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Brigitte Birnbaum

Das Schloss an der Nebel

Historische Erzählungen über das Güstrower Schloss

ISBN 978-3-86394-075-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1991 bei
Landesverlags- und Druckgesellschaft mbH Mecklenburg & Co. KG

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Vorm Schloss wollten wir uns treffen. So war es vereinbart. Hier vor dem Fürstlichen Haus zu Güstrow. Ich finde, es sieht noch gar nicht so alt aus, wie es sein soll, auch nicht besonders prächtig. Eher einzigartig und riesig, obwohl von der Brücke aus niemand merkt, dass beinah schon die Hälfte fehlt. Noch immer wirkt es viel zu groß für die kleine Stadt. Ein Palazzo in Mecklenburg. Mir scheint es fremd in dieser Landschaft. Aber das macht wohl mein Ärger, weil ich warten muss.

Wie ein Wachsoldat pendle ich vor dem Torhaus hin und her. Ist das eine Art, mich lauern zu lassen? Da hätte ich mich auch mit Wallenstein oder dem Herzog Ulrich verabreden können. Die Herren wären ebenso wenig erschienen.

Und wenn? Ja, wenn! Was hätte ich dann gesagt? Wie müsste ich ihn ansprechen, den Herzog Ulrich zu Mecklenburg? Mindestens wohl mit „Von Gottes Gnaden Durchlauchtigster hochgeborener Fürst zu Wenden, Graf zu Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herr". Hätte er sich überhaupt ansprechen lassen? Von mir? Mitten auf der hölzernen Fallbrücke, die mit Ketten auf- und zugemacht wurde? Seine Leibgarde würde es mir schon gezeigt haben. Mit llsabe wär ich ins Gespräch gekommen, mit ihr bestimmt. Wenn ihr zum Schwatzen auch selten Zeit bleibt.

Eben hat sie die Borsten aus dem gebrühten Ferkel puhlen müssen, und es liegen noch ein halbes Dutzend geschlachteter Hühner zum Rupfen.

„Späl nich rümmer!", wird sie vermahnt. Die Frau des Obersten Herzoglichen Kochs und Küchenschreibers keift gern, hält aber sofort die Hand über llsabe, wenn einer glaubt, der Kleinen etwas am Zeug flicken zu müssen. Und als sie bemerkt, wie eine der älteren Mägde schadenfroh feixt, der unangenehmen Rupferei zu entkommen, packt die Frau die Elfjährige am Arm und schiebt sie zur Tür. „Geh und sieh nach, ob der Herr Bildschneider und seine Gesellen aufgegessen haben." Das lässt sich Ilsabe nicht zweimal sagen. Die Finger an der groben Schürze abwischend, hüpft sie hinaus in den leichten Mairegen und über den Schlosshof ins Nige Hus. Die eichene Wendeltreppe im Turm steigt sie langsamer nach oben. Fröstelnd bewegt sie die Schultern. In der Küche war es heiß. Auf der Treppe zieht es aus allen Luken.

Fertig ist das Nige Hus noch immer nicht, obwohl daran gemauert und gezimmert und Ziegelsteine aus einem abgebrochenen Kloster herangefahren werden, seit llsabe denken kann. Im August jenes Sommers, in dem sie hier geboren wurde, also Anno 1557, wie man ihr erzählte, hatte dieser Teil der alten Burg eines Tages aus heiterem Himmel in Flammen gestanden. Kein Blitz entfachte das Feuer, keine unbeaufsichtigte Fackel, kein Funken aus dem Kamin. Herzog Ulrich fragte seltsamer Weise gar nicht danach. Er war verreist, als das Unglück geschah und brachte bei seiner Rückkehr gleich den Baumeister für das neue Haus mit, einen gebürtigen Italiener namens Franciscus de Pario de Bizone oder deutscher: Franz Parr.

Des Herzogs königliche dänische Schwiegereltern gaben Geld, damit ihre Tochter Elisabeth nicht in einer Ruine hausen musste. Parr sollte bauen, wie es in Italien schon lange Mode war und wie es Ulrich in Süddeutschland, wo er aufwuchs und studierte, gesehen hatte: mit großen Fenstern in einer Reihe, Verbindungsgängen im Inneren des Hauses; mit Schornsteinen und Kachelöfen; Glasscheiben in den Fenstern und Loggien, von Säulen getragen. Franz Parr versuchte, die Wünsche des Herzogs zu erfüllen. Er baute in die Breite und fünf Etagen hoch, überzog die plastisch geformten, roten Backsteine mit hellem Mörtel und fasste sie farbig.

Aber was schert solches llsabe, zumal Franz Parr nicht mehr im Lande weilt. Längst ist das dänische Geld vermauert, so wurde in der Küche geflüstert, und Parr hatte sich einem anderen Herrn verdingen müssen. Geblieben war sein Bruder Christoph, der Bildschneider, und zu ihm ist das Mädchen geschickt.

llsabe tritt aus dem Turm auf die Galerie, stemmt sich gleich gegen die erste Tür. Sie ist verschlossen. Das Mädchen läuft unter den beiden Fenstern vorbei zur zweiten Doppeltür, an der ihr die Wache den Eintritt versperrt. Der Soldat tut's nur zum Scherz, denn er kennt natürlich die kleine Küchenschabe, und will er's nicht mit der Frau vom Oberhofkoch verderben, lässt er sie besser in Frieden und hinein.

