Impressum

Bernd Wolff

Alwin auf der Landstraße

ISBN 978-3-86394-181-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1971 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Detlev Komarek

 

© 2011 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
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Erster Tag

1

Straßen wie Adern. So durchziehen sie die Republik, selbst das abgelegenste Gehöft verbinden sie mit der übrigen Welt.

Straßen. Der Wind staubt darüber hin, der Regen spült sie blank, der Frost legt ihnen knirschende Fesseln an. Aber unaufhaltsam pulsiert das Leben durch diese Adern, stark und unaufhaltsam...

Straßen: Wege, die Menschen zueinanderführen.

2

Da steht ein Junge am Fenster. Er ist in die Höhe geschossen wie eine Salatstaude und daher etwas schmächtig um die Brust. Beine dürr und stakelig wie Tomatenpfähle. "Sprinterbeine", redet er sich heraus, wenn das Gespräch darauf kommt. Langes, immer irgendwo zerkratztes Gesicht, Ohren, die wieder und wieder Anlass zu Keilereien mit spöttelnden Mitschülern geben, weil selbst die dunkelblonden Haarsträhnen nicht in der Lage sind, sie zu überwuchern, Haarsträhnen, die er sich ständig aus der Stirn und von den missmutig zusammengekniffenen Augen schlenkern muss. Ein schmales Jungsgesicht auf dünnem Hals, ein bitterböses, verdrossenes Gesicht, ein Gesicht, das die Milch sauer werden lässt, wie die Mutter sagen würde, wenn sie hier wäre - das ist Alwin.

Da steht er unbeweglich, vielleicht schon eine halbe Stunde, vielleicht länger, und beobachtet das Lichterspiel auf rauen Rüsterblättern, wenigstens hat es den Anschein so. Bestimmt gäbe es Dinge, die er lieber täte, baden und angeln und rumstromern und nach Renneckenberg fahren und und... gleich ein halbes Dutzend wären, ohne Luft zu holen, herzuzählen, aber er tut sie nicht. Er tut gar nichts und ist uneins mit sich und der Welt, am meisten aber mit dem Vater.

Draußen ist Sommer, einer von der Sorte, die es nur alle Schaltjahre mal gibt. Aber was kann Alwin schon von diesem Sommer erwarten?

Wenn es Strippen regnet oder Hühnereier hagelt, dann ist Hausarrest noch eine einigermaßen erträgliche Angelegenheit: Radio auf Volldampf, in den Sessel gehauen mit einem spannenden Krimi von Ruschi und dem Wetter die Zunge herausgestreckt. Ktsch, bätsch, Wettermann, dein Wetter geht mich gar nichts an!

Wenn...! Aber wenn die Feriensonne die Altmarkerde brät, wenn sich die Hühner, zu faul zum Eierlegen, im Wegstaub hudern, wenn das Gekreisch aus der Badeanstalt durch das geöffnete Fenster hereinlärmt und der Wind nach trockener Erde und Hitze und sehr nach Heu riecht, wenn alle Welt lockt: Komm raus, komm raus! Junge, dann ist so ein Hausarrest eine Marter dritten Grades. Direkt zum Verzweifeln.

Alwin spuckt seinen Zorn in die Rüster. Passiert denn gar nichts in diesem langweiligen Nest? Soll er hier tagelang untätig hocken, ausgeschlossen sein, und draußen dreht sich die Welt?

Schlimm, wenn man erst zwölf Jahre alt ist, schutzlos seinem Vater ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb sozusagen. Sieben Tage Hausarrest! Eine ungerechte Welt, pfui Deibel!

Aber wer traut sich schon, dem Vater Vorhaltungen zu machen? Er hat ein Kreuz wie ein Ortscheit. Als die Eltern hier einzogen vor zehn Jahren, hat er sich extra hohe und breite Türen hineinbrechen lassen. "Ich will mir nicht dauernd blaue Flecken holen an diesen Karnickellöchern, da kriegt man ja Herzbeklemmungen", hatte er räsoniert. Frau Pinartz hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, "nein, wenn mein Seliger das erlebt hätte!", aber das machte keinen großen Eindruck, der Zimmermann war die Eile in Person. Verständlich, den Vater umwittert der Hauch sagenhafter Stärke. Einmal, als in der Stadt ein Zirkus gastierte, hat er sogar einem Löwen den vereiterten Kiefer operiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum soll ich dem Tier nicht helfen, wenn es Schmerzen leidet? Darüber braucht ihr wahrhaftig nicht zu schreiben, das ist Mumpitz!", hatte er den Zeitungsreportern erklärt. "Schlagt lieber ein bisschen Lärm, dass man uns endlich die neuen Aufzuchtställe genehmigt!" Und Alwin durfte eine Woche lang für umsonst in die Kreisstadt fahren und den Auftritt des Löwen Haile Selassie bewundern.

So ist der Vater. Eigentlich könnte man schon stolz sein auf ihn. Wenn er nur nicht immer so hart wäre!

