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Impressum

Klaus Möckel, Heinz Kruschel, Siegfried Maaß, Dorothea Iser, Christa Grasmeyer

Hoffnung für Dan, Keine Flügel für Reggi und andere interessante Schicksalsromane von DDR-Autoren

ISBN 978-3-86394-362-2 (E-Book)

 

Dieses E-Book enthält die Demo-Versionen (ca. 10 % des Buches) von folgenden, bei EDITION digital 2011/2012 erschienenen E-Books:

Klaus Möckel: Hoffnung für Dan, Geschichte eines knorrigen Lebens

Klaus und Aljonna Möckel: Drei Tropfen Licht

Siegfried Maaß: Keine Flügel für Reggi

Heinz Kruschel: Sabine Wulff – Gesucht wird die freundliche Welt

Christa Grasmeyer: Der unerwünschte Dritte

Dorothea Iser: Neuzugang

 

Gestaltung der Titelbilder: Ernst Franta

 

© 2012 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
E-Mail:
Internet:

Klaus Möckel

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Geboren1934 in Kirchberg/Sa., Dr.phil., verheiratet, ein Sohn. Werkzeugschlosserlehre, Studium der Romanistik an der Universität Leipzig, Assistent am Romanischen Seminar der Universität Jena, Lektor beim Verlag Volk & Welt Berlin, Promotion über Saint-Exupéry 1963, seit 1968 freier Schriftsteller, Mitglied im VS/Verdi.

Auszeichnungen:

1992: Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung

Bibliographie:

I. Eigene Bücher

Ohne Lizenz des Königs. Hist. Roman, Verlag Neues Leben, Berlin 1973

Die Einladung. Phantast. Erz., Verlag Neues Leben, Berlin 1976

Drei Flaschen Tokaier. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1976/ Rowohlt 1980

Die nackende Ursula. Satir. Gedichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 1980

Tischlein deck dich! Märchensatiren, Verlag Tribüne, Berlin 1980

Die gläserne Stadt. Phantast. Erzählungen, Verlag Das Neue Berlin 1980

Haß. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1981

Kopfstand der Farben. Satir. Gedichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 1982

Hoffnung für Dan. Roman über ein behind. Kind, Verlag Neues Leben, Berlin 1983

Variante Tramper/ Die Damengang. 2 Kriminalromane, Verlag Das Neue Berlin 1984

Die seltsame Verwandlung des Lenny Frick. Phantast. Erzählungen, Verlag Das Neue Berlin 1985

Auf seinem Baum sitzt Meister Zäpfel. Bilderbuch, Altberliner Verlag 1986

Der undankbare Herr Kerbel. Kriminelle Geschichten, Verlag Das Neue Berlin 1987

Das Märchen von den Porinden. Kinderbuch, Altberliner Verlag 1988

Geschichte eines knorrigen Lebens. Literar. Bericht, Verlag Neues Leben, Berlin 1989

Flußpferde eingetroffen. Lachen mit Möckel. Reiher Verlag, Berlin 1991

Bennys Bluff, Kinderkrimi, Rowohlt Verlag 1991

Eine dicke Dame. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1991

Auftrag für eine Nacht. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1992

Kasse knacken. Kinderkrimi, Rowohlt Verlag 1993

Wer zu Mörders essen geht. Kriminelle und andere Sprüche, Frieling Verlag Berlin 1993

Bleib cool, Franzi. Kinderkrimi, Rowohlt Verlag, Reinbek 1995

Gespensterschach. Kriminalroman, Verlag Das Neue Berlin 1995

Steffis Party. Kinderbuch, Elefanten Press, Berlin 1997

Der Löwe aus dem Ei. Der Löwe und die Inselbande. Kinderbücher, Ritschel Verlag, Gladenbach 2000

Der Sohn des gestiefelten Katers. Kinderbuch, LeiV Verlag, Leipzig 2000

Trug-Schuß. Krimi-Erzählungen, Verlag Neues Leben, Berlin 2000

Ein Hund mit Namen Dracula. Gruselgeschichten für Kinder, Edition D.B. Erfurt 2003

Die Gespielinnen des Königs. Historisch-Literarische Biographien berühmter Mätressen, Verlag Neues Leben, Berlin 2010

Drei Tropfen Licht. Ein doppeltes Tagebuch (zusammen mit Aljonna Möckel). E-Book, EDITION digital, Godern 2011

Tornado. Fantast. Roman. E-Book, EDITION digital, Godern 2011

Der geblümte Hund und andere Tiere. Lustige Geschichten für kleine Leute. E-Book, EDITION digital, Godern 2011

Erzählungen u. Gedichte in Anthologien u. Zeitschriften, Historische und Krimierzählungen in KAP- und Blaulichtreihe

II. Herausgaben

Paul Eluard: Tod, Liebe, Leben, Reclam Verlag. Leipzig 1962; Nachwort, einige Übers.

