Impressum

Dorothea Iser

Neuzugang

ISBN 978-3-86394-379-0 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 beim Verlag Neues Leben, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2012 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
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1. Kapitel

Jutta Timmendorf hatte eine Neue vom Büro abzuholen. Sie sprach ruhig über die künftige Arbeit in einer Zwiebackfabrik und erzählte auch von den anderen Mädchen der Gruppe. Was waren schon Gitter vor den Fenstern. Wer ein paar Wochen hier war, dem fielen sie überhaupt nicht mehr auf.

"Es wird manches anders sein, als Sie denken", sagte Jutta Timmendorf zu Wietha, die schweigend neben ihr über den Parkweg ging. Die erste, die ihr ganz anvertraut wurde. Sie sollte sich nicht fürchten. Deshalb zählte Jutta Timmendorf auf, wie schön es hier sein konnte. Sie redete von Kino und Ausgang und Taschengeld. "Wenn die Bäume erst blühen, dann sitzen wir unter der Robinie, manchmal grillen wir auch." Damit kommst du ihr nun, dachte sie. Du könntest deine Aufzählung auch mit: du musst, du sollst, du darfst beginnen.

Wietha setzte den Koffer ab, um ihn unter den anderen Arm zu klemmen. Sie war zierlich und blass. Unvorstellbar, dass sie schon zwei Jahre mit einem Mann zusammen gelebt hatte. Die passte eher in eine achte Klasse, vielleicht auf der letzten Bank sitzend, sich wegträumend in ihre Welt. Jutta Timmendorf erinnerte sich solcher Träume in langweiligen Stunden. Man verwandelt das Klassenzimmer in eine Grotte und wartet auf den Erlöser.

"Und rauchen? Ich kann's mir sowieso nicht abgewöhnen." Das waren Wiethas erste Worte.

Im Erzieherzimmer der Gruppe, das Kammer genannt wurde, weil früher die Regale mit Wäsche vollgestopft waren, füllte Jutta Karteikarten aus. In der Kammer war es dunkel, und es roch nach Kernseife. Während Jutta eine freie Wäschenummer heraussuchte und nach der Schuhgröße fragte, sagte Wietha: "Hoffentlich findet er mich hier."

Wietha presste die Lippen fest aufeinander und richtete sich auf. Sie knabberte an den Nägeln, nahm dann erschrocken die Hand zurück.

"Dich hat niemand verschleppt, Wietha." Das vertraute Du korrigierte Jutta im nächsten Satz. "Schon morgen werden Ihre Eltern wissen, wo Sie sind." Sie fühlte Wiethas Misstrauen, ob sie "du" oder "Sie" sagte. Schlimmer, es wäre anders. Auch das gibt es schon am ersten Tag: Ich verspreche, was Sie wollen, Ehrenwort. "Wenn ich etwas vergessen habe zu erklären, fragen Sie mich, dafür bin ich ja da." Und nicht nur dafür, dachte sie. Noch waren andere Dinge wichtig, zum Beispiel das Ausfüllen der Kleiderkarte. Na gut, Ordnung musste sein, also Eintragen aller mitgebrachten Sachen.

"Meine Sachen?" Wietha war erschrocken und sah auf den Koffer, den sie mit der Fußspitze bis an die Wand gerückt hatte.

Jutta dachte, sie schämt sich, wahrscheinlich ist schmutzige Wäsche dabei. Sie wollte es Wietha leicht machen, deshalb sagte sie: "Sie brauchen mir nur immer die Anzahl zu nennen. Wie viel Blusen, wie viel Pullis, wie viel Röcke, Hemden, BHs, Slips und Strümpfe."

Wietha reagierte nicht.