Des Vaters geheimer Kummer ist, dass Alwin, der "dürre Hecht", so wenig nach ihm geraten will. Das bringt ihn oft in Zorn.

"Da setzt du dich hin und übst für die Rechtschreibung, verstanden? Eine Vier auf dem Zeugnis kommt mir nicht noch einmal ins Haus! Man muss sich ja in Grund und Boden schämen", schnauzte er. "Was hat dem Rusch seiner, der Bengel?"

Wenn der Vater so mit ihm redet, duckt sich Alwin. Dann möchte er nicht lang und dünn und groß wie ein Dreizehnjähriger sein, sondern am liebsten wieder der kleine Alwin, den jeder behätschelt und bewundert hat in Renneckenberg und der auf den Schultern vom Opa geritten war: "Opa, ich bin groß, größer als die ganze Welt!"

"Was der Rusch hat, will ich wissen!" Die Stimme war noch lauter, noch schärfer geworden.

"Hör ich ja, Mensch! Sylvi Hannich hat ihm immer die Hausaufgaben und alles zum Abschreiben gegeben, da sagt ja der Balduin nichts, Sylvi Hannich ist ja auch seine Beste..."

"Und was hat er nun, verdammt noch mal?"

"Drei, glaub ich. Wenn ich von Sylvi abschreibe, bin ich mindestens auf Zwei. Oder auch nicht, wo mich der Balduin sowieso nicht leiden kann, bei dem kommt man ja nie aus dem Schneider..."

"So?" Der Vater, der Riese, sah ihn plötzlich bekümmert an. Die Nahtnarbe auf der gerunzelten Stirn senkte sich bis auf die Augenbrauen. "Das fehlte mir gerade noch in meiner Raupensammlung: Mein Sohn und Betrug. Ich muss schon sagen, du machst dich. Und der Rusch, der Alte, feixt wieder: Die Intellenz hat er doch wohl von seinem Vater, doch? - Aber ich, mein Lieber -", mit unerbittlicher Hand packte er Alwin am Kinn und zwang seinen Kopf hoch, "ich mache das nicht mehr mit, verstanden? Außerdem heißt dein Lehrer für dich immer noch Herr Böhm, mag er sein, wie er will!"

Er knallte ein Buch auf den Schreibtisch, einen Wälzer von Buch, zwanzig von Ruschis Krimiheften wogen es nicht auf.

"Hier ist der Duden, dort das Heft, da steht die Tinte. Du darfst meinen Schreibtisch benutzen, wenn du nichts durcheinanderbringst. Das wäre ja gelacht, wenn ich dich nicht hinkriegte!"

"Ja, aber..."

"Keine Widerrede! Wenn Mutti zurückkommt, kannst du einwandfrei schreiben, spätestens dann! Ich kontrolliere jeden Abend, und wehe dir -" Das war ein Machtwort, und Alwin hatte verstanden.

Trotzig schlenkert er die Haare aus der Stirn. Schreien und Kommandieren, das ist das einzige, was die Erwachsenen können. Eine Ausnahme höchstens die Großeltern in Renneckenberg, hin und wieder auch mal die Mutti. Aber auch da geht es meistens: Sitz gerade! Lass dich nicht immer ablenken! Spiel nicht! Sieh auf dein Heft! Schreib doch bloß mal vernünftig! Du sollst nicht so dasitzen wie eine müde Leberwurst, habe ich gesagt! Kuck nicht so brummig, dir ist wohl alles zuviel?

Als ob er da noch lächeln sollte, wenn so mit ihm zackeriert wird! Und doch, Alwin würde etwas drum geben, wenn die Mutti jetzt hier wäre und nicht in diesem dämlichen, na, Vogelsang, Heilstätte Vogelsang; über hundert Kilometer von hier. Wenn sie ihn hernehmen würde und seinen Kopf zausen mit ihren festen warmen Händen, und nachher würde sie ihn auffordern: "So, Großer, nun wollen wir mal zusammen den Fehlern zu Leibe rücken, das wäre ja gelacht..."

Sie hätte auch den Vater umgestimmt, das weiß Alwin gewiss, sie hätte diese entsetzliche Strafe von ihm abgewendet. Aber nein, er soll kein Glück haben. Ausgerechnet seine Mutter musste man bei der letzten Röntgen-Reihenuntersuchung aussortieren und nachuntersuchen.

"Wie? Was? Bibliothekarin sind Sie? Da ist es nicht ausgeschlossen, dass Sie sich auf dem Weg über die Bücher angesteckt haben, nicht ausgeschlossen, hmm. Na ja, wir sind ja erst im Anfangsstadium, das kriegen wir schon wieder hin. Aber doch nicht mit Tränen! Kein Grund zur Beunruhigung, junge Frau, nur zwei, drei Monate in einer Lungenheilstätte, ich bitte Sie! Und währenddessen gewöhnen Sie sich hübsch die Unsitte wieder ab, dass Sie beim Umblättern immer den Finger anlecken, nicht wahr, eine hässliche, unästhetische und, wie Sie sehen, ungesunde Angewohnheit. Es gibt schönere Sachen, glauben Sie mir..."