Im Eingang zum Langen Saal verharrt llsabe überrascht. Meister Parr hat Besuch. Außer Jacob und Anton, seinen Gesellen, steht ein Vierter zwischen Holzeimern, Gipstönnchen und dem Durcheinander von Arbeitsgerät. Er steht mit dem Rücken zu llsabe, und sie erkennt ihn nicht sofort. Ihr fällt nur auf, dass Wams, Strümpfe und Schuhe nicht weiß bespritzt sind und von feiner Art. Parr ist von seinem Gerüst gestiegen, das er sich links neben der Tür und über dem Kamin zur Fensternische hin bis kurz unter die Balkendecke errichtet hat. Gewöhnlich klettert er nicht mal zum Essen herab. Jetzt lauscht er kopfnickend dem Mann vor sich, llsabe späht nach dem Schemel mit den Bierkrügen und der Suppenschüssel, kann nicht sehen, ob sie leer ist, weiß nicht, darf sie sie holen. Parr sieht die Kleine, winkt sie aber nicht näher.

Plötzlich springt Geselle Jacob aus dem Hintergrund, bückt sich über den Haufen Hirschgeweihe, hebt eines auf, reicht es dem Meister und der wiederum hält es mit einer Verbeugung dem Besucher entgegen.

Wozu diese vielen Geweihe, überlegt llsabe. Die armen Tiere. Alle tot gehetzt.

Da dreht sich der vor Parr stehende um, schaut hinauf zum Gerüst, und sie erkennt den Herzog. So nah sah sie ihn nie. Sich noch kleiner machend, schmiegt sie sich an die Wand. Hohen Herrn geht ein Mädchen wie sie, zerzaust und nach Hühnerfedern riechend, besser aus dem Weg. Zumal sie nur eine in der Schlossküche Geduldete ist. „Gut, Parr! Mach Er, wie Er meint! Aber mach Er schneller. Und wenn Er mehr braucht", Herzog Ulrich deutet auf den Berg Geweihe am Fußboden, „sag Er's!"

„Mein gnädiger Fürst, eher werd ich Geld für Farben brauchen."

Unvermittelt winkt der Herzog ab und geht an llsabe vorbei, ohne sie überhaupt zu beachten. Groß, breitschultrig, nicht mehr jung, noch nicht alt.

Christoph Parr murmelt unzufrieden. Heftiger als nötig, wirft er die Geweihstange zu den übrigen. Seine Gesellen schwingen sich aufs Gerüst, llsabe tritt nun ein und wagt neugierige Blicke unter die Balkendecke, wo starke, verbogene und mit Werg und Rosshaar umwickelte Schmiedenägel armlang aus der Wand ragen. Wozu diese Gebilde?

Noch immer die Nase nach oben, rempelt sie fast den Meister Parr an. Er fängt sie seitlich ab und staunt über die schwarzen Augen des Mädchens, die sich erschrocken auf ihn richten. Heißt es nicht, im Norden seien alle blond und helläugig?

llsabe flutscht um ihn herum.

„Zu wem gehörst du eigentlich?", fragt er.

„Zu niemand."

„Bist wohl vom Himmel gefallen?" Er lacht gutmütig. Sie zuckt zusammen. Glaubt der Herr Bildschneider etwa auch die Geschichte? Woher kennt er sie? Er kommt doch niemals in die Küche. Er kann doch gar nicht gehört haben, was der Herr Oberste Koch ihr nachredet, wenn er ein paar Becher Branntwein probiert hat und sie ihm unter die Augen gerät. Der Wilde Jäger habe sie im Burghof vergessen, damals, als sie noch einer seiner Hunde gewesen sei. Ungetaufte Kinder mache jener nämlich zu Kötern und hätte man bloß versäumt, sie rechtzeitig zurückzuverwandeln. Einige vom Gesinde glauben tatsächlich, Ilsabe müsse so lange in Menschengestalt herumlaufen, bis der Wilde sie eines Nachts zwischen Weihnachten und Neujahr wieder in sein jaulendes und blaffendes Gefolge, mit dem er durch die Lüfte braust, einreihe.

„Schweig!", fährt dem Küchenschreiber dann seine Frau in die Parade. „Soll die Lütte als Hexe brennen?"

Die Frau weiß, Ilsabe ist die Tochter von Hodika, einer Magd, die aus dem letzten Wendendorf im Güstrowschen stammte. Eigenhändig hatte sie der geholfen, im äußersten Winkel das Kind auf die Welt zu bringen. Den Vater hatte Hodika nie erwähnt. Sie starb an der Pest, als die Kleine gerade laufen lernte.

„Ein Waisenkind also", sagt Parr.