Mach kein Problem daraus, dachte Jutta. Weigerung, Verweigerung, Bestrafung. In der Sprache des Pädagogiklehrers: Sanktion. Die Kollegin Mariechen nannte so etwas einen Ballon aufblasen. Mariechen müsste das Fach "Praxis" am Institut lehren, aber dann würde sie dem Werkhof fehlen, denn ohne sie lief nichts, selbst das, was mit ihrem Gewerkschaftsposten nichts zu tun hatte. Stell dir das vor, Jutta, würde sie sagen, so ein Mädchen, vielleicht war sie gerade beim Freund, wird weggerissen von ihm, freiwillig wird sie nicht gehen, sie kann nur an ihn denken, ob du es gut meinst oder nicht. Verdammt noch mal, ich verstehe ja, dachte Jutta. Vielleicht ist es schlimm oder, was schlimmer ist, inkonsequent, denn es gibt eine Kollegin Mentorin, die heißt Karin Hallamat, ist Gruppenerzieherin in deiner Gruppe, und die nennt inkonsequent, wie du dich verhältst. Das willst du nicht, aber du fühlst, dass du diese Wietha nicht herausfordern kannst. Karin würde sagen, wir haben fünfundzwanzig Mädchen in der Gruppe, da muss man durchgreifen. Du nennst das bürokratisch. Deshalb sagst du zu Wietha: "Lassen wir den Koffer hier, bis Sie ihn holen wollen. Schreibe ich nur auf, was Sie tragen." Jutta begann mit dem Ausfüllen der Kleiderkarte: Parka, einen, Pullover, langärmlig, einen...

Wietha saß starr auf dem Stuhl und sah aus dem Fenster. Sie dachte an den Tag, an dem sie bei ihrer Mutter angekommen war.

 

Wietha ist das kleine Mädchen, das sich freut. Endlich darf sie zur Mutter fahren, von der die Oma zum Opa sagte, da kommt sie wieder, die Bunte mit ihrem Mann, wenn sie Wietha im Siedlungshaus besuchte und Wietha ihnen entgegenlief. Der Vater warf seine kleine Tochter vor Freude in die Luft. In seinem Arm schaukelte sie wie in Großvaters Kahn. Die Mutter duftete. Wenn sie weinte, verliefen ihre Farben im Gesicht. "Bald nehmen wir dich mit, mein Kleines", sagte sie.

Das Kleine wartete viele Jahre. Die Mutter schrieb nur noch: Vater hat uns verlassen, aber wir haben ein Baby. Es heißt David. Komm!

Während die Großmutter sagt: "Du kannst immer zurückkommen", probiert sie in Gedanken schon das Wort "Mutter", und als sie es zur Mutter sagt, die sie vom Bahnhof abholt, beugt die sich zu ihr hinunter, flüstert: "Sag doch Traudel zu mir, Kleines, wir tun, als wären wir Schwestern. Unser Geheimnis ist das. Ich bin nicht allein gekommen. Auf dem Parkplatz wartet Peter."

Das Kind stottert die Begrüßung und wünscht sich, endlich mit der Mutter allein zu sein. Die Fahrt im Auto scheint endlos. Dann folgt das Kind der Mutter durch ein dunkles Treppenhaus.

"Das wird bald abgerissen", sagt die Mutter. "Dann bekommen wir eine schöne neue Wohnung."

Vor einer Tür mit dickem Rubbelglas bleiben sie stehen. Die Mutter schließt auf und schiebt Wietha in einen langen Korridor. Sie muss sich an das matte Licht gewöhnen - und dann die Geräusche. Es brummt und quietscht und rauscht. Die Mutter nimmt sie endlich an die Hand und erklärt: der Kühlschrank, die Wasserleitung, die Toiletten.

"Das Baby", erinnert das Kind, und die Mutter führt sie zu David, der friedlich in seinem Körbchen schläft. Die Mutter streichelt das Gesicht ihrer Großen. "Es wird nicht leicht sein mit ihm", sagt sie. "Manchmal weint er den ganzen Tag."

"Er hat gelacht", flüstert das Kind, "richtig gelacht. Mutti, kann er schon träumen?"

"Wirst du ihn lieb haben?" Die Mutter drückt ihr Kind und zieht es dann vom Körbchen fort. "Hier wirst du schlafen", sagt sie und öffnet die Tür zu einem winzigen Zimmer, in dem das Fenster fehlt. "Und hier packst du deine Sachen rein."

"Ist das die Speisekammer? Oma hat gesagt, bei dir muss ich in die Speisekammer ziehen."

"Ach was, Oma denkt, ich habe dich nicht lieb."