Die Sonne lockt unerträglich, das Gekreisch, der Wind, ja selbst das Rüstergeraschel. Alwin knirscht mit den Zähnen. Warum musste die Mutti ausgerechnet jetzt krank werden?

Je länger er dort am Fenster steht und darüber nachdenkt, desto mehr erbost er sich. Will der Vater etwa so einen wie den Andy Laurentz, das dicke Muttersöhnchen, das heult, wenn man mal scharf hinsieht? Der kriegt eine Eins zustande mit seiner Mädchenschrift. Der hüpft auch im Sport glatt seine neunzig Zentimeter weit, doch, das schafft er. Der Vater hätte viel Freude an ihm.

"Pappi, die Sylvi hat mich heute in meinen dicken Podex gekniffen, huähh! Pappi, ich geh nicht mehr in die Schule, der Alwin stänkert immer! Pappi, schreib mir mal eine Entschuldigung, ich glaub, ich hab solche Bauchschmerzen!"

Eine Riesenfreude hätte der Vater an ihm. Alwin würde sie ihm gönnen.

Eine Zeitlang hatte er dann aus lauter Gnatz versucht, mit dem Duden alle erreichbaren Fliegen zu erschlagen, die ihn aufregten mit ihrem Gesumm, es gab ihm eine kleine Befriedigung. Aber als er an den Zorn des Vaters dachte, polkte er die Dinger wieder von den Hochglanzmöbeln ab. Es war ihm eklig, und er packte den Duden in die entfernteste Ecke.

Voll düsterer Verachtung setzt er sich jetzt auf die Fensterbank und lässt die Beine nach draußen baumeln. Die Rüster raschelt vor seiner Nase, Minkel Seiler knarrt auf rumpligem Ackerwagen vorbei, der Vorsitzende Jadefeuer zieht mit klapperndem Trabant eine breite Staubschleppe hinter sich her, in der sich die Hühner verheddern - es hat alles seinen Platz und seine Aufgabe. Nur Alwin hockt oben im Fenster und ist unnütz und ausgeschlossen, und die Bitterkeit breitet sich in ihm aus wie ein Brandfeuer in der Kieferndickung.

Einmal zwischendurch fällt ihm der linke Schuh herunter, dass die Hühner mit Spektakel aus ihren Staubsassen hochfahren, als sei der Habicht hinter ihnen her.

Alwin blickt dem Schuh nach und überlegt, was er nun mit dem rechten anfangen solle.

Schließlich steigt er ab, holt sich Vaters Angel, gibt Schnur. Als sich aber der Blinker in Frau Pinartz' wehender Gardine verfängt, bekommt er es mit der Angst zu tun. Erschrocken reißt und ruppt er, und nachher hängt am Haken ein kleiner Fetzen Gardinenstoff, hauchdünne Dederongardine.

Mit klopfendem Herzen schleicht er sich die Treppe hinab und greift nach dem Schuh, jeden Moment gewärtig, ein heiliges Donnerwetter über sich hereinbrechen zu sehen. Aber er hat Glück, sie scheint einkaufen zu sein.

Ans Fenster wagt er sich trotzdem nicht mehr.

Planlos steht er vor dem Aquarium, ruckt sich die Haare aus der Stirn, wischt an der Scheibe herum, aber die ist klar. Es muss etwas anderes sein, was ihm den Blick trübt. Warum kann er aber auch nicht wenigstens in Renneckenberg sein? Er würde dem Vater in die Hand versprechen, täglich ein bisschen zu lernen. Aber der lässt ja nicht mit sich reden.

Renneckenberg. Dort ist er aufgewachsen, bis er zur Schule kam, dorthin ist er jeden Sommer zu Beginn der großen Ferien gefahren, dort, zwischen den Fichten und Klippen, bei den Waldarbeitern und Kulturfrauen, dort bei Oma und Opa ist immer noch sein eigentliches Zuhause. Das will ihm der Vater nehmen - alles wegen einer einzigen kleinen Vier. Noch dazu in einem Teilfach. Die Sprache ein Verständigungsmittel. Verständigen kann ich mich auch, wenn Fehler im Brief sind!

Die Fische, die haben's gut. Schwimmen den ganzen Tag zwischen Wasserpest und Vallisneriapflanzen spazieren. Es ist ihnen vollkommen gleichgültig, ob Guppy mit einem oder zwei p geschrieben wird. Hauptsache, sie kriegen immer ihre Wasserflöhe. Ein Fisch müsste man sein.

Da hat Gösemark dieses Jahr eine funkelnagelneue Badeanstalt eingeweiht mit Rutsche und Fünfmeterturm und Brause und alles in grünen Kacheln, und keiner braucht mehr im EntenwehI herumzuplantschen, und was hat man davon?

