Impressum

Erika und Jürgen Borchardt

Petermännchen

Der Schweriner Schlossgeist

3. umgearbeitete Auflage

Herausgeber: Jürgen Borchardt

ISBN 978-3-931646-83-7 (E-Book)

EDITION digital®
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Von der Vielgestaltigkeit des
Petermännchens

Der weise Schalk im Märchenschloss

Der Schweriner Schlossgeist Petermännchen ist die merkwürdigste Sagengestalt Deutschlands. So urteilte der mecklenburgische Volkskundler Richard Wossidlo (1859 – 1939). Das kann gut sein. Vom Petermännchen gibt es nicht allein mehr als 700 Überlieferungen – eine außergewöhnlich große Zahl für eine einzige Sagenfigur. Dieser Schlossgeist ist auch außergewöhnlich eigenschaftsreich und hat ganz seltsame Eigenheiten. Er ist zwar ein Hausgeist des Schlosses, eine Wohnung und eine Schatzkammer hat er aber auch im See, und in einem Berg soll er eine Schmiede betreiben. Er wandelt auf der Erde, unter der Erde und kann auch durch die Luft reiten. Er macht sich unsichtbar, neckt, lohnt und straft und sagt wie ein Orakel Ereignisse voraus. Und er ist verzaubert, kann jedoch erlöst werden, und das auf ganz unterschiedliche und wundersame Art und Weise. So geheimnisvoll wie das Erscheinen und die Erlösung, so geheimnisvoll sind die Herkunft, die äußere Gestalt und selbst der so einfach klingende Name des Schlossgeistes. All dem gehen wir in diesem Buch nach.

Sagen haben im Unterschied zum Märchen wirkliche, darunter oft geheimnisvolle Erscheinungen oder nicht mehr ergründbare reale Vorgänge zum Ursprung. Und sie werden immer wieder erzählt, wenn man zu diesem Ursprung gelangt. So bleiben sie lebendig.

Ein solcher Ausgangspunkt für Sagenerzählungen ist das märchenhaft anmutende Schloss auf der romantischen Burginsel im Schweriner See. Es ist der Ursprung des geheimnisvollen Petermännchens.

Das Schloss steht auf den Resten einer alten Obotritenburg. Die Obotriten waren einer der nordslawischen Stämme, die im 6. Jahrhundert in das Gebiet des heutigen Mecklenburg einwanderten. Sie schufen sich Hütten aus Flechtwerk und Lehm, lebten von Jagd, Fischfang und Ackerbau, betrieben Weberei und Töpferei und raubten und plünderten gelegentlich bei den benachbarten Franken, Sachsen und Dänen und auf der Ostsee. Die Obotriten errichteten wie die anderen Slawen Burgen mit großen Erdwällen und Holzpalisaden darauf. Hier suchten sie Schutz bei Überfällen, bewahrten ihre Vorräte und Reichtümer auf und huldigten ihren Göttern. Die Hüter der Tempel und die Ältesten bewahrten die Erfahrungen, Bräuche und Geschichten des Stammes in ihrem Gedächtnis auf und erzählten sie von Generation zu Generation weiter. Sicherlich war das Zusammensein auf der Burg im Schweriner See auch Anlass, die Geschichten von den Ahnen des Stammes und ihren Geistern weiter zu geben. Die Burg gehörte zu den Herrscherburgen. Und unser Petermännchen soll mit den Obotritengöttern in einem Zusammenhang stehen. So jedenfalls dachte einer der bedeutenden mecklenburgischen Schriftsteller vor 200 Jahren, Johann Friedrich Löwen (1727 – 1771). Er hielt den Schlossgeist für einen Abkömmling des slawischen Gottes Rhadegast. Petermännchen wäre auch im Besitz eines Zauberbuches und würde Weissagungen zu künftigem Geschehen machen. Zu dieser Annahme gibt es einige Sagen, die sie bestätigen.

Im 12. Jahrhundert eroberten die Deutschen das Mecklenburger Land. Der letzte freie Obotritenherrscher Niklot brannte die Burg auf der Insel im Schweriner See ab. Wenig später fiel er im Kampf. 200 Jahre lang residierte dann das Geschlecht des deutschen Grafen Gunzelin von Hagen auf dieser Insel. Danach wurde sie Sitz der mecklenburgischen Herzöge und Großherzöge. Sie waren die Nachfahren von Niklots Sohn Pribislaw, dem ersten Obotritenfürsten im deutschen Reichsverband. Nicht unbedingt durch ihn, aber womöglich durch seine Leute wurden die Geschichten aus ihrer früheren Welt weiter getragen. Und verschmolzen mit denen aus der neuen Zeit.