"Oma sagt, du brauchst ein Dienstmädchen. Was ist denn das, Mutti, warum sagst du nichts?"

"Vergiss, was Oma gesagt hat..."

"Aber Oma hat gesagt..."

"Sei still, hörst du, du sollst still sein." Die Mutter zieht mit spitzen Fingern Wiethas Wäsche aus dem Koffer. Sie hält sich die Nase zu und stöhnt. "Oma mit ihren Mottenkugeln. Sie soll sich selbst einmotten lassen." Die Mutter reißt das Küchenfenster auf. Sie zupft ein Stück nach dem anderen aus dem Koffer heraus. Sie lacht und hopst zwischen der verstreuten Wäsche herum. "Mein Kleines trägt Omawäsche." Nun hört sich das Lachen wie Weinen an. Die Mutter klappt die Ofentür herunter und steckt ins Feuer, was sie in die Hände bekommt. Alles, was das Kind besitzt, verbrennt. Die Augen tränen. Die Mutter will Wietha fortziehen.

 

Jutta Timmendorf stand auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Sie wollte den Koffer ins Regal schieben. Wietha war schneller. Sie griff zu und umklammerte ihn. Sie hörte nicht, was Jutta sagte. Sie riss ihn selbst auf, kippte ihn aus. "Sind Sie nun zufrieden", schrie sie.

Jutta erschrak. Um das zu verbergen, beugte sie sich über die Sachen und fischte etwas Rotes heraus. "Ist doch eine hübsche Bluse", sagte sie erleichtert. Wietha schlug sie ihr aus den Händen und zerriss sie. Dann stand sie erschrocken da, sah von einem Fetzen zum anderen. Jutta drehte sich schnell um.

2. Kapitel

Jutta wirkte verkrampft. Karin Hallamat gab ihr Tipps, die begannen: Ich an deiner Stelle würde... Sie sagte auch etwas über neue Mädchen, die Zeit brauchten. "Wietha macht keine Ausnahme. Lass sie in Ruhe, aber verlier sie nicht aus den Augen."

Was Karin sagte, stimmte. Wietha wurde hin und her geschoben und stand doch nur im Weg. Schon beim Wecken fiel sie auf. Wenn Licht und Radio eingeschaltet wurden, drehte sie sich erst auf die andere Seite.

"Gleich aufstehen, das kann ich nicht", rechtfertigte sie sich, wenn die anderen maulten, weil sie auf "Frolleinchen" warten mussten. Damit hatte sie ihren Spitznamen weg. Wenn Frolleinchen zum Frühsport erschien, waren die anderen schon fertig. Also musste sie die Runden allein laufen. Kam sie endlich in den Waschraum, war natürlich kein Becken frei. Sie musste warten, baute ihr Bett, wenn die anderen vorm Speiseraum standen, auf sie schimpften, weil sie alles verzögerte. Kein Wunder, dass sie in der Eile das Laken nicht glatt zog und die Decke nicht auf Kante legte, kein Wunder also, dass sie von der strengen Holle zurückgerufen wurde, wenn sie zum Rauchen wollte.

"Ich bin Holle, rund wie Rolle", hatte sie sich Wietha am ersten Tag vorgestellt. Im gleichen Ton sprach sie auch über die anderen aus dem Zimmer. "Festus, unsere Westernmieze, Isso, der Streithammel, und unser erster FDJ-Sekretär, genannt Kingkonny oder Kornelia, der Quark ist da. Und wer bist du? Das Frollein redet wohl nicht gern?"

Holle war vor einem Jahr gekommen. Sie kommandierte und kontrollierte, was Wietha nicht verstehen konnte. Holle spielte sich auf. "Was ich sage, musst du machen. Ich bin in der FDJ-Leitung."

"Na und!"

"Wenn du deine Sachen für den nächsten Tag schon am Abend zurechtlegst, schaffst du's morgens mit links. Wenn nicht, bekommst du weniger Taschengeld, und wenn das nichts hilft, musst du in der Gruppenversammlung dazu Stellung nehmen."