"Macht's gut", sagt Alwin zu den Fischen und ist nun tatsächlich entschlossen, irgendetwas zu unternehmen. "Macht's gut, ich geh baden!" Aber als plötzlich die Klingel schrillt, hart und erbarmungslos, da erschrickt er bis ins Innerste.

Die Pinartz! schießt es ihm durch den Kopf. Jetzt kommt sie wegen ihrer Gardine. Er spürt, wie sein Herz rast.

Erneut klingelt es. Laut, anhaltend, ungeduldig. Dann ist es eine ganze Zeit still. Alwin rührt sich nicht vom Fleck. Wieder. Lang, schrill, fordernd. Nun hör endlich auf, du komische Oma, siehst doch, dass keiner zu Hause ist!

Lang, kurz, kurz, kurz, lang. Na warte, ich mache bei dir auch Klingelzug, du!

Auf der Treppe tappen Schritte, unschlüssig, zögernd, dann poltern sie die Stufen hinunter. Alwin lauscht mit offenem Munde hinterher. Er atmet auf. War das ein Schreck in der Morgenstunde!

Jetzt kracht unten die Haustür. Die muss aber eine Laune haben, die Pinartzen. So riesig ist ja das Loch auch wieder nicht. Sicher kaum zu sehen.

Auf Zehen schleicht sich Alwin ans Fenster und späht hinaus.

Unter der Rüster recken die Hühner die Hälse. Plötzlich fahren sie hoch und flattern und rennen kreischend davon: ein Stein ist zwischen ihnen gelandet. Zum zweiten Mal, dass sie aufgestört werden. Wie sollen sie so den Eierplan erfüllen?

Alwin vergisst alle Vorsicht und lehnt sich weit aus dem Fenster. Seit wann schmeißt denn die Pinartz ihre eigenen Hühner?

Unten im Blickfeld erscheint ein leuchtend roter Haarschopf über einem Paar unwahrscheinlich staubiger Barfußbeine, dazwischen flattert der blaue Frotteestoff eines Bademantels.

"Ruschi!", ruft Alwin, unsagbar erleichtert und froh. "Ruschi, komm hoch!" Wenigstens einer, der ihn nicht im Stich lässt!

Unter dem Haarschopf wird ein sommersprossiges rotes Gesicht mit einem empörten Mundloch sichtbar.

"Ich denke du bist nicht da? Klingele wie dumm!"

"Komm hoch, Men!", jubelt Alwin. "Los, im Schweinsgalopp!"

Seine schlechte Laune ist wie weggehext. Vergessen sind die sieben Tage, der Duden, die Pinartz und der Zorn des Vaters, denn: Ruschi ist da.

Er lässt sich allerdings Zeit. Als er kommt, schimpft er wie ein Rohrspatz: "Entweder machste gleich auf, oder ihr baut euch demnächst einen Fahrstuhl ein. Ich hab doch keinen Klaps, bei der Hitze dauernd eure Treppen steigen. Kann sich euer Vater keine bessere Wohnung aussuchen, sage mal?"

"Nee", sagt Alwin und grinst. "Weißt du, er kann sich von seiner alten Wirtin nicht trennen."

"Ach, du grüne Neune!" Der Rotkopf lässt sich erschöpft in einen Sessel fallen. "Dann will ich dir mal gleich mein Beileid aussprechen..." Er rekelt sich in dem schwarzen Lederpolster.

"Ihr habt es wenigstens ein bisschen kühl hier, macht wohl der Baum, aber unten... Da hat eben eins von diesen dussligen Hühnern ein Ei gelegt, hartgekocht, sag ich dir. So eine Hitze! Warum machsten du nicht auf, wenn ich klingele?"

"Konnt ja auch Hinfuhr mit dem Zeitungsgeld sein. Wo willsten draufzu jetzt, baden?"

"Nee, Schlitten fahren", erwidert Ruschi und fühlt sich so richtig wohl in der fremden Wohnung. "Und du, kommste mit?"

Das hätte er nicht fragen dürfen. Alwin blickt aus dem Fenster.

"Na was?", forscht der andere und richtet sich schon hoch.

"Keine Lust", mault Alwin unsicher. "Haste vielleicht 'n Krimi mit?"

"Jetzt Krimis schmökern? Bei dem Wetter? Junge! Was ist los?"

"Darf nicht", gibt Alwin zu, "Streit, weißt du, wie das so ist. Kommst ja nicht gegen an gegen den Tierarzt..."

Ruschi steht unschlüssig. Das Bad lockt, aber er möchte den Freund jetzt nicht im Stich lassen.

"Der ist doch bestimmt nicht vor Abend da", überlegt er. "Kannste ruhig mitkommen, nur 'ne kleine Stunde, doch!"

Alwin zögert.

"Aber wenn uns die Pinartz sieht?"

"Die ist doch kurzsichtig."

"Du kriegst ja nachher auch keine Abreibung. Du bist ja von deinem Vater geschieden."