Französische Erkundungen. Erzählungen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1968; Nachwort.

Französische Dramen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1968

Jean Cocteau: Prosa, Gedichte, Stücke. Band I und II. Verlag Volk und Welt, Berlin l97l; Nachwort, einige Übers.

Blaise Cendrars: Gold. Erzählungen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1974; Nachwort.

André Stil: Versehentlich auch Blumen. Erzählungen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1976

Vietnamesische Erkundungen. Erzählungen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1974; Nachwort. (zusammen mit Aljonna Möckel)

Ein Verlangen nach Unschuld. Humor und Satire aus Frankreich. Eulenspiegel Verlag, Berlin 1980; Nachwort, einige Übers.

Der Alabastergarten. Phant. Erzählungen aus Frankreich, Italien, Spanien. Verlag Das Neue Berlin 1980; Nachwort.

Französische Erzähler aus sieben Jahrzehnten. Erzählungen. Verlag Volk u. Welt, Berlin 1983. Band I u. II (Zusammen mit Frauke Rother)

Das Zimmer der Träume. Erzählungen aus Frankreich. Verlag Volk und Welt, Berlin 1984

René Char: Gedichte. Verlag Volk u. Welt, Bln l988; Essay und einige Übers.

Außerdem Nachworte und Essays u.a. zu Antoine de Saint-Esupéry, Roger Ikor, Claire Etcherelli, Robert Desnos, Italo Calvino.

III. Übersetzungen/ Nachdichtungen

 

Aus dem Französischen:

Bernard B. Dadié: Das Krokodil und der Königsfischer. Legenden. Verlag Volk und Welt, Berlin 1975

Marcel Marceau: Bip träumt. Gedichte. Verlag Volk und Welt, Berlin 1981

Arthur Rimbaud/ Teilübers. in: Arthur Rimbaud: Gedichte. Reclam Verlag, Leipzig 1976

Jacques Prévert/ Teilübers. in: Ein schöner Wal mit blauen Augen. Volk und Welt 1975

Henry Deluy, Georges l. Godeau, Jean Marcenac in: Franz. Lyrik der Gegenwart. Volk und Welt 1979

Robert Desnos/ Teilübers. in: Die Quellen der Nacht. Volk und Welt 1985

Henri Coulonges: Das verschwundene Gesicht (zusammen mit Aljonna Möckel). Rütten & Loening, Berlin 1994

 

Aus dem Spanischen:

Pablo Neruda: Glanz und Tod des Joaquin Murieta. Drama. Verlag Volk und Welt, Berlin 1979

Jorge Diaz: Glanz und Tod des Pablo Neruda. Drama. Henschelverlag, Berlin 1983

 

Aus dem Russischen:

Jewgeni Jewtuschenko: Mutter und die Neutronenbombe. Poem. Volk und Welt Berlin 1983. (zusammen mit Aljonna Möckel)

Jewgeni Jewtuschenko: Fuku. Poem. Volk und Welt Berlin 1987. (zusammen mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: In den Fängen des Seemonsters. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 1996. (zusammen mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Die Schlange mit den Bernsteinaugen. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 1997. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Der Schatz der Smaragdenbienen. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 1998. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Der Fluch des Drachenkönigs. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 1999. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Die falsche Fee. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 2000. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Die unsichtbaren Fürsten. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 2001. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Der Hexer aus dem Kupferwald. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 2002. (mit Aljonna Möckel)

Nikolai Bachnow: Das gestohlene Tierreich. Kinderbuch. LeiV Verlag, Leipzig 2003. (mit Aljonna Möckel)

Nachdichtungen in versch. Anthologien und Zeitschriften

Hoffnung für Dan

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Impressum

Klaus Möckel

Hoffnung für Dan

ISBN 978-3-86394-162-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1983 bei
Verlag Neues Leben, Berlin

Fotos: Klaus Möckel

Kurze Inhaltsangabe

HOFFNUNG FÜR DAN ist die bewegende Geschichte eines geistig behinderten Jungen, der weder hören noch sprechen kann und dem wegen seiner Schädigung auch die Gebärdensprache versagt bleibt. Innerlich isoliert, rebelliert er gegen alles, was ihm unverständlich erscheint.

