Impressum

Helmut Preißler

Glück soll dauern und andere Gedichte

Sammelband

ISBN 978-3-95655-568-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2015 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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Stimmen der Toten (1957)

Robert Mainer

1885-1933

 

Als ich noch lebte,

war mir mein Laden alles.

Ich starb wie die Frucht,

die von innen der Wurm frisst.

 

Während ich mühsam dem Handel

mit Obst und Gemüse die Steuern auspresste

und Geld für mich und die Meinen,

verrann mir das freudlose Leben

wie jene Pfennige, die ich mich mühte,

zusammenzubringen.

 

Im Sommer des Lebens war ich so leer,

dass mich der raue Wind eines herbstlichen Tages

leicht

dem Tod in die Arme warf.

Rainer Schieber

1904-1934

 

Vor allen Dingen liebte ich das Schöne.

Es zu finden, vertraute ich einzig dem Auge.

Ich vertraute ihm blind.

 

So nahm ich Ines zur Frau ...

und suchte nach Monaten schon

Trost und Wärme im Schnaps,

fand beides und mehr noch für Stunden

und gab mich den Stunden für Tage und Wochen.

 

Nach wenigen Jahren erlag ich dem Ekel,

dem Bild, das täglich und stündlich mein Auge

misshandelte.

Ines Schieber

1899-1938

 

Über den Tod meines Mannes gingen Gerüchte.

Da blieben die Männer mir fern.

Leer lag mein Haus, das ich ererbt von Rainer, dem Maler,

der meine Schönheit geheiratet hatte,

gestorben war als ein Säufer.

 

Hungrig nach der Bewunderung,

zeigte ich mehr und mehr meiner Schönheit.

Was sonst sollt' ich tun?

 

Sie nahmen mich alle und taten, als gäben sich sich -

und gaben nur Schläge, eingewickelt in Lust ...

bis ich die Schönheit für ihre Spiele verspielte.

 

Ehe ich vierzig geworden,

stand ich im Wind einer offenen Tür,

durch die niemand mehr eintrat.

Karl Ludwig Wunsch

1859-1935

 

Im späten Alter noch

las ich sehr gerne Märchen und Sagen,

und stundenlang konnte ich träumen

von großen Taten der anderen,

und immer träumte ich mich in die andern hinein.

 

Alles hatte ich zu einem tollkühnen Reiter;

doch immer fehlte das Pferd.

 

Manche behaupten,

dass es an mir lag, wenn ich

die Hürden des Lebens nicht nahm.

Elisabeth Zachow

1932-1936

 

Meine Mutter wollte mich totmachen,

eh ich noch lebte.

Aber sie musste mich trotzdem gebären,

und ich musste leben.

 

Ich wollte Mutter sagen.

Wer hatte mich lieb?

Ich wollte Vater sagen.

Doch wo war ein Vater?

 

In einer Anstalt

werden Kinder nur selten zu Menschen;

ich starb dort.

 

Sagt,

warum duldet der Mensch eine Welt,

die den Menschen nicht duldet?

Kurt Walden

1902-1937

Kennt ihr das Stück mit dem Hut auf der Stange,

mit dem Schuss, der dem Apfelschuss folgte,

der Geßlern ins Herz traf,

die Lande befreite?

 

Mir ging es ganz wie dem Tell:

Ich sprach gerade mit meinem Jungen,

als sie mit Hakenkreuzfahnen

an mir vorübermarschierten.

Da versäumte ich es, Reverenz zu erweisen.

 

Das war wie beim Tell.

Doch war ich kein Jäger wie er

und trug keine Waffe wie er.

 

Sie schlugen mich nieder.

Sie traten mir mit den benagelten Stiefeln

die Rippen in meine Lungen.

 

Auf dem Wege zum Krankenhaus starb ich,

fantasierend

vom Tell.

Herbert Liebsch

1880-1938

 

Während ich lebte, hab ich an Gott nicht geglaubt.

„Trompeten von Jericho", sagte ich,

„sind wie alle Trompeten:

aus Blech!

Und das jüngste Gericht kommt erst,

wenn ich nicht mehr jung bin."

 

So wurde ich beinahe sechzig

und hatte reichlich gelebt ...

Doch als ich hinüberging,

dachte ich trotz aller Sünden:

 

Komme, was will!

Gisela hab ich geliebt

und nicht heruntergezogen zu mir!

Einmal im Leben widerstand ich der Lust

und schonte die Unschuld.

 

Blast!

ihr Trompeten aus Blech!