Es ist, als streife ein Wolkenschatten über Ruschis Gesicht. "Heute zwei Jahre, auf den Tag genau." Er wendet sich zum Gehen.

"Wenn du feige bist, dann bleib man hier, ich jedenfalls weiß, was ich mache. Als ob jemand was gegen Baden haben könnte. Schon von wegen der Reinlichkeit. Aber wenn dein Alter das nicht einsehen will, kann er mir mal sehr leid tun. Mahlzeit, und grüß deine Pinartzen." Er geht jetzt endgültig zur Tür. Jeden seiner Schritte kann man hellgrau vom Teppich ablesen.

"Nu warte doch mal!" Alwin hält ihn unwillig auf. "So eilig wirst du es doch nicht haben."

"Doch. Söhnchen Andy lernt nämlich schwimmen. Stell dir mal vor: den Quakfrosch an der Angel. Das Schauspiel muss man gesehen haben."

Ruschi stellt sich breitbeinig hin, hält mit beiden Armen seinen Bademantel auf wie ein Zauberer vor der Vorstellung und verkündet mit Marktschreierstimme: "Damen und Herren! Es schwimmt jetze der große Sportler und Weltrekordinhaber im Hundepulen Andy Laurentz. Versäumigen Sie nicht dieses einmalige Erlebnis..."

Vor Alwin ersteht der ganze Jammer seiner Hausarreststunden. Ach halt den Rand!", fährt er Egon Rusch an.

"Und nachher tauche ich ihn, bis er mir ein Eis verspricht. Mach's gut!"

Alwin gibt sich einen Ruck. Die verfluchte Rechtschreibung kann er nachher noch üben, wenn er sich ein bisschen erfrischt hat, dann geht es bestimmt sogar noch schneller. "Ich komme ja schon mit", sagt er rasch und mit merkwürdig dünner Stimme. Er schlenkert energisch die Haarsträhne hinter, die sofort wieder nach vorn fällt. "Aber nur eine kleine Stunde, hörst du?"

"Na also", stellt Egon Rusch zufrieden fest und strahlt mit allen seinen Sommersprossen, "Zureden hilft, sagt mein Vater, als er den Bullen melkte." Er schnippst mit den Fingern. "Sollst mal sehen, nicht so viel kriegt dein Alter mit."

3

Von dem Turm der alten Gösemarker Wehrkirche, aus rundgeschliffenen roten und grauen Findlingsblöcken wuchtig gefügt, hallen vier schnelle dünne Schläge in den Abend, dann noch einmal sieben schwerere, anhaltendere. Gleich darauf setzt die große Glocke ein und dröhnt ihr Geläut über das flache Land, dass die Turmtauben, immer aufs Neue erschrocken, mit klatschenden Flügelschlägen davonstieben.

Alwin geht in der Wohnung umher wie in einem Käfig. Ein doppeltes Gitter umgibt ihn: die Zimmerwände und sein schlechtes Gewissen. Was die nun wieder zu bimmeln haben, denkt er nervös.

Unschlüssig steht er vor dem Schreibtisch. Es ist ein Riesenmöbel. Der Vater hatte ihn auf dem Boden eines Kulturhauses irgendwo unten im Kreis aufgestöbert. Früher war es ein Gutshaus gewesen, unerfindlich, wozu der ehemalige Gutsbesitzer einen derartigen Mammutschreibtisch gebraucht hatte. Drei Mann hatten mit zupacken müssen, um ihn die Treppen hinauf ins Wohnzimmer zu wuchten. Nachher hatten sie einen ganzen Kasten Bier gebraucht, um wieder halbwegs zu Kräften zu kommen. Der stand schon vorsorglich im rechten untersten Fach.

Wenn der Vater hinter seinem Schreibtisch sitzt, verlangt er unbedingte Ruhe. Das Radio wird abgeschaltet, die Mutter verzieht sich in die Küche, Alwin, wenn es irgend geht, nach draußen - selbst die Fische im Aquarium scheinen noch lautloser mit den Kiemendeckeln zu wackeln. Hier sitzt der Vater in einer Gedankenwolke und baut gleichsam gepolsterte Türen um sich auf. Mit diesem Eichenklotz aus vergangenen Gutsbesitzerzeiten reist er in die Zukunft, plant, konstruiert, verändert. An diesem Schreibtisch wächst Gösemark zu einem modernen landwirtschaftlichen Produktionszentrum heran, gewinnt Vaters Lieblingsplan immer sichtbarere Formen. Wahrscheinlich wäre es anderswo als auf einer so gewaltigen Fläche gar nicht möglich, die verwirrend vielen Rinderställe, die Hochsilos, die Großmolkerei mit Trockenmilchwerk und weiß der liebe Himmel was noch alles entstehen zu lassen.