Die Eltern, die seine und ihre Situation erst allmählich begreifen, versuchen mit Geduld und Liebe, diese Schallmauer zu durchbrechen. Aus der Sicht der Mutter werden die oft verzweifelten Versuche geschildert, mit Bildern und Gesten eine Verständigung zu erreichen, dem ungebärdigen, hilflosen Kind und damit sich selbst eine Perspektive zu geben. Das Verhalten einer mitunter wenig verständnisvollen Umwelt verschärft die Lage noch.

HOFFNUNG FÜR DAN war eines der ersten Bücher, die sich in der DDR mit der Problematik solcher Menschen und ihrer Familien auseinandersetzten. Es wurde als ein Aufschrei empfunden, fand große Beachtung und führte über den Kreis der Betroffenen hinaus zu heftigen Diskussionen. Bis 1989 in fünf Auflagen erschienen, wurde es nach der Wende nochmals von einem bekannten Münchner Verlag als Taschenbuch publiziert, ist inzwischen aber längst vergriffen. Von seiner aufrüttelnden Wirkung, seiner Wahrhaftigkeit und Dramatik hat es bis heute nichts eingebüßt.

1.

Zehn Minuten mit der Straßenbahn, dann umsteigen und nochmals fünf Minuten fahren - ein kurzer Weg, trotz der Wartezeit am Anfang und zwischendurch. Kein Vergleich zu früher, als wir nach Steinberg mussten durch die halbe Stadt, ein gutes Drittel des Tages war schon wegen dieser zweimaligen Kutscherei weg. Der lange Weg von der Straßenbahnendhaltestelle zur Einrichtung ging in die Beine, und wenn der Junge sich abends sperrte, wusste man nicht, wie nach Hause kommen.

Jetzt, na ja, irgendwie schafft man es schon. Irgendwie schaffte man es ja auch damals, selbst wenn er sich in den Schmutz kniete, in die Pfützen, so dass Hosen und Unterhosen pitschnass wurden, vor Dreck klebten, selbst wenn einen die Taxifahrer stehenließen, weil ihnen dieses Kind zu schwierig schien, wenn die Leute verständnislos, bedauernd oder indigniert zu einem herüberstarrten, wenn Dan sich mit all seiner Kraft dagegen stemmte, in die Bahn einzusteigen, wenn er brüllte und sich die halbe Fahrt über wie ein kleines Tier unter dem Sitz verkroch.

Ich erinnere mich an einen Abend, da er sich losgerissen hatte, und mitten auf die Straße lief. Sieben Jahre muss er immerhin gewesen sein oder acht. Ich konnte nichts dagegen tun; es geschah so überraschend, dass ich nicht zum Eingreifen kam. Er lief ohne erkennbaren Grund auf die Fahrbahn und legte sich lang auf den Bauch.