Gisela Göbel

1893-1939

 

Alles, was ich erlitt, kann ich verzeihen -

dies eine nicht:

 

Siebzehn Jahre alt, liebte ich Herbert;

er war schon beinahe dreißig.

Die Liebe öffnete meine Lippen den seinen

und brachte Sehnsucht.

 

Im Sommer am See

lagen wir nackt und allein eines Abends.

Ich spürte jubelnd Hände und Lippen ...

und immer nur Hände und Lippen ...

 

Alles, was ich im Leben erlitt, kann ich verzeihen;

niemals verzeihe ich Herbert

die Stunde, die er versäumte.

 

O diese Scham!

Günter Landerer

1901-1939

 

Elend zerstörte Angelikas Schönheit.

 

Ich sah ihre Augen, weit von der Hoffnung,

am Morgen.

„Ich möchte arbeiten!", hab ich gesagt.

 

Ich sah ihre Augen, weh, ohne Vorwurf,

am Abend.

„Lasst mich doch arbeiten!", hab ich gebettelt.

 

Elend zerstörte Angelikas Schönheit!

„Arbeiten will ich!", hab ich geschrien.

 

Tage um Tage, Wochen um Wochen

hab ich gebettelt, geschrien ...

 

Dann gingen andre in Braun und fanden so Arbeit.

Aus den Gesichtern der Frauen

löschte das Sattsein die Falten.

 

Sie kauften für ihre Frauen.

Sie kauften Kleider für ihre Frauen.

Sie brachten Freude ihren Frauen!

Sie konnten fröhlich sein für ihre Frauen!

 

Wochen um Wochen hab ich um Arbeit gefragt,

hab ich gebettelt, geschrien ...

 

Weit von der Hoffnung, lächelten Augen

am Morgen,

weh, ohne Vorwurf, lächelten Augen

am Abend ...

Elend zerstörte Angelikas Schönheit!

 

... Zwei Jahre litt ich

Zerstörung im Antlitz der Liebsten.

 

Dann nahm ich die rote Fahne,

nähte den weißen Kreis der Ergebung ihr in das Herz

und formte aus schwarzen Bändern in seiner Mitte

das Kreuz aus vier Galgen ...

 

Elend zerstörte Angelikas Schönheit!

 

Tage um Tage, Wochen um Wochen bin ich gelaufen

hinter dem schwarzen Kreuz

im farblosen Felde mitten im Rot ...

 

... bin ich gelaufen ...

 

auf dem Rücken das Kreuz aus vier Galgen,

gefangen im Kreis der Ergebung,

bedrängt von dem Blut der verratnen Genossen,

verurteilt von Furchen der Scham in Angelikas Antlitz

 

... bin ich gelaufen ...

Angelika Landerer

1910-1939

 

Du warst zu den Braunen gelaufen,

bist hinter der Fahne gegangen

und brachtest mir Essen und Kleidung und Geld.

 

So hast du mich bitter betrogen:

Was mir gehörte,

hast du für Butter und Kleider verkauft.

 

Liebster,

wie konntest du glauben,

dass du mir so wenig wert bist!

Lore Bürger

1911-1939

 

Ich ließ mich sinken,

tiefer und tiefer,

bis auf den Grund dieses Sees.

 

Das Wasser ist weich,

und die Fische sind stumm.

Traudel Berg

1923-1937

 

Stellt euch vor:

 

Ihr seid eben erst vierzehn und habt einen lieb,

und das ist ein Jude!

Und Vater und Mutter versperren die Türen.

 

Und stellt euch vor:

 

An einem Sommertag gelingt es euch endlich,

in einem Dickicht am See

mit dem Freund euch zu treffen.

 

Und stellt euch vor:

 

Es finden euch Vater und Mutter

und treiben euch fort mit Schlägen

und geben euch Namen, die kaum ihr versteht -

die euch verfolgen, bis euer Herz

nicht mehr zu schlagen wagt ...

 

Väter und Mütter!

Noch Jungfrau zu sein und als Hure hinzusterben,

wie soll man das verzeihn!

David Sandel

1923-1939

 

Zum letzten Male hab ich geweint,

als sie dich forttrugen, Traudel,

wenige Tage nach zärtlicher Stunde

im Dickicht am See;

seither bin ich tot.

Sie haben mich mit dir begraben.

Was ich im Lager erlitt, traf einen anderen.