Manchmal holt er sich dann andere Männer an diesen Schreibtisch, den Vorsitzenden des Rates des Kreises, den Genossenschaftsleiter Jadefeuer, den Molkereidirektor, welche von der Tierzuchtinspektion, Bauleiter, viele hatte Alwin noch nie vorher gesehen. Dann wird gestritten, debattiert, verworfen, umgeändert, auf den Tisch gehauen, immer mal wieder ein Kasten Bier aus dem untersten Fach geleert. Manche von diesen Besuchern kommen nie wieder, andere dafür um so öfter, der Vorsitzende vom Rat des Kreises zum Beispiel, "Frau Weingart, für mich höchstens eine Selters, bin nur mal für einen Sprung herauf, und mein Wagen steht unten", und dann wird oft bis Mitternacht beraten.

Alwin findet, ein anderer als dieser Schreibtisch passe auch gar nicht zu seinem Vater, er aber kommt sich unglücklich und verlassen daran vor. Der Tierarzt fand auch dafür eine Erklärung. "Das kommt, weil du noch nicht das richtige Format hast. Man muss alles im Zusammenhang sehen."

Nun sitzt Alwin hier, blättert lustlos im Duden und denkt an den Zusammenhang zwischen dem Glockenläuten draußen und dem schlechten Gewissen in seinem Innern. Aber was soll er auch anfangen mit dem Ding? Wörter abschreiben seitenlang oder was? Dass so was überhaupt gedruckt wird, die reinste Papierverschwendung!

Alwin krikelt Männerchen in sein Heft. Eins mit dickem Bauch und runden dummen Fischaugen. Daneben schreibt er: Sönchen Andie. Junge, Junge, der hat vielleicht das Spucken gekriegt heute in der Badeanstalt. Der braucht die ganze nächste Woche nichts mehr zu trinken.

Ein Zettel liegt neben der FederschaIe, darauf in der schnellen großen Handschrift des Vaters die Worte: Unterlagen über Mischfutterwerk besorgen. Mit Rotstift zieht Alwin sorgfältig jeden Buchstaben des Wortes Mischfutterwerk nach. Dann springt er auf und knallt den Stift hin. Ruhelos geht er zum Fenster. Ist der Vater man noch nicht in Sicht? Viertel nach sieben schon! Er ersehnt und fürchtet das Geräusch, das ihn ankündigt.

Er bereitet das Abendbrot vor, versucht sogar, die Wurstplatte zu garnieren, wie er es von der Mutter abgesehen hat. Die Radieschen schneidet er so ein wie sie. Ob sie jetzt auch Radieschen isst? Was isst man eigentlich in so einer Lungenheilstätte? Ihn überkommt plötzlich eine große Welle Sehnsucht nach der Mutter, schlimmer noch als am Vormittag. Die Küche ist fremd ohne sie. Alwin empfindet einen Moment fast so etwas wie Furcht, er hastet die Treppe hinunter, zwei, drei Stufen auf einmal, atmet draußen tief durch, blickt sich um, und dann, um sich den Anschein zu geben, nicht umsonst hinuntergerast zu sein, fasst er kurzerhand bei Frau Pinartz durch den Zaun nach vier Stängelchen Petersilie. Langsam begibt er sich wieder nach oben.

Er legt die roten Radieschen in ein grünes Petersilienbett.

"Petersilie Suppenkraut wächst in unserm Garten.
Sylvi Hannich ist die Braut, Andy muss noch warten",

singt er, um sich abzulenken. Seine Stimme geht wie auf Stelzen.

Wieder steht er herum und weiß nicht, was er beginnen soll. Abwaschen könnte er, aber dazu hat er keine Lust. Dazu ist auch der Geschirrhaufen zu groß. Seit die Mutter fort ist, schaffen sie sonnabends immer den Stapel auf den Hof und spritzen ihn mit dem Autoschlauch ab.

"Junggesellenwirtschaft", muffelt Frau Pinartz dann und rümpft die Nase, "also bei meinem Seligen..."

Besser, er kommt Frau Pinartz nicht in die Quere.

Er steht wieder am Schreibtisch und überlegt. Plötzlich bückt er sich, fasst hinter eins von den klobigen gedrechselten Beinen. Wenn er es schafft, hat der Vater heute gute Laune. Das Orakel von Delphi!

Er macht einen Buckel wie ein Kater, wenn er gestreichelt werden will. Sein schmales Gesicht ist hochrot vor Anstrengung, die Haare hängen tief herunter. Hau ruck, verdammt noch mal! Der Schreibtisch hebt den Fuß um keinen zehntel Millimeter. Noch einmal! Nichts.

"Dann eben nicht!", knurrt Alwin und schlenkert die dünnen Arme. "Orakel von Delphi! - Aberglaube."

Ihm fällt das Fotoalbum ein. Er kramt es hervor und setzt sich mitten auf den Teppich, die Beine untergeschlagen. Die Albumseiten reichen von einem Knie zum anderen. Ganz vorn klebt nur ein einzelnes Bild, groß wie eine Postkarte: ein Haus. Dunkles Balkengefach, aufgeklappte Fensterläden hinter blütenschweren Petunienkästen, ein Stallgebäude, fast von hohem Grashang verdeckt, ringsum Wald, dunkler, fast schwarzer Fichtenwald... Auf der grauen Albumseite steht mit weißer Fototinte, in der etwas krakligen Handschrift der Mutter: Forsthaus Renneckenberg.