Von der alten Slawenburg jedenfalls blieben Reste erhalten. Auf ihnen ruhen nun Kellergewölbe aus dem 15. Jahrhundert. Darauf wiederum stehen Häuser aus dem 16., 17., 18. und 19 Jahrhundert. Erst vor 150 Jahren fügte man all diese verschiedenen Bauten zu dem Schloss in seiner heutigen Gestalt zusammen.

Auf der Insel und in den Gebäuden darauf ereignete sich zu deutscher Zeit im Laufe der Jahrhunderte manch Seltsames. Fremde Feldherren wurden wie von Geisterhand vertrieben, Diebe auf unerklärliche Weise gestraft, Zimmermädchen fanden sich mit Gold belohnt, schläfrige Wachsoldaten ihr Gewehr zerlegt, ein Prinz rätselhaft geheilt. All das und viel mehr wird in den Sagen dem Schlossgeist zugeschrieben.

Viele hundert Sagen, oft nur ganz kurze Berichte, existieren inzwischen über das Petermännchen. Sie wurden und werden von Generation zu Generation überliefert, auch verändert entsprechend dem Empfinden der jeweiligen Erzähler, ihrem Erleben und Glauben. Manche Geschichten sind auch neu gebildet oder (möglicherweise) mit anderen Sagenkreisen verknüpft. Was an die älteste Zeit der Obotriten erinnert, ist sehr verwischt, bruchstückhaft. Aber es ist da.

In den überlieferten Geschichten ist das Petermännchen ein Zwerg, der an das Schloss gebunden ist, also ein Hausgeist. Aber er hat eine Wohnung und eine Schatzkammer auch im Schweriner See und im Ziegelsee. Er wandelt durch die Stadt, über der Erde und unter der Erde, selbst auf dem Weg nach Ludwigslust soll er gesehen worden sein. Er soll im Petersberg beim nahe gelegenen Pinnow eine Schmiede betreiben und von dort durch die Luft zum Schweriner Schloss geritten sein. Er kann sich unsichtbar machen, neckt, lohnt und straft und sagt Ereignisse voraus. Unser Schweriner Petermännchen ist also ein Haus- und ein Wandelgeist, ein Wasser- und ein Luftgeist, ein Erd- und ein Berggeist, einer, der Späße macht und einer, der über die Taten der Menschen richtet und der Ereignisse voraus sagt, ein Neckgeist und ein richtender Geist und ein Prophet dazu. Er besitzt Göttern ähnliche Eigenschaften.

Petermännchen war nicht immer ein Zwerg. Er ist verzaubert und kann erlöst werden. Seine ursprüngliche Gestalt gewinnt er wieder auf sehr verschiedenartige Weise, u. a. indem man ihm den Kopf abschlägt. Das ursprüngliche Leben gewinnen durch Sterben? Diesen Vorgang kennt man im christlichen Kulturkreis auf jeden Fall aus dem Neuen Testament: Jesus Christus kehrt durch den Tod am Kreuz zurück auf seinen Platz neben Gottvater.

Wir erkennen: In der Sagengestalt des Petermännchens steckt mehr als einer der üblichen in Deutschland verbreiteten Schlossgeister. Und nun verstehen wir schon eher, wieso Richard Wossidlo den Schweriner Schlossgeist für eine der merkwürdigsten Sagengestalten Deutschlands hielt. Eine solch eigenschaftsreiche Figur finden wir wohl nicht noch einmal in der deutschen Sagenwelt. Auf jeden Fall ist das Petermännchen heute so verbreitet, dass es geradezu symbolisch für die Stadt steht. Lukullisches und Touristisches, Produkte und Veranstaltungen, Firmen und Fahrzeuge tragen seinen Namen. Das eigentliche Wahrzeichen Schwerins, das Reiterbildnis Heinrichs des Löwen, neben Kaiser Barbarossa einst mächtigster deutscher Herrscher, Eroberer Mecklenburgs und Gründer der Stadt, hat unser Petermännchen weit in den Schatten gestellt.

In den Sagen über das Petermännchen begegnen sich dem sozialen und geschichtlichen Inhalt nach – mehrere Strömungen und Strebungen.