Eine Riesenaufregung: Ein LKW rutscht mit quietschenden Bremsen auf ihn zu, der Gegenverkehr stoppt, nachfolgende Wagen hupen, eine Straßenbahn, zum Glück noch ein Stück entfernt, bimmelt wie verrückt, die Passanten bleiben stehen und schimpfen, eine alte Frau neben mir jammert wie aufgezogen "Ogottogottogottogott". Der Fahrer des Lastwagens klettert gestikulierend und fluchend aus seiner Kabine; nein, es ist nichts passiert, Dan ist nicht zu Schaden gekommen, niemand hat sich bei dem jähen Bremsvorgang verletzt, nicht mal einen Auffahrunfall hat es gegeben. Nur mir stockt der Herzschlag, schmerzt mit einem Mal die linke Brustseite, und ich bringe kein Wort heraus. Weiß nicht, wie ich auf die Fahrbahn komme, jedenfalls muss ich ziemlich blass aussehen, denn der LKW-Fahrer, der drauf und dran ist, den Bengel zu vermöbeln (würde er's doch tun!), wird plötzlich ganz still. Er fasst mich am Arm und sagt: "Nun, nun, nun, junge Frau, beruhigen Sie sich, ist ja noch mal gut gegangen." Gut gegangen, na schön, auf seine Weise hat er recht, bloß mir ist hundsmiserabel. Ein Gefühl inneren Elends, das sich nicht in Worte fassen lässt. Die Leute drängen sich um uns, gaffen. "Was ist los, warum geht's hier nicht weiter?" Andere lassen ihrer Entrüstung freien Lauf, sparen auch nicht mit guten Ratschlägen: "Hat man so was schon erlebt; kann die nicht besser aufpassen; eine Tracht hat er verdient, dass er nicht mehr weiß, was hinten und vorn ist." Er aber, der Sünder, einen Blick wie ein König, liegt auf der Straße, ohne sich um den Trubel zu scheren. Nein, er ist nicht gewillt, klein beizugeben, das Feld zu räumen. Als dann die Dämme in mir endlich brechen und ich ihn voller Wut und Verzweiflung anbrülle, schüttle, zieht er bloß den Kopf ein. Völlig verspannt und verstockt, da helfen weder Schläge noch Zureden. Wir kennen das schon, es gäbe in dieser Situation nur ein Mittel: ihn eine halbe Stunde irgendwo einzusperren und zu sich kommen zu lassen. Aber wir sind ja unterwegs, mitten in der Stadt, und er liegt gut auf dem Asphalt. Ein warmer Tag, die Sonne scheint, ich erinnere mich genau. Ich versuche ihn am Arm zu packen, hochzuziehen - man glaubt nicht, was ein siebenjähriger Junge für eine Kraft entwickeln kann. Er macht sich steif wie ein Brett und knurrt vor Empörung. Schließlich packt ihn der LKW-Fahrer und schleppt ihn zurück auf den Fußsteig. Wo er gekränkt noch zwanzig Minuten hocken bleibt. Ich komme mehr tot als lebendig nach Hause, heule den ganzen Abend.

Oder an jenem Tag im Winter - das muss ein Jahr früher gewesen sein -, als er gleichfalls unvermutet die Straßenseite wechselt. Keine Ahnung, was ihm in den Sinn gekommen ist, vielleicht hat er drüben etwas Interessantes entdeckt, er geht ein paar Meter vor mir, unmöglich, so ein Kind immer an der Hand zu führen, er macht das nicht mit. Er läuft los, zielgerichtet, ohne nach links und rechts zu schauen, und natürlich ohne sich nach mir umzudrehen, mitten in den Verkehr hinein. Ich seh seine braune Pelzmütze zwischen den Fahrzeugen dahinwandern, die wild zu hupen beginnen, und renne wie gehetzt hinterher. Ich kriege ihn in der Straßenmitte zu fassen, bin völlig außer Atem, aber er ist gut gelaunt und geht brav mit zurück. Er versteht nicht, warum ich ihn rüttle und ausschimpfe. Erst jetzt wird er bockig, hält sich an den Laternenpfählen fest, als ich weiter will. Der Heimweg wird zur Qual, nicht zuletzt wegen der vorwurfsvollen Blicke der Leute, die alle Schuld mir geben. Dan ist nicht bereit einzulenken, er nimmt es übel, wenn man ihn tadelt, selbst wenn er weiß, dass er den Bogen überspannt hat. Gerade dann. Er begreift die Gefahren nicht, denen er sich aussetzt. Da er nicht hören kann und die Verständigungsmöglichkeiten mit ihm gering sind, ist es so gut wie ausgeschlossen, ihm Zusammenhänge zu erklären. Fest steht, dass man sich mit solch einem Kind einen besonderen Lebensrhythmus zulegt, eine Art zu existieren, an die man vorher nicht im Traum gedacht hat. Ich gehe auf der Straße, ich sehe normale Kinder und denke: Warum gerade er, warum gerade du, oder genauer, ich denke es schon nicht mehr, ich zwinge mich, es nicht zu denken, ich weiß, dass es sinnlos ist. Ich bleibe stehen, schau eine beliebige Hauswand an, zähle die Autos, die vorbeisausen, lenke mich ab. Gestern, auf dem Weg zur Tagesstätte, ertappe ich mich, wie ich die Fenster der gegenüberliegenden Häuserfront auf ihre Größe, ihr Aussehen hin vergleiche. Vier solche, zwei solche, eins doppelt unterteilt, eins sechsfach. Das heißt, ich ertappe mich nicht, ich tu das bewusst, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Plötzlich ein kleines Mädchen: "Was is'n da, Tante, an dem Haus?" - "Was da ist? Nichts. Der Vogel dort drüben auf dem Dach, siehst du?" - "Da ist aber gar kein Vogel, ich seh keinen." - "Doch, da war einer, ist grade weggeflogen." Die Kleine schaut mich an, fünf Jahre mag sie alt sein, rot und weiß gestreiftes kurzes Röckchen, gelbe Bluse, Stupsnase und große braune Augen. Dann trollt sie sich. Zehn Meter weiter schreit sie: "Du spinnst ja, Tante" und rennt eilig davon.