Alwin schaut und schaut. Jetzt muss gleich die Tür aufgehen und die Oma erscheinen, sich die Schürze abbinden und rufen: "Bübel, was märst du denn wieder? Der Kuchen wird alt!", und neben ihr taucht dann das braunverwitterte, gegerbte Gesicht mit den vielen freundlichen Augenfältchen im Hutkrempenschatten auf, der Hut selbst abgegriffen und speckig und ein bisschen verbeult von den vielen Zweigen, die ihn schon gestreift haben, die Tabakzähne im lächelnden Mund und die scharfe Kerbe im Kinn, in der beim Rasieren regelmäßig ein gelblicher Rest Bartstoppeln stehenbleibt - das gütige, kluge, vertraute, verständnisvolle Gesicht des Opas.

Es ist Alwin, als hörte er ihn sprechen: "Na, Steppke, Pech gehabt in der Schule? Das kann vorkommen. Nimm dir's nicht so zu Herzen, das gleichst du schon wieder aus. Auch ein Baum hat mal dicke, mal dünne Jahresringe, deswegen wächst er doch."

Da steht der Vater in der Tür: Oben zieht er den Kopf etwas ein, mit den Ärmeln streift er das Holz. Das karierte Sporthemd ist aufgeknöpft bis zum Bauch, die Breecheshose steckt in verschmierten Schaftstiefeln, über dem Arm trägt er einen nicht sehr weißen Kittel, in der Hand eine Instrumententasche. Er sieht etwas abgespannt aus um die Augen herum. So steht er da, lange erwartet und nun doch überraschend. Es riecht durchdringend scharf in Alwins Wunschträume hinein.

"Na?" sagt der Vater. Es klingt neutral. Alwin steht wie ein Soldat, zu dem plötzlich ein General aufs Zimmer kommt. "Na", sagt der Vater wieder und setzt die Tasche ab, "du hast ja schon den Tisch gedeckt, tüchtig! Aber ich muss erst mal ins Bad, mein Lieber. Draußen ist es nämlich heiß zum Umfallen. - Diese Versammlung nachher schmeckt mir gar nicht."

"Ja", erwidert Alwin unschlüssig.

"Nu mach, mach!", treibt ihn der Vater an. "Steh nicht da wie eine Gans, wenn's donnert. Bring mir die Latschen, Stiefel aus, zack, zack! Ist sowieso schon genug Dreck auf dem Teppich."

Ruschi! denkt Alwin erschrocken. Dass er daran nicht mehr gedacht hat! Beflissen saust er los.

Er wäscht in der Küche die Schmierstiefel ab, gleich im Ausguss, Schweinemist, denkt er dabei und zieht die Nase kraus, dann versucht er mit Handfeger und Kehrblech, Ruschis Barfußspuren vom Teppich abzufegen. Und während der Vater im Badezimmer singt und gurgelt, "Jetzt fahrn wir übern See, übern See" und "La Paloma, ohee", überlegt AIwin, womit er sich noch nützlich machen und also möglichst wenig Anlass zu Ärgernissen schaffen könnte.

Versammlung? geht es ihm durch den Kopf. Hoffentlich lässt er mich dann in Frieden, dann habe ich den ersten Tag weg... Sieben Tage sind gar nicht so schlimm.

Er rennt runter auf den Hof, immer vier Stufen mit einem Schritt. Er stellt sich hin und spritzt den Wagen ab.

Frau Pinartz kommt breit und bedrohlich um die Ecke.

"So ist es richtig!", zetert sie. "Anderswo spart man schon mit jedem Tropfen, und hier wird das Wasser für nichts und wieder nichts vergeudet." Die Fäuste in die Hüften gestemmt, steht sie da und betrachtet Alwins Hantierungen.

Der tut erst, als höre er nichts, dann erwidert er empört: "Und Sie gießen ja auch immer Ihre Petersilie, Mensch!"

"Werd nicht schon wieder frech!", schimpft die Frau erbost. "Ich sag's deinem Vater. Zu meines Seligen Zeiten..."

"Petze!", brummelt Alwin undeutlich. Aber nach einer kleinen Weile stellt er doch ab. Man muss die Leute nicht unnötig herausfordern. Man zieht doch bloß immer den Kürzeren. Außerdem denkt er an das Gardinenloch, das sie noch nicht bemerkt zu haben scheint, und hält sich zurück. Da wird sowieso noch etwas fällig sein, dann...

Betont lässig wendet Alwin ihr den schmalen Rücken zu und steigt langsam die Treppen hinauf, aus vollem Halse pfeifend: "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad..."

Oben ist der Vater soeben fertig geworden. Rotgescheuert und mit zerstruwweltem Haar steht er weißhemdig mitten im Zimmer und plagt sich mit den Manschettenknöpfen ab.