 

Ich war es ja nicht mehr,

dem sie die Mutter entrissen,

den sie mit anderen jüdischen Kindern

in kreischenden Wagen durch froststarre

Nächte und Tage fuhren und fuhren

und den sie dann endlich - nachdem sie

das Haar ihm geschoren -

in einem Raum ohne Ausgang erstickten ...

 

Ach, Traudel,

ich war es ja nicht mehr, dem sie das taten;

ich war ja schon lange bei dir.

 

Was sie verbrannten, zwei Jahre später,

war nur ein Körper.

Klaus Kretschmann

1894-1940

 

Im Heulen des Sturmes

hat niemand die Schüsse gehört.

 

Der trommelnde Regen

trieb unser Blut in den Boden.

 

Das Dunkel der Nacht

machte die Mörder unkenntlich.

 

Doch man wird Schüsse hören!

Man wird Blut sehen!

Man wird die Mörder erkennen!

 

Brüder,

zur Sonne, zur Freiheit!

Friedhelm Gluger

1894-1940

 

Von Politik hielt ich gar nichts;

mir schmeckte der Morgenkaffee.

 

Soldaten marschierten;

mir schmeckte der Kaffee noch immer.

 

Als sie mich holten, las ich Lokales.

 

Ratlos ließ ich den Morgenkaffee

und ging, wohin sie befahlen.

 

Kalt ist das Grab bei Narvik.

Wilhelm Zeder

1893-1939

 

Erst verhörten sie mich.

Ihre Fragen fanden mich nicht.

Dann schlugen sie mich.

Ihre Schläge hämmerten: „Schweig!"

Dann brannten sie mich.

Die glühenden Eisen erstachen den Schmerz.

 

Als ich erwachte,

sagten sie mir, sie wüssten alles.

 

Dann verhörten sie mich.

Ihre Fragen fanden mich nicht.

Dann schlugen sie mich.

Ihre Schläge hämmerten: „Schweig!"

Dann brannten sie mich.

Die glühenden Eisen schrien: „Beiß zu!"

 

Eh ich in Nacht fiel,

spie ich die Zunge vor ihre Füße.

Erwin Seidel

1923-1942

 

Habt ihr schon einmal Strafexerzieren erlebt?

Gasmaske vor dem Gesicht,

den „Affen" mit Steinen am Rücken,

und dein Spieß jagt dich über die Straßen ...

bis du liegen bleibst in einem Schlammloch.

 

Seid ihr schon einmal „U-Bahn gefahren"?

Zwischen den Betten die Bahnsteige,

unter den Betten die Tunnel,

und dein Spieß jagt dich von Bahnsteig zu Bahnsteig ...

bis du liegen bleibst unter den Betten.

 

Habt ihr schon einmal „Maskenbälle" erlebt?

Saal für den Tanz: der Appellplatz,

im Spinde hängen „Kostüme" zur Wahl,

und dein Spieß heißt dich umziehn und „antanzen" ...

bis du liegen bleibst auf dem Appellplatz.

 

Ich hab das alles gekostet ...

 

... und habe mit Zahnbürsten Stuben gescheuert,

ehe ich liegen blieb auf der Latrine,

weil ich die Übungspatrone mir in den Mund schoss.

Mitten im dröhnenden Einbruch der Nacht

war mir, als hätte ich etwas vergessen ...

 

Lebt der Spieß Wenderleit noch?

Werner Kaiser

1913-1943

 

Man schrieb meiner Mutter:

„Gefallen fürs Vaterland."

 

Sie haben gelogen.

 

An eben der Wand,

an die man die vielen

in bäurischen Kitteln

gestellt hatte,

bin ich gefallen,

weil ich nicht

Mörder sein konnte.

 

Hätt ich mein Vaterland

eher erkannt!

Rahel Lauter

1929-1943

 

In schönen Nächten

blicken Verliebte zu Sternen hinauf.

Die Mütter zeigen den Kindern das Strahlen am Himmel.

Glücklich machen Sterne den Menschen.

 

Mir aber zwangen die Menschen den gelben beschriebenen Stern an die Brust,

der brannte und brannte,

mordete Freude und Liebe ...

Oh, ich liebte die Sterne am nachtdunklen Himmel!

Menschen verbrannten mich mit einem Stern.

Ursel Marquardt

1922-1943

 

In meinem Nachtschränkchen lagen die Briefe:

„Ich hab dich sehr lieb und will für dich Held sein ..."

Auf meinem Nachtschränkchen standen die Bilder ...

 

Und meine Lippen formten

die Sätze aus seinen Briefen,

und meine Augen umfingen

das liebe Gesicht auf den Bildern,

und die Gedanken erblickten ihn

dort, wo man Held ist ...