Ich spinne, ich bilde mir was ein, schön wär's. Eher hab ich mir früher was eingebildet, als ich dachte, alles würde normal und gut verlaufen. Es gibt Dinge, schlimme Dinge, die werden erst Wirklichkeit, wenn sie einem selbst zustoßen. Der Autofahrer, der täglich von den Unfällen in der Zeitung liest, der den verbeulten Wagen des Nachbarn vorm Fenster stehen sieht, glaubt nicht ernstlich, dass ihm selbst so was passieren könnte. Zu seinem Glück vielleicht, er hätte sonst keine ruhige Minute mehr. Zu seinem Unglück aber, wenn ihm durch Leichtsinn wirklich was geschieht. Wenn er nicht aufpasst, fürs Leben zum Krüppel wird oder andere zum Krüppel macht. Wenigstens kann man den Autofahrer rechtzeitig warnen. Trink und rase nicht, halt die Augen offen, sei vorsichtig, sei dir der Gefahr bewusst! Aber wer hat mich gewarnt, uns, Wolfram, und wenn, wovor hätte man uns warnen sollen? Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, einen leisen Zweifel am allzeit glücklichen Verlauf des Schicksals und der Allmacht der Ärzte in uns zu wecken - wir hätten nicht so unvorbereitet dagestanden. Wir hätten uns auch besser gegen gewisse schematische Auffassungen zur Wehr setzen können, die uns zum Verhängnis wurden. Gegen die Meinung, dass für einen Säugling Muttermilch in jedem Fall das Beste ist. Natürlich, an Ratschlägen fehlte es nicht. Den Schwangeren wird ja allerhand mit auf den Weg gegeben. Tu das nicht, lass jenes sein. Keine Tabletten, keinen Alkohol, kein Nikotin. Ich beachtete all diese Mahnungen genau, verhielt mich der Vorschrift entsprechend. Dennoch haben wir dieses Kind. Vierzehn Jahre ist Dan jetzt alt. Äußerlich sieht man ihm nicht einmal viel an. Allerdings schlägt er oft einen sonderbar hinkenden Gang an, vor allem, wenn er aufgeregt ist. Wenn er abgelenkt ist, zerstreut, ärgerlich. Dass er ziemlich normal wirkt, hat Vor- und Nachteile. Mit Dan fällt man zunächst weniger auf, muss aber später, wenn er sich ungewöhnlich benommen hat, mehr erklären. Manche Leute sind schwer von Begriff, wollen mitunter auch nicht verstehen.

Zwanzig Minuten Weg von unserer Wohnung bis zur Tagesstätte, in der Dan zurzeit noch betreut wird. Auf halb acht bringen wir ihn hin, auf vier holen wir ihn ab. Von Montag bis Freitag - abends und am Wochenende ist er zu Hause. Da muss man sich dann was einfallen lassen, denn allein will und kann er nicht runter. Der Verkehr, die anderen Kinder. Er versteht ihre Spiele nicht, stellt sich nicht auf sie ein, stört sie, und das kann übel für ihn ausgehn. Kinder sind großartig, aber auch rücksichtslos und aggressiv, wenn sie den Außenseiter erkennen, das Besondere nicht erklärt bekommen. Also geht Wolfram mit ihm, während ich den Haushalt mache. Essen koche, erledige, was sonst zu tun ist. Oder ich nehme ihn in die Küche mit. Ich schäle Kartoffeln, er darf sie in Stücke schneiden. Darf Pudding einrühren, zuschaun, mit Wasser pantschen. Auch Wäsche waschen wir gemeinsam, zu dritt, wir haben ein relativ großes Bad. Aber der Tag ist lang, und bis zum Abend muss man viele Ideen haben. Und das an jedem Wochenende, und das an den Feiertagen und im Urlaub, der für uns kein Urlaub wie für andere Leute ist.