Zum Ersten des Volkes Erzählen über den Geist, der Gerechtigkeit herstellt, die Guten belohnt und die Bösen bestraft – eine uralte und untilgbare Sehnsucht, solange das Gegenteil existiert. Die Geschichten drücken auch eine Hoffnung aus, dass Ungerechtigkeit besiegbar sei, wie auch immer.

Zum Zweiten lebt in einigen Sagen die Vorstellung von einem Geist, der Beschützer von Schloss und mecklenburgischem Fürstenhaus sei. Ihm wird in diesem Zusammenhang die Gabe der Weissagung zugesprochen: Mit farbig unterschiedlicher Kleidung verkündete er dem Fürstengeschlecht gute und schlechte Ereignisse.

In anderen Sagen ist das Petermännchen aber auch ein verwunschener Königssohn, mit dessen Erlösung das Schloss mitsamt der herzoglichen Familie in Blut und Wasser untergehe. Das alte Schwerin steige dann aus dem See empor und Petermännchen werde Erbe des Königreiches Mecklenburg. Ein seltsamer Widerspruch, nicht wahr?

Zum Dritten kam durch eine Deutung die Idee auf, Petermännchen wäre ursprünglich eine Lichtgottheit des slawischen Stammes der Obotriten gewesen. Dieser Obotritengott wäre dann besiegt worden durch den Gott der Christen. Deshalb erschiene er nur noch in Zwergengestalt, habe aber wenigstens das Schwert bzw. den Dolch als Zeichen seiner göttlich-richtenden Gewalt und die Laterne als Lichtgeber behalten.

Schließlich besitzt die Gestalt Eigenschaften eines Schalks, also gute Voraussetzungen, auch Humor und Witz der die Sagen Erzählenden zum Tragen zu bringen.

Der unmittelbare historische Hintergrund

Ein Zwerg verteilt Ohrfeigen

Urkundliche Nachweise über einen möglichen realen Ausgangspunkt für den Glauben an diese Sagenfigur findet man im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv. Im Jahre 1705 ist von einem kleinen Mann im Schweriner Schloss die Rede, dessen Benehmen recht ungewöhnlich zu sein schien. Niemand konnte es sich erklären. Für den Amtmann Knegendorf, der sich kurzzeitig im Schloss aufhielt, war der Vorfall so bedeutsam, dass er in einem Brief seinem Herrn, dem Strelitzer Herzog Adolf Friedrich, darüber berichtet: „Es soll sich alda, wie ich nunmehro für gantz gewiß erfahren, ein kleiner Mann sehen lassen, welcher anfangs ein schwartzes Kleid gehabt, anitzo aber im weißen Kleide erscheinen soll: Er soll zweyen Laquayen schon tüchtige Ohrfeigen gegeben haben.“

Fast ein halbes Jahrhundert danach ist erneut von einem (oder demselben) kleinen Mann im Schloss die Rede. Die Witwe des Daniel Gardemin, eines Anfang des 18. Jahrhunderts (also zur Zeit Knegendorfs) im Schloss angestellten Kammerlakaien, wird verhört und am 12. November 1747 ein Protokoll darüber angefertigt. Hier erfährt man nicht nur, dass das „kleine Mängen“ Schläge verteilte, sondern auch den Grund dafür. Es wehrte sich nämlich seiner Haut! In dem Bericht der Witwe heißt es über das „Mängen“, dass es ganz und gar „nicht fürchterlich von Angesichte“ gewesen sei, „wen er aber durch schelt- und Fluchworte sey angegriffen, were des Nachts ein solches Gepolter über ihrer Cammer gewest, dass keiner kein Auge hätte zu thun können“. Daniel Gardemin war einmal so unbesonnen gewesen, das „Positürgen“ zu beschimpfen und ihm sogar zu drohen, es mit einer Flasche zu schlagen. Daraufhin hätte selbiger „eine solche derbe Ohrfeige zum recompens bekommen, dass er über eine halbe Stunde ohne Empfindung gelegen, bis ihn andere gefunden, mit Eßig bestrichen und so weggebracht, da sein Kopf denn einige Tage darauf noch mahl so dicke wie ordinair gewest.“