 

In meinem Nachtschränkchen lagen die Briefe:

Von Nahkämpfen schrieb er und

wie er die Feinde gehaun und gestochen ...

Auf meinem Nachtschränkchen standen die Bilder ...

 

Und meine Lippen flüsterten

Sätze aus seinen Briefen,

und meine Augen suchten

das liebe Gesicht auf den Bildern,

und die Gedanken erblickten

ihn schaudernd als Helden ...

 

In meinem Nachtschränkchen lagen die Briefe:

Er schrieb vom Erhängen der Geiseln,

vom Schleifen des Dorfes ...

Auf meinem Nachtschränkchen standen die Bilder.

 

Und meine Lippen stammelten

Sätze aus seinen Briefen,

und meine Augen flohen

das liebe Gesicht auf den Bildern,

und die Gedanken erblickten

ihn zitternd als Mörder ...!

 

Aus meinem Nachtschränkchen nahm ich die Briefe

und warf sie ins Feuer.

Von meinem Nachtschränkchen nahm ich die Bilder

und warf sie ins Feuer.

 

Doch die Gedanken

an meine Liebe

mordeten langsam

mein Leben.

Holger Lotos

1915-1943

 

Felsen schinden dich wund, wenn du sie brichst.

Tag für Tag brachen wir Steine.

Felsen biegen dich krumm, wenn du sie trägst.

Tag für Tag trugen wir Steine.

 

Posten schinden dich wund, was du auch tust,

biegen dich krumm, wie du auch bist.

Tag für Tag standen sie Wache.

 

Tag für Tag brachen wir Steine, trugen wir Steine, standen sie Wache.

Tag für Tag.

 

Dann kam ein Tag,

da ließ ich den Stein,

da riss ich den Posten

mit mir in den Abgrund.

 

Der heulende Flug kühlte die Wunden.

Der Aufschlag streckte den Rücken.

Heinz Borchers

1923-1943

 

Über der gläsernen Starre des Flusses,

über dem Leichentuche der Erde

blitzten mit eisigen Dolchen die Sterne,

glotzte der Mond vom gefrorenen Himmel ...

 

O ich war müd.

 

Unter der gläsernen Starre des Flusses,

unter dem Leichentuche der Erde

ruhten die Toten, marschierten nicht mehr,

spürten nicht mehr die Dolche der Sterne,

nicht mehr die Dolche der Furcht und der Zweifel ...

 

O ich war müd!

 

Und vom gefrorenen Himmel drohten die Sterne ...

Und der Schnee am Dnepr war weich,

deckte mich zu ...

 

Ein riesiges Leichentuch für seine Feinde

hat der russische Winter!

Klaus Zörger

1887-1944

 

Die mich erzogen,

erzwangen beizeiten mein Mühen,

nicht zu missfallen.

 

So musste es kommen,

dass mich die Herrschenden beispielhaft fanden,

Beherrschte mich mieden.

 

Bald schon gefiel ich mir dann im Gefallen.

 

Gefallend fiel ich von Stufe zu Stufe

hinab bis zur Tiefe der Denunziation,

auf der ich verreckte.

Maria Sikorda

1906-1944

 

Beim ersten Angriff

traf es den Mann.

Er wachte beim Brandschutz.

 

Beim zweiten Angriff

war es der Junge.

Als Flakhelfer fiel er.

 

Beim dritten Angriff

traf es das Mädel.

Sie half den Verwundeten.

 

Beim vierten Angriff

ging ich nicht mehr in den Keller.

Einsam in meiner Stube

traf mich die Bombe

und riss mich zu anderen Toten.

Robert Mielatz

1907-1944

 

Der Kommandant hat eine Lampe im Zimmer.

Sie steht auf dem eichenen Schreibtisch.

 

Der Lampenschirm ist gelb wie Pergament,

mit hellen Streifen schwach gezeichnet.

 

Als die Haut noch mir gehörte, war sie schon gelb,

und jene Streifen waren rötlich blau.

 

Der Kommandant hat eine Peitsche in den Händen

und viele Hände in der Hand.

 

Schneidet Riemen aus meiner Haut

und bindet den Peitschern die Hände!