2.

Der Gedanke, von Dan, Wolfram und mir zu berichten, kam uns schon vor Jahren, damals, als wir den ersten Schock wenn auch nicht verdaut (wie könnte man das jemals), so doch hinter uns hatten. Er meldete sich von Zeit zu Zeit erneut, besonders nach jeder Krise, und jetzt, da wieder alles in der Schwebe ist, da sich die ständige Anspannung sehr unfreundlich auf mich ausgewirkt hat, nimmt er konkrete Gestalt an. Wem das Herz voll ist, dem läuft der Mund über. Ja, es stimmt, die Erfahrungen, die sich angesammelt haben, wollen ausgesprochen sein, die Erlebnisse drängen auf die Lippen. Dennoch fällt es mir schwer, darüber zu reden. Denn es ist ja nichts ausgestanden, wir haben uns - bis zu einem gewissen Grad - an unsere Situation gewöhnt, aber an jeder Erinnerung klebt zäh der Schmerz. Es gibt Wunden, die vernarben nicht, sie tun weh wie am ersten Tag. Stochert man in ihnen, brennen sie nur stärker. Warum also in der Vergangenheit wühlen, wenn die Gegenwart dadurch eher schwerer wird. Die allein hart genug ist. Da war vorige Woche dieses Gespräch mit der Leiterin der Tagesstätte, es ging um Dans künftigen Weg. Um seine Perspektive, wie wir das mit großem Wort nannten, obwohl von Perspektive, bei Licht besehen, nicht die Rede sein kann. Er wird ja keinen Beruf erlernen, nie selbständig werden. Die Aussichten, ihn für einige Stunden am Tag in einer geschützten Werkstatt unterzubringen, unter besonderen Bedingungen also, sind zwar gut und, wenn man so will, ein Erfolg unserer Anstrengungen, doch er wird immer jemanden für die restliche Zeit brauchen. Für uns bedeutet das eine weitere Beschneidung unserer ohnehin eingeengten persönlichen Sphäre. Oder konkret: Dans Betreuung auch in der Woche ab Mittag. Wie aber hält man das durch, und was wird aus der Arbeit. Ich versuche sachlich zu bleiben, das Für und Wider darzulegen - die Ruhe ist nur äußerlich. Wir debattieren, ich höre zu und rede, doch plötzlich wird mir übel. Ein Druck auf der Brust, Schwindelgefühl, der Atem wird knapp. Ich kenne das bereits, habe es aber nie ernst genommen. Auch diesmal steh ich auf, will zum Fenster gehn, da knicken mir die Beine weg. Irgendwas prägt sich noch ein - die großen erschrockenen Augen der Leiterin, die auf mich zukommen.

Oder ist das schon nach dem Schwächeanfall, als ich auf dem Sofa liege, schweißnass am ganzen Körper, um mich herum die Erzieherinnen, die zu Hilfe geeilt sind. Ich weiß es nicht, es ist auch gleich, jedenfalls ist keine Rede mehr von Dan, es geht erst mal um mich. Ich müsse sofort zum Arzt, sagen die Frauen, so was dürfe man nicht auf die leichte Schulter nehmen, ob mir das öfter passiere, ich hätte ihnen einen schönen Schrecken eingejagt.

Ich versuche, mich zu erheben, ich schaffe es mit Mühe, aber mein Kopf bleibt sonderbar wirr und leer. Außerdem tut mir die linke Brustseite weh, der linke Arm ist ganz taub. Die Leiterin will den Notarzt rufen, doch ich wehre mich dagegen, womöglich muss ich noch ins Krankenhaus. Schließlich nimmt mir die Leiterin das Versprechen ab, gleich am nächsten Tag zum Arzt zu gehn, dann fährt sie mich mit ihrem Wagen nach Hause.

