme durchzulassen, und wieder hinunter, und ritten auf den drehenden Hölzern stolz zu Tal. An der alten Militärbadeanstalt, nahe unserem Hof, rissen wir die schweren Balken mit unseren kleinen Händen aus dem Wasser, rollten und schleiften sie den Weg hinauf bis ans Hoftor und hindurch, gruben die Löcher, senkten die Stämme hinein, kerbten sie oben ein und legten die Reckstange, die die Großen aus einer zerschossenen Turnhalle geholt hatten, in die Kerben. Das Reck stand. Der älteste von uns war dreizehn.

Als Arno, der Sohn des gefallenen Lehrers aus Nummer siebenundzwanzig, noch schwach in den Knien, am Nachmittag einen vielbewunderten Aufschwung machte, knallte es plötzlich. Im Hoftor stand, schwitzend, Lodenhut, Peitsche in der wippenden Hand: Wetzel. Er grinste. "Schönes Reck, das!" sagte er und machte die Runde um den Hof, um unsere Mütter aus den Küchen und Hühnerställen zu holen. Dabei brüllte er von Polizei und Kommandantur, er hätte uns gesehen, und wenn am Abend die Stämme nicht wieder im Walde lägen, und aufhängen sollte man uns alle, "Flüchtlingsgesindel dreckiges!" schrie er noch, dabei stammten bloß zwei von uns aus den Sudeten, und die waren nicht einmal dabei gewesen.

Unsere Mütter waren ängstlich und schimpften erst hinter Wetzel her, als dieser schon den Hof mit seinem klapprigen Fahrrad verlassen hatte. "Olle Nazisau, die!", sagte Frau Schickedanz. Sie schwankten zwischen Zorn und Ohnmacht, unsere Mütter, und hatten den Mut noch nicht, sich für den Zorn zu entscheiden. So bedrängten sie uns erfolgreich. Da gruben wir endlich die Stämme wieder aus, wälzten sie zum Fluss zurück und zerrten sie mühsam am Strick gegen die Strömung zum Wald. Geschlagene Krieger, doch wütend. An der Mühle, wo wir, nass wie die Katzen, im brodelnden Wasser das Holz unterm Wehr hindurchschoben, stand Wetzel auf der Brücke und lachte fett. Dann, am Hang, am Hügel, als wir die schweren Stämme hinaufrollten, stellte uns wieder sein Lachen nach. Unten am Ufer hatte er sich breitbeinig aufgebaut und bebrüllte uns mit Spott. "Keucht nur, Hungerleider! So geht's, wenn man klaut!" "Klaut", sagte der, und das traf uns, unsere Mütter hatten das nicht gesagt, von Klauen war nicht die Rede gewesen, der dicke Wetzel hatte die Stämme, und wir brauchten sie — so war das. Von Klauen hatte keiner gesprochen. Es traf uns also, und wir müssen verdutzt gewesen sein. Wir ließen die Stämme auf halber Höhe des Hügels los, die rollten erst langsam, dann schneller abwärts, purzelten und stießen schließlich rumpelnd und polternd auf Wetzel zu, der plötzlich verstummte, die Augen starr auf das nahende Unheil gerichtet, rechts hatte er sein Fahrrad, da konnte er nicht drüber, es hätte zu lange gedauert, links war ein Stück Zaun und hinten war der Fluss und vorn kamen die Stämme. Da sprang er, der Wetzel, schräg nach hinten sprang er ab in das hüfttiefe Wasser, die Stämme klatschten dicht neben ihm in die aufgewühlte Brühe, Wetzel, taumelnd, fiel lang hinein, der Lodenhut enttanzte mit der eiligen Strömung, wir, brüllend vor Lachen jagten davon. Natürlich hat er uns angezeigt, und Karras, der Polizist, kam mit Wetzel auf den Hof, wo wir uns balgten. Er wies mit dem Finger. "Der, und der, und der da und die beeden ooch!", sagte er. Karras setzte seine Dienstmütze auf und kniff sein übrig gebliebenes Auge zu — das andere hatten sie ihm in Oranienburg ausgeschlagen. Dann machte er das Auge wieder auf und fragte uns grinsend: "Stimmt das, was der Herr Wetzel da sagt?" — "Nein, Herr Karras!", sagten wir. "Zeugen, Wetzel? Nee? Na, denn ..." Karras tippte an den Mützenrand und ging hinkend von der Szene, denn auch eines seiner Knie hatten sie in Oranienburg kaputtgemacht.