Das ließ Wietha kalt. Holle musste sie begleiten, ob zum Röntgen oder ins Labor. Solange Wietha keinen Gesundheitsausweis hatte, arbeitete sie tagsüber im Werkhof. Ihr war das gleich, aber Holle sagte: "Im Betrieb ist es viel besser." Sie ging jedes Mal in den "Kleinen Wilhelm", wenn sie auf Wietha aufpassen sollte, und brachte von einem guten Kumpel ein paar Zigaretten mit.

"Bild dir nichts ein, Frolleinchen, ich muss dich einweisen, aber meine Freundin wirst du nie."

Auch als Wietha zum ersten Mal mit zur Schicht fahren durfte, war Holle neben ihr. Die Neue einzuweisen gehörte zu ihren Aufgaben. Jutta brauchte Holles Hilfe. Die Mentorin Karin sagte: "Das klappt besser, als du denkst. Gewöhne sie nicht daran, dass du für sie regelst, was ihr unangenehm ist."

Die Mädchen stiegen in den Schichtbus, der sie den Siebenstieg hinunter in den Betrieb brachte. Wietha sah auf die Stadt, aus deren Nebelpelz ein paar Lichter blinkerten. Sie fuhren durch enge Straßen. Die Kaufhäuser lockten. Wietha wünschte sich hinter die hellen Fenster der Wohnungen. Es musste in den Stuben warm und behaglich sein. Der Mann wird vielleicht zur Frau heranrücken und ihr seine Hand aufs Knie legen, so wie es Peter bei der Mutter tat, bevor sie aufstanden, um sich über Davids Körbchen zu beugen.

Die Straßen waren leer. Wietha fühlte sich im Bus gefangen und hätte am liebsten die Faust geballt und an· die Scheibe getrommelt.

"Nachtschicht ist die beste Schicht", sagte Holle. "Dabei vergeht die Woche wie verrückt. Wenn du früh ins Heim zurückkommst, hat der neue Tag angefangen, wenn du aufstehst, ist er so gut wie gelaufen."

Der Bus fuhr durch Nebenstraßen, wendete auf einem Parkplatz und hielt. Die Beutel wurden gegriffen. Wietha folgte Holle. Sie konnte nicht verstehen, warum es alle plötzlich so eilig hatten, es ging doch zur Arbeit. Die Mädchen sammelten sich und umringten eine Frau. Wietha beantwortete alle Fragen nur kurz, dass Holle sich immer wieder einmischte und erklärte: "Aus der zehnten Klasse ist sie abgegangen, aber Abschluss hat sie nur von der neunten, stimmt doch, Wietha? Gearbeitet? Ich glaub nicht, oder hast du schon?"

Wietha nickte mal oder schüttelte den Kopf. Sie liefen über eine Betonfläche, vorbei an Schaukästen, einer Tafel, einer Losung. Hinter den Fenstern tauchten Gesichter auf und verschwanden wieder. Hier bewegte sich alles nach für Wietha undurchschaubaren Gesetzen. Sie bewegte sich schon mit, ließ sich treiben, ohne zu fragen, wohin, weshalb, in den Flur hinein, eine Treppe hinauf, in einen schmalen Korridor, einen Umkleideraum. Die Frau schloss ihn auf. Sofort füllte er sich mit Licht und Lärm. Die Frau wickelte sich aus dem großen Tuch. Während sie ihr Haar kämmte, es war kurz und kraus, und die Lippen mit einem Stift nachzog, lachte sie. Sie hörte nicht, wie Holle das in der anderen Ecke des Raumes mit spitzem Mund kommentierte: "Fräulein Freund ist immer munter, hatte sie Besuch von Gunther."

Wie sollte sich Wietha in dem Durcheinander zurechtfinden? Fräulein Freund suchte ihr einen Kittel. Die ersten Mädchen waren fertig und schlossen ihren Spind zu. Isso stand an der Tür und ließ nur die hinaus, die ihre Hauben wie einen wirklichen Schutz trugen.

"Das Haar muss aus der Stirn, richtig unter die Haube und mit zwei Klemmen festgesteckt werden, wir sehen alle so abgeleckt aus, is so", erklärte sie.

Wietha stand vorm Spiegel und zupfte ein paar Locken heraus, aber Fräulein Freund sagte: "Wer nicht hört, muss das Haar kurz tragen."