Das anmaßende Verhalten des Kammerlakaien mag dem Männlein Anlass gewesen sein, ihn auch auf andere Art zu bestrafen, wie Frau Gardemin weiter berichtete: „Einstmahls were er, der Gardemin, nebst einem Pagen, dessen Nahme entfallen, zu bette gangen, welcher deßfallß bey ihm geschlafen, weil Ihr Herr zeitig außwollen, hetten eine Keule vom Lämmerbrathen zum Frühstück auf dem Tische liegen gehabt, und beyde mit offenen Augen gesehen, wie das Mängen gekommen, nach dem Brathen gegriffen, und unter großem Gelächter damit fortgelauffen, hetten auch des andern Morgens, allem suchen ohngeachtet, nichts davon wieder gefunden.“

Dem Gardemin gegenüber benahm sich das Männchen dreist, auch dem Herzog wusste es Respekt einzuflößen: „Dieses Mängen were gedachter Gardemin so gewohnt und dreiste geworden, dass er es öfters auf einer gewissen Windel-Treppe (so sich oben auf der Seite befunden, wo der Gottsel. Durchl. Herzog logiert gewest), in welchen Öffnungen umb der Treppe her es so eben hette stehen können, mit dem Lichte nahe ins Gesichte geleuchtet, wobey es gantz stille gestanden, gar offte vor und neben ihm gegangen, auch einstmahls wie er seinen Durchl. Herrn des Abends späte über die Gallerie geleuchtet, Höchstderselbe gesaget: ‚Daniel, mich werden die Haare am Kopfe kriechend und mich schaudert so. ‘ ‚Ja, Gnädigster Herr‘, were seine Antwort gewest, ‚sehen Sie nicht, was Wir vor Gesellschaft bey unß haben? ‘ Worauf dieselbe ihm schweigen heißen und gesaget, Sie sehen nichts.“

Aber auch andere fürchteten sich, wie wir in demselben Bericht von 1747 weiter erfahren: „Hanß Christoph Dankward, Fürstl. Sahl-Knecht hieselbst, Verzehlete und versicherte mir Gestern gantz feste, offt erwehntes Mängen Zu denen Zeiten einmahl gesehen zu haben; sein bey sich habender Mops, were solchen eher alß Er gewahr geworden; Er hette vorm rothen Gemach am Camin in vorbeschriebener Kleydung gestanden. Weil er sich nun gefürchtet und ihm überdem die Sprache schwer würde, hette er nicht fragen mögen, wer er were, oder was er wollte? Sondern were wieder hingegangen, wo er herkommen.“

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Berichte Knegendorfs und der Frau Gardemin – beide beziehen sich wahrscheinlich auf dieselben Ereignisse am Anfang des 18. Jahrhunderts – mit einem tatsächlich im Schloss lebenden Hofzwerg zusammenhängen. Es war damals üblich, sich Hofzwerge zur Belustigung zu halten. Sie hatten aber keinerlei Rechte. Es ist durchaus möglich, dass ein Energischer und Pfiffiger unter ihnen sehr wohl zu Mitteln wie den oben berichteten griff. Dieser wusste sich offenbar unter Ausnutzung des Aberglaubens Respekt zu verschaffen. Und die Ereignisse um ihn waren für Herrscher wie Untertanen so beeindruckend, so sagenhaft, dass sie Anlass und Ausgangspunkt für mystische Geschichten bildeten. Oder aber sie belebten schon vorhandene Geschichten neu und bereicherten sie, überlappten sich mit einem vorhandenen Sagenkreis. Doch dazu später.

Die Existenz eines Hofzwerges am mecklenburgischen Hof kann auf jeden Fall als gegeben vorausgesetzt werden. Das beweisen u. a.:

das Bildnis des Hofzwerges Hartwig Kremer mit dem Porträt der Herzogin Louise Friderike von Mecklenburg-Schwerin, 1776 von dem damaligen Hofmaler Georg David Matthieu gemalt – also in der gleichen Zeit, in der die Geschichten um das kleine „Mängen“ im Schloss kursierten;

die Rechnungen u. a. von David Hollin für Monsieur Cäsar und Monsieur Kremer für verfertigte Schuhe, Stiefel u. a. vom 8. Juli 1782 („Monsieur Cäsar gelbe Saffi an Pampuschen für 1 Reichsthaler“);

die Akte der Hofzwergin Lisette Schacht, die fast 40 Jahre im Ludwigsluster Schloss im Hofdienst stand (einzusehen im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv).

In gewisser Weise kann auch der Bericht der Witwe des Kammerdieners Gardemin so gewertet werden, da Gardemin sich nicht über das Vorhandensein des kleinen Mängen wunderte, sondern sich lediglich über dessen Gebaren ärgerte, vor ihm herzugehen, ohne ihm unverzüglich Platz zu machen.