Wetzel schob dreiundfünfzig ab nach dem Westen.

STENOGRAFIE UND BOMBEN

Martha erfuhr von der Reckgeschichte erst mit ziemlicher Verspätung, denn während sie passierte, hielt man die Tante in einem dänischen Internierungslager fest und stritt sich höchsten Ortes mit den Alliierten herum, ob sie, Martha Angerburg, als Kriegsgefangene zu behandeln sei, und das kam so:

Martha, begeisterte Stenografin, mehrmals Deutsche Meisterin sowohl in der Stolze-Schrey als auch in der Deutschen Einheitsschrift, wurde gleich bei Ausbruch des Krieges "dienstverpflichtet", wie man das nannte. Rechtsanwalt Oehmcke in Schmuckberg musste ohne seine Bürovorsteherin auskommen, was ihm sauer genug wurde, denn wie keine kannte sie sich aus in den komplizierten Erb- und Besitzverhältnissen der Großbauern und Gutsbesitzer im Umkreis der Stadt. Diese Kenntnisse aber waren nun nicht gefragt, man steckte sie in ein Lager in der Nähe von Flensburg und in die Verkleidung einer "Kameradschaftsführerin", unterstellte ihr fünfzig Maiden, so genannte "Luftwaffenhelferinnen", und befahl ihr, die gackerigen BDM-Hasen mit stenografischen Kenntnissen auszustatten. Martha tat es widerwillig, aber was blieb ihr übrig?

Je weiter der Krieg voran und später zurück marschierte, desto tiefer drang das Lager nach Dänemark ein. Bis hinauf nach Aarhus, mitten in die dänischen Weiden, zwischen Butterblumen und wiederkäuenden Kühen, geriet die von Martha kommandierte "Kameradschaft". Bei einer Inspektion fragte sie ein Strammer, warum sie die Unterrichtsstunden nicht mit "Heil Hitler" eröffne. Das tue sie doch, sagte Martha, ging zur Tafel und schrieb in flüssiger Stolze-Schrey "Guten Tag!" daran. "Ach so, natürlich, Verzeihung!", sagte der Stramme und ging ab.

Einigen BDM-Hasen blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Eines der Mädchen kam in der Pause zu Martha. Vielleicht fühlte sie den Kitzel der Macht, vielleicht war es die kaum zu verdrängende Brünstigkeit des achtzehnjährigen Körpers, die hier schwer zu befriedigen war. Jedenfalls fragte sie mit schief gelegtem Kopf und gut gespieltem Lauerblick, was nun wäre, wenn sie hinginge und Martha anzeigte? Martha sah sie von oben bis unten an, knöpfte ihr den vorschriftswidrig offenen obersten Blusenknopf zu und sagte einfach: "Tu's doch, mein Kind!"

Sie tat es nicht

Trotzdem soll nun keiner glauben, Martha sei eine aktive Antifaschistin gewesen — sie war weit davon entfernt. Vielleicht wusste sie nicht einmal, dass es organisierten Widerstand gab. In Dänemark jedenfalls war, in den Wiesen von Aarhus, davon nichts zu bemerken. Hitler siegte sich durch Europa, und Martha hatte ihm dabei zu helfen, wenn auch nur mit Stolze-Schrey und Deutscher Einheitsschrift. Nur das Getue war ihr zuwider, die kleinen und die großen Bonzen, die sie zu Gesicht bekam, ekelten sie an. So verkroch sie sich in ihre Arbeit und brachte den Maiden die Kürzel bei, die für Luftlageberichte benötigt wurden.