Am darauffolgenden Morgen, alles scheint wieder normal, trabe ich zur Poliklinik - Wolfram hat mir noch zugeredet. Die Ärztin untersucht mich und runzelt die Stirn. Sie hat zu hohen Blutdruck festgestellt; in meinem Alter nicht ganz üblich, meint sie. Sie versucht, die Ursachen zu finden, fragt mich aus. Als ich von Dan erzähle, wundert sie sich nicht mehr. "Da sich an Ihrem Problem kaum was ändern wird, Frau Bade, müssen wir sehn, wie wir für Entlastung sorgen. Ich verschreib Ihnen was, aber das allein tut's nicht. Sie müssen mal ausspannen, ich werde eine Kur für Sie beantragen."

Sie ist in Ordnung, die Ärztin, sie hat keine Zeit für überflüssige Worte, aber man kann mit ihr reden. Um genaueren Aufschluss über meinen Blutdruck zu bekommen, schickt sie mich zur Augenspiegelung. Ergebnis: Der Augenhintergrund ist bereits bleibend verändert, jetzt muss das Nötige getan werden, damit sich dieser Zustand nicht weiter verschlechtert. Was für mich bedeutet, Tabletten auf lange Zeit und bewusster Abstand von Dingen, die mich aufregen. Was auch heißt, wenigstens für die nächsten Tage, Urlaub vom Stress. Also liege ich auf dem Bett und versuche abzuschalten. Zu lesen, Radio zu hören. Doch das gelingt nicht, die Gedanken bedrängen mich, sie lassen sich nicht zurückhalten. Sie laufen und laufen, eine Kugel, die ins Rollen gekommen ist. Ich liege da und denke darüber nach, wie es war, als uns dieser erste Schlag traf. Ich wühle in der Vergangenheit, obwohl ich weiß, dass ich mir im Augenblick kaum damit nütze. Vielleicht, dass ich ruhiger werde, wenn ich mir das alles mal von der Seele geredet habe.

Angefangen hat es gleich nach der Geburt, aber damals kannten wir die Zusammenhänge noch nicht und konnten unmöglich die Folgen ahnen. So stellte sich die erste Schockwirkung später ein, zu jenem Zeitpunkt, als wir das mit Dans Gehör erfuhren. Als wir uns Gewissheit verschaffen wollten und sich unsere vagen Befürchtungen bestätigten. Nein, wir hatten dieses Ergebnis nicht erwartet, wenn wir auch in den Wochen vorher unruhig gewesen waren, uns gewundert hatten. Warum hatte Dan als Baby nur so kurze Zeit gelallt und es dann wieder sein lassen, warum reagierte er auf unsere Rufe nicht, wo blieb sein erstes Wort? Es gab Zeichen, die wir nicht verstanden, die wir sogar vergnüglich fanden. Relativ früh schon, als er noch im Wagen lag, hatte uns sein verständiger Blick aus großen blauen Augen erfreut. "Der weiß bereits alles über die Welt", sagte die Nachbarin, und wir nickten geschmeichelt. Schaute er so wissend drein, weil er nicht durch Geräusche abgelenkt wurde? Kulissen aus Watte um ihn her, mit Gestalten, die den Mund aufsperrten, ohne Laute hervorzubringen. Mehrfach fiel uns auf, dass er unter den Bögen der Hochbahn Angst bekam, wenn oben Züge donnernd dahinratterten. Nur dann, nur lautes Dröhnen erschreckte ihn. Wir lachten darüber, hielten das für ganz natürlich. Erst später vermutete ein Bekannter, dass Dan vielleicht was mit den Ohren haben könnte. Häufige leise Quietschtöne, kein Sprachansatz - so ähnlich habe sich ein kleiner schwerhöriger Neffe verhalten. Wir erschraken, stellten selbst Tests an. Bauten uns hinter ihm auf, riefen, klopften, klatschten. Das Ergebnis dieser Versuche war nicht eindeutig, manchmal reagierte er, dann wieder nicht. Er schien das Schrillen des Telefons zu hören und das Quietschen der Straßenbahn, die um die Ecke fuhr. Andererseits bemerkte er es kaum, wenn einer von uns überraschend das Zimmer betrat.