Joachim Sunkert

1925-1944

 

Ich liebte die Blumen -

 

und hatte gesehen,

wie auf dem Leinen über dem Herzen

der russischen Mädchen

tief rote Wunden aufbrachen:

zierlich wie Nelkenknospen,

wachsend zu loderndem Klatschmohn

und endlich so satt und so groß

wie welkende Pfingstrosen ...

und habe geweint -

 

und hab mich nach Stunden

über dem Grab der gemordeten Mädchen

erschossen.

 

O ihr!

Ich liebte die Blumen!

Helga Sommer

1916-1944

 

Die Flugzeuge

spiegelten silbern im Scheinwerferlicht

wie fliegende Fische.

 

Die aufgezwungene Frucht ihrer Leiber

stießen sie

schwebend in drohendem Dröhnen,

auf bebende Städte.

 

In jedem Flugzeug

hockten befehlend und lenkend

Menschen.

 

Von mir

blieb nichts.

Helmut Kahler

1927-1944

 

Schon mit fünf Jahren war ich General,

und auf meinen Befehl fielen Gruppen von bleiernen Menschen ganz einfach um, waren tot,

und ich freute mich drüber.

 

Später dann freute ich mich auf die Schlacht ...

 

Nun bitte ich euch:

meißelt mir in den Stein:

„Er war noch nicht achtzehn, als es ihn traf,

das Blei, mit dem er einst spielte."

Peter Schimmrich

1938-1944

 

Ich hatte von Vati geträumt:

Er war gekommen und brauchte nie wieder fort.

 

Ich hatte von meinem Vati geträumt:

Er setzte mich auf seine Schultern,

stieg auf die hohen Häuser mit mir

und nahm aus den großen Sirenen

die heulenden Stimmen.

 

Und auf der Straße die Leute winkten

und freuten sich alle.

Nur so ein dicker, schrecklicher Mann

drohte uns mit den mächtigen Fäusten

und brüllte.

 

Dann kam ein furchtbarer Wind, der packte mich an,

riss mich von Vatis Schultern -

ich fiel und ich schrie ...

war wach geworden von der Sirene.

 

Brüderchen in seinem Körbchen

rieb sich die Augen und weinte.

Schwesterchen plapperte, während die Mutti es anzog.

Ich sah noch immer den Traum

und fand meine Strümpfe nicht.

 

Dann trug Mutti die beiden zum Keller hinunter.

Sie rief mir noch von der Treppe zu:

„Komm schnell nach!"

 

Aber ich war so schläfrig,

träumte mich wieder zu Vati,

kletterte ihm auf die Schultern

und auf die Dächer der Häuser

und nahm den Sirenen die heulenden Stimmen fort.

 

Und ich erlebte den Traum nun noch einmal:

 

Auf der Straße die Leute winkten voll Freude,

der dicke, schreckliche Mann drohte und brüllte,

und der furchtbare Wind packte mich an,

riss mich von Vatis Schultern -

ich stürzte und schrie ...

 

und wachte nie wieder auf.

Vera Heinicke

1893-1945

 

Aus dem Hause gejagt

von der Furcht vor den Gräueln,

die man vom Feinde erzählte,

hineingeworfen

in das Spinnengewebe der Straßen und Wege,

irrte ich ziellos.

Jeder der Wege fand einen anderen Weg.

Jede der Straßen mündete in eine andere Straße.

Und alle Häuser hatten verschlossene Türen.

 

Verbannt in das Netz der Straßen und Wege,

im Nacken Verzweiflung und Furcht,

sog mir die riesige Kreuzspinne Krieg

alle Kraft aus dem Körper.

 

Neben mir regten die Sterbenden

noch ihre Glieder.

Neben mir lagen Bezwungene

reglos wie ich.

 

Und über allem hockte die riesige Spinne,

noch immer am Leben

durch unsere Furcht.

Helene Falnten

1866-1945

 

Unzählige Male zog mir mein lieber Sohn

über dem Häuschen zum Gruß eine Schleife.

 

Dann blieb er sehr lange fort,

und andere Flugzeuge dröhnten vorüber.

 

Im letzten Monat des Krieges zog wieder

ein Flugzeug die Schleife über dem Häuschen.

Ich lief hinaus auf das Feld, dem Sohne zu winken.

 

Er flog auf mich zu ...

dann spie der Propeller feurige Zeilen,

die mich erreichten ...

... Gruß von dem Sohn

einer anderen Mutter ...

 

Vergebt meinem Sohne die Schuld,

wie ich sie dem andern vergebe.

Rudolf Balzer

1902-1945

 

Ein Schotterstein tötete mich und traf mich doch nur

ganz leicht an der Stirn.