Schließlich war Krieg, schließlich ging es um Deutschland.

Ihr Bruder Karl lag irgendwo im Osten bei einem Fouragebataillon. Selten genug, vielleicht zweimal im ganzen Krieg, sahen sie sich. Karl fluchte. Es war kalt in Russland, und das Siegen stellte sich als schwierig heraus. Wenn Martha zweifelte, dann vielleicht am Führer — an Deutschland zweifelte sie nicht

Zu Hause, in ihrer Wohnstube in der Badstraße, hing bis zu ihrem Tode ein kleines Ölbild Friedrichs II. "So einen hätten wir gebraucht, und nicht so einen!", sagte sie manchmal. Dabei hielt sie sich eine Haarsträhne übers Auge und die Daumenkuppe unter die Nase. Ihren Kaffee trank sie bisweilen demonstrativ aus einer altrosa Kränzchentasse des Königin-Luise-Bundes, dessen Mitglied sie gewesen war. Die Tasse trug, wie auch die Untertasse und der dazugehörige Kuchenteller, das ovale Eichenlaubemblem mit dem kunstvoll verschlungenen "L". Ihre Abneigung gegen die Nazis entsprang einem konservativen Denken, vielleicht gar einer Neigung zum Monarchismus. Sprüche aus alten Zeiten wusste sie hin und wieder zur Kenntnis zu geben, Sprüche aus ihrer Schulzeit, die sie dank Großvater Augusts Fleiß auf der Höheren Töchterschule absolvieren durfte. Welch Aufstieg! Großmutter fasste es nicht; Vater August, wenn er seine Hannoveraner an der rotziegeligen Schule vorbeisteuerte, um nebenan bei Oskar Schumacher Bier zu liefern, richtete sich auf seinem Kutschbock stolz auf. Er war der selbständige Bierfahrer August Angerburg, und seine Tochter saß da drinnen bei Fräulein von Plotho oder bei Herrn Doktor Pachaly im Unterricht. Höhere Tochter! Er selbst hatte die Pantinenschule von Raudischken genossen, den versoffenen Schulmeister Baluschkeit, der, in der rechten Hand die Schnapsflasche, in der linken den Gelben Heinrich, winters seine "Unterwejsungen" praktizierte.

"Der Kaiser ist ein lieber Mann und wohnet in Berlin. Und wär' es nicht so weit von hier, ich führe heut noch hin!"

Später, bei Hitler, der Kaiser war vergessen, Vater Angerburg längst tot, legte man ihr nahe, der Partei beizutreten. Sie lehnte ab, erfand Ausflüchte. Sie sei religiös, sagte sie zumeist. Mancher mochte das glauben; ging doch ihre Mutter Sonntag für Sonntag in den Gottesdienst in der Jakobskirche, ging, bis an das Ende ihrer Tage, also fünfzig Jahre lang, in ostpreußischer Witwentracht ihren Gott besuchen. O ja, Mutter Angerburg war religiös. Aber Martha? Dazu war sie zu realistisch veranlagt und hatte allzu viel vom Leben gesehen, als dass sie einem Gott wirklich zu glauben vermochte. Trotzdem war sie in den Dingen des Glaubens wohlgeübt, auch dies eine Folge der Höheren-Töchter-Erziehung und wohl auch ihrer Schwester Minna zuliebe, die in ein Diakonissenstift gezogen war.

Nein, eine Antifaschistin war Martha nicht. Aber sie lockte ab und an gegen den Stachel. 1938 bot man ihr eine KdF-Reise an, eine Schiffsfahrt nach Nordnorwegen sollte es sein, für lächerlich wenig Geld. Martha kaufte sich schon Landkarten und ein norwegisches Wörterbuch. Der Anwalt gewährte anstandslos Urlaub.