Wiethas Stimme klang fremd, als sie sagte: "Mein Haar schneidet mir niemand ab. Lieber lass ich mich einsperren."

Sie dachte, ich will nicht wieder Angst haben müssen. Es gab etwas, was gegen Angst half, das wusste sie von Peter. Durch ihn hatte sie den Regenfisch entdeckt.

 

Sie wohnt seit wenigen Wochen bei der Mutter, zu der sie Traudel sagen soll. Wenn Peter kommt, versteckt sie sich nicht mehr. Sie freut sich. Ein weißes Tuch liegt auf dem Tisch, Apfelsahnetorte wird angeschnitten, gute Tassen werden aus dem Schrank geholt, während Kerzen brennen. Die Familie sitzt friedlich beisammen.

"Warum bleibst du nicht bei uns?", fragt Wietha.

Peter rutscht tief in den Sessel und streckt die Beine lang aus. "Komm mal her", sagt er, fasst in seine Tasche und holt eine bunte Glaskugel heraus. Er hält sie zwischen Zeigefinger und Daumen gegen das flackernde Kerzenlicht. Die Farben schwimmen im Licht, und die Luftblasen perlen wie im Aquarium. Da formen sich die Farben zu Fischen. Sie wollen hinaus, aber rutschen an den glatten Rändern immer wieder nach innen weg. Wietha drückt mit der Hand ein Auge fest zu, um besser sehen zu können. Peter beugt sich auch zum Licht. Wietha drückt nun die Hand auf das andere Auge, als könnte sie dadurch den Fischen helfen, sich zu befreien. Und tatsächlich! Sie schwimmen im Zimmer. Wietha jubelt und sieht Peter an. Der schönste aller Fische schwimmt auf ihn zu. Peter lacht und umspannt mit der Hand ihren Nacken.

Da grapscht David zu.

"Meine Kugel!" Wietha wischt Tränen in ihren Ärmel.

"Lass sie ihm", sagt die Mutter.

Peter fasst Wietha unters Kinn und hebt ihr Gesicht. "Wer den Regenfisch einmal gesehen hat, dem erscheint er immer, wenn er Angst hat."

Wietha blinzelt, und der Fisch kommt.

 

"Nun kommen Sie endlich", forderte Fräulein Freund Wietha auf.

Wietha wünschte, der Regenfisch würde das Fenster mit seinem Maul aufstoßen und käme hereingeschwommen. Er könnte den Raum verwandeln, das hatte er immer gekonnt.

"Sie sind bestimmt schon neugierig auf Ihre Arbeit", sagte Fräulein Freund. "Hier wird gebacken. Zwieback und Brot, aber das wissen Sie natürlich längst."

Wietha blieb auf dem Stuhl sitzen.

"Mit dem Brot beliefern wir die Stadt, und der Zwieback, was denken Sie, wohin der überall verschickt wird. Bis nach Berlin."

"Ich mag keinen Zwieback."

"Das kommt noch, wenn Sie erst hier arbeiten. Wissen Sie eigentlich, woher der Zwieback seinen Namen hat?" Sie hob die Stimme, als warte sie auf Antwort. Das waren die einzigen Pausen, die sie sich beim Reden erlaubte.

"Also für zwie kann man auch zwei setzen. Zwieback wird zweimal gebacken, richtig."

Weil Wietha stumm blieb, wurde Fräulein Freund noch beredter. Über eine schmale Treppe kamen sie in die Abteilung Einback hinunter.

"Hier wird der Teig von den Teigmachern geknetet, wie bei Muttern zu Hause, nur ein bisschen größer ist alles." Fräulein Freund lachte. "Die Bottiche werden gewogen, dann muss der Teig eine Weile stehen wie Hefeteig. Der Bottich wird hinaufgezogen, angekippt, der Teig fließt vor bis zur Gabelung, von dort rutscht er durch zwei Arme in kleinere Kübel. Hier müsste eigentlich Isso stehen." Sie sah sich suchend um, fragte Konny, die den vollen Bottich die zehn Meter zur Waage zu ziehen hatte: "Wo ist Isso?"