"Zeit, dass du kommst", stellt er fest. "Diese verdammten Dinger wollen wieder mal nicht. Also wer die erfunden hat, Prügel müsste der kriegen!"

Alwin grient ein bisschen. Beflissen springt er hinzu.

"Was für eine Versammlung hast du denn wieder?", erkundigt er sich vorsichtig. "Die lassen dich nie in Frieden, was?"

"Gemeinderat", murrt der Vater denn auch, "konnten sich wahrhaftig keine bessere Zeit aussuchen, die Brüder. Nu los, essen, hab Kohldampf!"

Eine Zeitlang ist es still, wenn man das still nennen kann, das Tellerklappern, Radieschenschnurpsen, Bierflaschengluckern, eine gespannte Stille, und Alwin lauscht bei alledem krampfhaft auf das Geticke der Uhr und findet es eintönig langsam.

"Hat Mutti eigentlich geschrieben?"

"Wie? Ach so", Alwin fährt zusammen, schüttelt heftig den Kopf. "Ich hab ja auch gedacht - aber nur Zeitung", würgt er mit vollem Munde hervor. Er trinkt hastig nach und verschluckt sich.

"Die kann warten. Sonst nichts?"

"Na, wenn ich es dir sage..."

Der Vater blickt auf, schnell und scharf. Die Nahtnarbe zuckt verräterisch. "Nichts weiter gekommen", ergänzt Alwin hastig.

Schweigend essen sie.

Schließlich wischt sich der Vater mit dem Taschentuch den Mund und blickt zur Uhr. Automatisch greift er zur Zeitung.

"Und was hast du getrieben den Tag über?", erkundigt er sich nebenher.

Die Frage lässt auf gute Laune schließen, trotzdem wird Alwin über und über rot. "Na was schon!", nuschelt er.

"Sag mal", beginnt der Vater erneut und faltet die Zeitung wieder zusammen, "seit wann gehst du eigentlich mit Badehose in die Wanne?"

Um die Butter kurvt eine Fliege und lässt sich hartnäckig immer wieder auf der Nordwestecke nieder. Alwin sieht, wie sie hurtig den Rüssel eintunkt und wieder anzieht. Ich hätte sie doch alle mit dem Duden erschlagen sollen, denkt er und verjagt sie mit einer unwirschen Bewegung.

"Ach soooo", sagt er gedehnt und tut, als spräche er von der nebensächlichsten Sache der Welt, während sein Herz hart im Hals pocht. "Ach soo. War mit Ruschi 'ne halbe Stunde baden. War so heiß..." Er könnte sich backpfeifen. Hängt die nasse Badehose direkt über den Wannenrand. Alwin, du Rindvieh!

"Hmm", sagt der Vater unbestimmt. Trotzdem klingt es wie fernes Gewitter. "Da hast du wohl allerhand geschafft, wie?"

"Na ja", druckst Alwin herum und schlenkert die Haare, "ein bisschen..." Plötzlich kommt ihm zum Bewusstsein, wie unerträglich heiß es ist. Alle Poren kribbeln und jucken ihn zugleich. Das müsste verboten werden, eine solche Hitze!

"Kann man das mal sehen?", erkundigt sich der Vater.

Das musste ja so kommen. Das hätte er sich an den Knöpfen abzählen können. Er stottert: "Ja, aber, aber es ist doch schon acht jetzt."

"Was soll das heißen?", fragt der Vater erstaunt.

"Na, deine, deine Versammlung. Sie werden schon warten. Du weißt doch, die Bürgermeisterin, wie sie immer ein Gewunder macht..."

"Das lass meine Sorge sein. Nun mache hin."

Alwin kramt und kramt in seiner Schultasche. Nein, das geht nicht gut...

"Soll ich suchen helfen?", fragt der Vater an. Er steht da, breitbeinig, weißhemdig, die Hände in den Taschen, unumstößlich. Hätten die alten Ägypter nicht schon Throne für ihre Herrscher gehabt, sie hätten sie in ebendieser Haltung dargestellt.

Na wennschon, denkt Alwin trotzig, habe ja Ferien!

Er reicht das Heft hin und wartet ab. Von unten schielt er an ihm hoch.

Der Vater findet sofort die Seite mit den Krikeleien.

"Und was soll ich darunter verstehen?", forscht er, merkwürdig ruhig. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. "Dreijähriger beim Zeichenversuch?"

Alwin steht da, den Kopf eingezogen, und starrt zu Boden. So wartet er das Donnerwetter ab. Wenn es etwas gibt, das den Vater aufregen kann, dann ist es diese widersetzliche Haltung.

"Ich hab dich was gefragt!"

"Hatte keine Lust", quetscht Alwin mühsam heraus.

Aber das Donnerwetter bricht noch nicht los. "So?", fragt der Vater nur und zieht die Augenbrauen drohend zusammen.

"Ja", bestätigt Alwin bockig.