An ihrem letzten Arbeitstag schellte das Telefon in der Kanzlei. Ein freundlicher Herr der Kraft-durch-Freude-Agentur meldete sich und verlangte Fräulein Angerburg zu sprechen. Man habe umdisponieren müssen, es lägen noch zwei Anmeldungen vor, allerdings von Parteigenossinnen — sie müsse verstehen, dass die Parteilosen da zurückstehen müssten. Man habe aber natürlich eine Ersatzreise für sie, sie könne im November nach Treseburg fahren, es sei sehr schön dort.

Martha warf den Hörer auf die Gabel, ging in das Büro ihres Chefs und erklärte, sie werde die demnächst anstehende Testamentssache Schlippenkötter doch nun allein erledigen können, sie führe nämlich nicht nach Norwegen. Rechtsanwalt Oehmcke schüttelte den Kopf und sah fragend über seine Aktenberge. "Mir fehlt nämlich das Bonbon!", sagte Martha und strich liebevoll über ihr leeres Kostümrevers.

Abends, zu Hause, setzte sie sich an den Tisch, holte ihre kleine Orga privat aus dem Schrank, spannte einen Bogen mit Durchschlag ein und schrieb: "Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Arbeitsfront. Begründung: keine. Martha Angerburg."

Der Durchschlag liegt in dem braunen Schuhkarton.

Martha blieb bis 1947 in dem Internierungslager. Dann waren sich die Alliierten einig: Sie durfte nach Hause fahren. Sie fuhr durch Hamburg, wo sie umsteigen musste.

Als sie die Stadt sah, begriff sie plötzlich, was eigentlich geschehen war. Verstört traf sie in Schmuckberg ein. Sie warf die kleine bronzene Medaille "Für Kriegsverdienste", die sie niemals getragen hatte, mitsamt dem schwarzweißroten Band in den Schuhkarton und ging in den Garten. Die Welt stand Kopf.

FIGURINEN

Zwischen den beiden Familienfotos liegen 33 Jahre, zwei Kriege, Rathenau und Hitler, Versailles und Potsdam. Die Geschichte der Nation steigt aus meinem Schuhkarton.

Das ältere der beiden Bilder, aufgenommen im Jahre 1915, im zeitigen Frühjahr, hat Postkartenformat und zeigt Großmutter Angerburg und vier ihrer fünf Kinder. Minna ist schon ins Diakonissenstift Heiligengrabe gezogen. Sie lernt dort beten und Kranke pflegen. Großvater ist "im Felde".  Ulanenwachtmeister d. R August Angerburg liegt in Angermünde beim Ersatzbataillon des Landwehr-Infanterie-Regiments Nr. 24 und striegelt die Pferde des Bataillonsstabes. Vorbei die alte Ulanen-Herrlichkeit. Es ist nicht gerade ein Vergnügen, mit fünfundvierzig Jahren noch einmal Soldat spielen zu müssen. Trotzdem hat er Glück; der Bataillonskommandeur, der Oberst von Moeller, reserviert sich den breitschultrigen Wachtmeister mit dem ostpreußischen Tonfall für die Pferdepflege. Der versteht was davon und ist außerdem Bierkutscher. "Wo jedient, Angerburg?" — "Nein'drejßjer Ulanen, Herr Oberst!" — "Ah, beim ollen Haeseler?" — "Jawoll, Herr Oberst!" — "Alte Schule, wie? Sie übernehmen den Bataillonsstall!" — So ungefähr wird das gegangen sein.