Wietha blieb an den Bottichen stehen. Wenn man da reinfällt, dachte sie, dann klebt man wie die Wespe im Sirup. Wietha war betäubt vom Lärm der Maschinen, der Ventilatoren. Mehlstaub brannte in den Augen. Menschen kamen und gingen. Sie lachten, schimpften, prüften, zogen, schoben, karrten. Einige von ihnen erkannte sie. Holle winkte ihr zu. Wietha, die zu ihr wollte, lief gegen einen Wagen, der aus übereinander gestapelten Holzrosten bestand. Sie trat erschrocken zur Seite, stieß an eine Wanne und fing sich mit den Händen, die in einer weichen Margarine-Zucker-Masse versanken.

Holle lachte. Sie stand neben zwei Frauen, die sich von Wietha nicht ablenken ließen. Auch Holle konnte nicht weg.

"Das schaffe ich nie", sagte Wietha und staunte über die sicheren Griffe, mit denen der Teig gleichmäßig in die Formen verteilt wurde.

Fräulein Freund kam mit einem Gegenstand, der aussah wie ein langes Brotmesser. "Ihre erste Arbeit", sagte sie.

Wietha kletterte hinter ihr auf die Plattform. Wietha sollte "anschneiden", Fräulein Freund machte es vor. Sie drückte das Messer bald links, bald rechts in die Teigmasse, damit sie sich nicht staute. Wietha bewegte sich wie im Tanz. Als eine Hand ihr Fußgelenk umschloss, fuhr sie erschrocken herum. Was wollte der Mann?

"Mache ich das richtig?", fragte sie.

"Einwandfrei machst du das."

"Schnell genug?"

"Du musst das nicht so verbissen sehen", sagte er. Er war plötzlich neben ihr und umarmte sie. "Einwandfrei, du." Er ließ Wietha los, weil der Meister kam.

Und links und rechts und links... Inzwischen schmerzten die Handgelenke. Konny, die vorbeikam, sagte: "Du darfst nicht zu fest anfassen, das gibt Blasen."

Wie lang eine einzige Stunde sein konnte. Wietha sah den Teig auf sich zukriechen. An der Gabelung, in Kinnhöhe etwa, staute er sich, bevor er sich in zwei Ströme teilte. Sie hatte Schmerzen im Rücken, die bis in den Hinterkopf stiegen, unter der Kopfhaut saßen und in die Stirn kamen. Der Teig begann zu leben. Er streckte unermüdlich seine Arme nach ihr aus. Sie schlug die Arme ab, links, rechts und wieder links, aber sie wuchsen ihm aufs Neue. Wietha kämpfte. Sie verlor das Gefühl für Raum und Zeit. Als die Ablösung kam, setzte sie sich auf die unterste Stufe. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Fräulein Freund nahm sie mit in den Speiseraum.

"Wietha, warum machen Sie sich so fertig?" Zu Jutta, die am Morgen die Mädchen abholte, sagte sie: "Entweder die taugt gar nichts, oder aus ihr wird mal eine gute Arbeiterin."

3. Kapitel

Wie immer, wenn Jutta von zu Hause kam, fand sie Fillnitz klein. Dass der D-Zug hier hielt, schien ein Irrtum. Der Bahnsteig war zu kurz für den langen Zug, so dass man, wenn man aus dem letzten Wagen kletterte, sich auf der Straße zwischen den geschlossenen Schranken befand. Ein paar Schritte, sich bücken, und sie war auf dem Weg durch die Stadt. Zwischen dem Siebenstieg und dem Ziegenberg floss die Filler neben der Straße. Auf beiden Seiten wuchs die Stadt die Hänge hinauf bis zum Wald, der sie schützend umschloss. Jutta hatte das Fillnitzer Zentrum erreicht, das neue Hotel hinter einer Grünanlage, in der eine teure Plastik stand. Sie stand immer noch dort, obwohl es einen Protestbrief mit vielen Unterschriften gegen die unförmig Dicke gegeben hatte. Jutta blinzelte der Dicken Madam zu. Fillnitz war ein Industriestädtchen mit einer Geschichte, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichte, als Mönche begannen, nach Erz zu graben. Jutta ging am ältesten Haus der Stadt vorüber, am kleinen Heimatmuseum, das sie jedes Jahr vorm Fillnitzer Heimatfest mit den Gruppen besuchten. Wenn sie zur Dienstübernahme pünktlich sein wollte; musste sie sich beeilen. Jutta blieb stehen und lauschte, als sie aus dem Tal ein Motorrad heraufkommen hörte. Sie wünschte, es wäre der Kollege Becker, den man Dette nannte. Jutta kannte den Mann nicht, der neben ihr hielt. Er fragte nach dem Jugendwerkhof. Jutta nickte, als er unsicher in die Richtung zeigte. Dann gab er Gas. Bevor er den Gang einlegte, sagte er: "Steig auf, wenn du willst."