Das Foto zeigt die Vorderfront des Hauses Marienstraße 5 in Schmuckberg, dessen Dachgeschoss im Jahre 1915 der Familie Angerburg zur Wohnung dient. Aus dem Mansardenfenster schaut die Großmutter, und vor dem Hoftor stehen Anna, Martha, Karlchen und Fritz. Die Großmutter lehnt auf dem Fensterbrett, stützt sich auf den rechten Ellenbogen und blickt in die Kamera des Photographen Eberth, der gleich um die Ecke wohnt und die Ohren offen hält. "August Angerburg? Auch eingezogen? Wat sie nich sagen..." Nächsten Tag ist er da, baut seine Kamera auf und hängt sich das schwarze Tuch über. Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtijall. — Anna, siebzehnjährig und stämmig, steht mit gesenktem Kopf, die Hände linkisch auf der Schürze gefaltet, und blickt von unten her ins Bild. Sie ist "in Stellung" bei Bankkassierer Liesegang am Pantinenmarkt 's wird Zeit, dass sie unter die Haube kommt. Der Herr Bankkassierer stellt ihr beim Bettenmachen nach, die Gymnasiasten pfeifen hinter ihr her. Sie hat einen Busen unter der Bluse, wie ihn Mutter Angerburg in ihren schönsten Jahren nicht hatte. Und leider ist sie einfältig dazu und tut naiv wie eine Pastorentochter. Mutter Angerburg macht sich Sorgen. Aber das sieht man auf dem Foto natürlich nicht. Großmutter in ihrem Mansardenfenster blickt friedlich und harmlos. Hat ihr August nicht Sorgen genug und Ärger mit seinem Kaiser?

Die nächste, links neben Anna, ist Martha. Sie und Fritz haben Karlchen an der Hand in die Mitte genommen. Martha ist noch nicht fünfzehn, soll Ostern konfirmiert werden und sieht schon sehr ernst und erwachsen aus. Sie lächelt, aber es ist ein schmerzliches Lächeln, wie mir scheinen will. Sie vermisst ihn, den Vater, den zärtlichen, brummigen, großen Mann, der nach Tabak und Bier riecht und einen Bart hat wie der Kaiser. Sie allein darf ihm diesen Bart kämmen, wenn er abends auf dem Sofa liegt Nun muss er in den Krieg ziehen. Der Kaiser hat es befohlen. Martha ist dem Kaiser böse. Wozu braucht der Kaiser ihren Vater?

Karlchen kann ihr darauf keine Antwort geben. Karlchen reitet auf einem Steckenpferd über den Hof, klettert im Stall dem gutmütigen Hannibal auf den Rücken und schwingt seinen Holzsäbel. Karlchen hat den Krieg schon gewonnen. "Komm vom Pferd 'runter, wirst den Hals brechen, du Riepel!", schilt Mutter Angerburg. Karlchen ist fünf und ein Quirl. Jetzt aber ist er brav, hält sich an Schwester und Bruder fest und guckt den komischen Herrn Eberth mit dem Kasten und dem schwarzen Tuch ein wenig misstrauisch an. Ein Vogel kommt da ja doch nicht 'raus, denkt er vielleicht, das ist eine Lüge!

Ganz links schließlich Fritz, er ist zwölf. Fritz hat eine flache Mütze auf den Kopf gestülpt, eine Bierkutschermütze, es wird Vaters Mütze sein. Er steht breitbeinig da, sicher und gelassen, hat die Pferdepeitsche in der Hand und macht das entschlossene Gesicht des Halbwüchsigen, der den Vater zu vertreten hat. Und dies tut er ja schließlich auch. In der Schule lässt er Fünfe gerade sein. Lehrer Höger sieht's ihm nach, er weiß, dass Fritz es nicht leicht hat. Kaum zu Hause, schlingt er das Essen herunter, holt Hannibal aus dem Stall (Priester ist eingezogen wie Vater), schirrt ihn an, steigt auf den Bock und macht Fuhren. Das Bierfahren kann er dem Vater nicht abnehmen, dazu ist er doch noch zu jung. Aber die Weidenkörbe vom Bahnhof holen, die für die Essigfabrik angekommen sind, das kann er. Oder eine Fuhre Stroh vom Stadtgut in den Stall fahren oder einen Umzug kutschieren. Fritz kommt nach dem Vater, und es steht felsenfest: er wird sein Nachfolger. Fritz hat zwei schwere Hanteln unter seinem Bett. Damit übt er jeden Morgen, bevor er in die Schule geht. Sein Bett steht unter der Abseite, unter dem schrägen Ziegeldach. Manchmal, im Winter, bläst der Ostwind den Schnee durch die Ritzen auf seine Bettdecke. Das macht Fritz nichts aus. Er steht nackt in der eisigen Luft, stemmt seine Hanteln, bis er ins Schwitzen kommt. Dann rennt er auf den Hof, wäscht sich im Stall an der Pumpe. Keiner seiner Mitschüler wagt sich an ihn heran. Einmal hat es der lange Zipperling, der zwei Jahre älter ist, versucht. Fritz nahm ihn in den Schwitzkasten, bis er blau im Gesicht wurde. Vater soll sehen: er kann sich auf Fritz verlassen. Deshalb Mütze und Peitsche und entschlossenes Gesicht.

Die Rückseite des Bildes ist gleich mit praktischen Linien bedruckt und hat ein Kästchen, wo die Marke hinkommt. Die allerdings braucht Mutter Angerburg nicht aufzukleben, denn die Karte geht als "Feldpost" und ist also gebührenfrei. "Lieber August!", schreibt sie. "Wie geht es Dir denn noch immer. Hast Du denn das Päckchen noch immer nicht? In Angermünde kann es doch nur untergetaucht sein, so frage doch einmal auf der Post. Hast Du schon wieder Nachtdienst gehabt? Frierst Du sehr? Ich schicke Dir diese Karte, damit Du uns wieder einmal alle vor Augen hast. Mit Gruß, Deine Alte." Die Karte fällt in den Postkasten.

Ein halbes Jahr später kehrt sie in der Brieftasche des im Kriegslazarett Komorowo in Ostpreußen an Ruhr verstorbenen Wachtmeisters August Angerburg zurück.

Deshalb kann August Angerburg auch auf dem anderen Foto nicht abgebildet sein. Es zeigt: Großmutter in schwarzer ostpreußischer Witwentracht, Martha mit grauen Haaren, Karl, hohlwangig, seine Frau Anneliese in einem karierten Kleid, Anna, sehr dünn, neben ihrem Schneider Gustav, Minna als einzige wohlgenährt mit weißer Schwesternhaube und schwarzer Diakonissentracht, ein silbernes Kreuz auf der Brust: fünfundzwanzig Jahre in Gottes Hut und Dienst, steht darauf. Das freilich kann man auf dem Bild nicht lesen, aber ich weiß es. Und außerdem sind noch mein Bruder und ich abgebildet, sieben und zwölf Jahre alt, mit Gesichtern freilich, die reichlich unbeteiligt daherschauen. Alle werfen schwarze Schlagschatten auf die Wand unserer Wohnstube. Das kommt von dem Pulverblitz, mit dessen Hilfe die Vier-Mark-Agfa-Box, die billigste und zuverlässigste Kamera der Welt, eine wahrhaft deutsche, nein: großdeutsche Erfindung die Szenerie aufgenommen hat. Eine Goebbelsschnauze ist noch zu erkennen in der Ecke neben der Stehlampe. Hinten auf dem Foto steht in Marthas flüssiger Schrift: 1. Advent 1948. Darunter steht noch ein Vermerk in Kurzschrift, den ich nicht entziffern kann. Es wird Stolze-Schrey sein, in Marthas persönlicher Variante. Kein Mensch wird das lesen können. Eine verschollene Mitteilung in einer verschollenen Stenografie. Ich habe Tante Lene gefragt, die ist jetzt dreiundachtzig, war fünfzig Jahre lang Sekretärin an einer Schule (immer derselben, sie hat zweiundzwanzig Direktoren überlebt) und war mit Martha zusammen im Vorstand des Stenografenvereins. Sie nahm die Lupe, humpelte ans Fenster und zifferte. Zwei Worte konnte sie lesen: "Gott" und "Tinte".

Mein Gott, wir sitzen in der Tinte.

IN DER TINTE

In der Tinte saßen sie zuerst 1915. Der Krieg hatte sich mal ganz gut angelassen, die meisten jubelten noch und steckten den ausrückenden Soldaten Blümchen in die Gewehrläufe. Sie schmückten den Tod mit Blumen und sangen "Siegreich wolln wir Frankreich schlagen!"