Jutta machte sich klein hinter dem Rücken des Mannes. Mit der einen Hand umklammerte sie die Tasche, mit der anderen umfasste sie ihn. Sie fürchtete die Schneereste. Noch die letzte große Schleife, dann hielt er. Während sie unentschlossen neben ihm stand, zog er umständlich die Handschuhe aus, setzte den Helm ab. Er erinnerte sie an ehe Guevara, den sie einmal auf einem Bild gesehen hatte. Verwegen, unerschrocken, aufmerksam, klug. "Zu wem wollen Sie denn?", fragte sie.

"Zu euerm Chef!"

Hugo Bachmann war Direktor und an diesem Wochenende auch der diensthabende Tagesleiter.

"Der am meisten zu sagen hat, zu dem will ich", erklärte der Mann ungeduldig. "Ich suche wen."

"Haben Sie die Erlaubnis?"

Der Mann nickte und machte kehrt. Jutta war sprachlos.

Im Falkzimmer, dem Beratungsraum, wies Hugo Bachmann seine Erzieher zum Wochenenddienst ein. In der Gruppe wartete Karin Hallamat schon auf Jutta. "Das Haus ist sauber, aber noch nicht kontrolliert, auf die Wäschebeutel sind Nummern zu sticken, denk an das Sportzeug, Montag ist Schule, es fehlen Schuhbänder, die Post liegt in deinem Fach und..."

Jutta wartete auf das Ende der Aufzählung. Hugo verlangte, Karin verlangte. Holle war die erste, die zu Jutta kam. "Kontrollieren wir?"

Jutta dachte, wie wichtig sie das nimmt. Sonnabendnachmittag, und man geht durch die Zimmer, fasst auf Schränke und Gardinenleisten, bläst sich den Staub von den Fingerspitzen und trägt in sein Heft: Zimmer zwei, Staub! Zimmer drei, Bettenbau miserabel! Zimmer vier, Papier unterm Bett! Zimmer fünf? Dieses Zimmer. Jutta setzte sich an den Tisch.

"Fräulein Timmendorf, die Mädchen warten auf uns."

"Sag mal, Holle, wenn du Erzieher wärst, was würdest du anders machen?"

"Ich wär strenger. Ich würde auch einer Wietha nicht das Laken glattziehen, Fräulein Timmendorf."

Sie hat es gesehen, dachte Jutta und sagte: "Sie ist ja noch neu."

Holle schwieg.

"Na komm", sagte Jutta. Sie wollten eine Szene spielen. Das hatten sie schon einmal probiert. Die Aufgabe für die Spieler lautete heute: Mutter und Vater beim Frühstück. Tochter kommt nach einer durchbummelten Nacht. In solchen Szenen waren die Mädchen erfinderisch. Festus übernahm die Vaterrolle.

"Mein Bier, verdammt noch mal", schnauzt sie Holle an, die die Mutter spielt.

"Trink deinen Kaffee und sei still."

"Ich bin still, wenn's mir passt."

"Suffkopp!"

Während die beiden streiten, kommt Tochter Isso nach Hause. Sie will sich an den Eltern vorbeidrücken.

"Hier geblieben!" Mutter Holle packt zu. Isso bockt. Konny im Publikum klatscht sich begeistert auf die Oberschenkel. Sie ruft Isso zu, wie sie ihre Alten schocken kann. Sie überziehen natürlich. Aber Jutta erkennt sie doch. Ihre Mädchen.

Festus: Eigentlich heißt sie Monika. Vater nicht bekannt, Mutter debil. Viele Heime, aus denen sie weglief. Ihr Problem war Alkohol. Sie gehörte zu einer Gruppe, die Kioske aufbrach. Sie stand Schmiere. Rowdytum heißt es in der Akte.

Holle: Die Älteste von neun Geschwistern. Eine strenge Mutter, der Vater Gelegenheitsarbeiter, geschieden, aber von der Familie nicht gelöst. Holle, sie heißt Irene, füttert· und pflegt die Geschwister, während Mutter arbeitet. Die Mutter ist eine beliebte Kollegin in einer Schuhfabrik. Sie macht Überstunden, weil sie verdienen muss, aber in Wirklichkeit grault sie sich vor ihrem Zuhause. Holle nimmt ihr Sorgen ab. Nach der achten Klasse geht sie auch in den Betrieb. Sind die Kleinen krank, bleibt sie zu Hause. Der Arzt will die Mutter krankschreiben, nicht die Tochter. Da fehlt sie eben ohne Krankenschein. Sie fehlt oft. Wenn sie mit den Kleinen durch die Stadt bummelt, verspricht sie ihnen, was sie sich wünschen. Sie wünscht sich auch die guten Sachen aus dem Laden, den sie gern betreten würde. Ein Mann beobachtet sie. Ausländer. Für einmal mit ihm bekommt sie Parfüm. Es ist das billigste, aber es wird mit fremdem Geld bezahlt. Sie besucht den Mann im Wohnheim. Für einmal mit seinem Freund bekommt sie eine Stange Kaugummi. Er hat viele Freunde. Beim nächsten Mal verlangt sie ein Matchbox von ihm für den Bruder, einen Pulli von seinem Freund für eine Schwester, Schokolade von dem anderen für die Kleinen. In ihrer Akte steht etwas von gewerblich, von Verwahrlosung.

Konny: Konnys Mutter hat die Bahnhofstoilette gepachtet. Konny wird damit gehänselt. Das will die Mutter gutmachen. Sie kauft Konny teure Sachen. Sollen alle vor Neid platzen. Konny will mehr. Die Mutter jammert. Konny knallt die Türen zu. Ihr Vater ist Betriebsdirektor. Sie geht zu ihm. Er hat wenig Zeit, er gibt ihr lieber einen Schein. "Wer gut leben will, muss arbeiten", sagt er, "entschuldige mich". Sie bummelt. Vormittags fernsehen, abends Disko. Sie wird aufgegriffen. Die Mutter weint. Wenn sie sich beruhigt hat, nimmt sie Konny in den Arm. Darauf wartet Konny, dann kann sie sich schlafen legen. Am nächsten Tag ist sie wieder weg. Die Mutter geht zum Referat Jugendhilfe. Das verzeiht ihr Konny nie. In ihrer Akte steht aggressiv, gefühlsarm, asozial.

Isso: Leistungsschwach, labil, vernachlässigt von der Mutter, eine Alkoholikerin. Isso heißt Marita. Sexuelle Verwahrlosung.

Das findet Jutta auch. Jedes Mal, wenn Isso in die Stadt geschickt wird, verschwindet sie mit einem Mann. Manchmal reicht ihr schon die Toilette.

Isso, die die Tochter spielt, setzt sich gerade Vater Festus auf den Schoß.

 

Am späten Nachmittag sahen sich die meisten Mädchen die Kindersendung an. Holle hatte für alle aus ihrem Zimmer Kaffee gekocht und den runden Tisch in der Fensternische gedeckt. Wietha hoffte nach dem Vormittag, an dem sie die Besenkammer hatte saubermachen müssen, man würde sie in Ruhe lassen. Sie setzte sich nicht an den runden Tisch, denn sie konnte von ihrem Taschengeld nichts beisteuern. Die vier Mädchen sahen sich an. "Gehören wir nun zusammen oder nicht?", fragte Festus.

"Was ist, Frolleinchen, der Kaffee wird kalt", rief Holle.

Die anderen drehten sich ärgerlich um. Konnte sie das nicht leise sagen? Der Prinz ritt gerade mit der falschen Braut davon.