 

Es gab eine kleine, unbedeutende Schramme,

wie wir sie oft als Kinder

uns beigebracht hatten;

damals genügte ein Taschentuch,

die Wunde zu kühlen,

dann spielte ich weiter;

aber als Mann weinte ich ...

 

Als es geschah, war der Krieg schon vorbei.

Im Gefangenentransport

rollten wir langsam durch Brüssel.

Der Stein, der mich traf, war Tropfen im Regen,

der sich vom Nachbargleis her aus Arbeiterfäusten

schwer über uns stürzte.

 

Schwarz und schwer war der Stein;

doch er schrammte die Stirn nur und fiel von mir ab.

Schwarz und schwer war der Hass;

er stürzte sich auf mich

und blieb auf mir liegen.

 

Schwarz und schwer wie der Stein war der Hass,

wie Halden zerborstener Häuser,

wie Hügel über den Toten,

so schwarz und schwer wie die Schuld war der Hass

und blieb auf mir liegen

und drückte mich tot.

Herbert Redsburg

1892-1945

 

Immer im Dunkel der Zelle,

sah ich hoch oben im winzigen Viereck

die Tage und Nächte

hinter den Gittern vorüberwandern.

 

Durch die Schwärze der Mauern hindurch

erblickte ich draußen Genossen

auf malmenden Panzern,

blutrote Fahnen,

leuchtend im Fahrtwind.

 

Durch all die ummauerten Jahre der Haft

sah ich offene Weiten hinter den Mauern,

hörte ich Malmen der Panzer hinter den Mauern

 

Doch dann: Das strahlende Licht

des ersten Tages in Freiheit,

und Hand und Mund der Genossen

und meine Fahne,

heftig sich weitend im Sturme des März ...

 

Dies Glück:

zu mächtige Woge für den

so lange gepeinigten Körper -

trug mich hinüber in meine Ewigkeit.

Karin Blomeier

1941-1945

 

Wenn ich nur wüsste,

was sie so böse gemacht hat.

 

Alle hatten mich lieb.

Die vielen Onkel und Tanten streichelten mich,

spielten mit mir und hoben mich zu sich empor.

Doch als die Eisenbahn kam,

hatten mich alle vergessen.

Sie nahmen die großen Kisten und Säcke,

stießen und schoben und drängten mich

fort von der Mutti,

hörten nicht auf mein Weinen,

nicht auf mein Schreien.

 

Weil ich so klein war, hatten mich alle gesehen;

weil ich so klein war, sah mich nun keiner mehr.

 

Oh, und sie drückten mich, ohne mir gut zu sein.

Oh, und sie stießen mich,

hoben mich nicht zu sich auf,

taten mir weh,

drängten mich, stießen mich,

bis ich hinunterfiel ...

 

Oh, und das große Rad wollte und wollte nicht,

kreischte und kreischte, weil es mir gut war

und weil es mich trotzdem totfahren musste.

 

Wenn ich nur wüsste,

was sie so böse gemacht hat,

die vorher so lieb zu mir waren.

Waldemar Pleschke

1896-1946

 

Ich hatte immer fremdes Land gepflügt,

war niemals

hinter eignem Pflug geschritten

und hatte nicht gehofft ...

 

Doch in den ersten Tagen des April,

ein Jahr nach jenen Jahren unserer Schande,

da schlug ich mit der Peitsche fröhlich in die Luft,

da sang ich, fünfzigjährig, hinterm Pflug:

Wie leicht führt sich ein Pflug,

den dir kein Herr geliehen!

Wie froh macht dich das Land,

das keinem Herrn gehört! ...

 

Da riss die Mine mir das Lied vom Munde.

Volker Erfurth

1926-1946

 

Davongekommen war ich

mit einem Bein und zwei Krücken

und mit zwei Armen und Händen,

die ich gebrauchte, mein Bein zu ersetzen.

 

Hineingeworfen war ich

in ein Meer voller Not,

unter Menschen, die schlugen und stießen,

sich vorm Ertrinken zu retten.

 

Meine Arme und Hände

waren an Krücken gekettet;

auf einem Bein stehend,

wehrte ich mich mit den Krücken.

 

Der Boden, auf dem ich stand,

im Jahr fünfundvierzig,

war schlüpfrig von Fäulnis.

Ich glitt aus

und kam unter die Räder, wie man so sagt.

 

Eine Prothese

hätte mich sicher gerettet.

Gerettet hätte mich auch

ein festerer Grund.

Wolfgang Broda

1898-1944

 

Stein um Stein

legte ich dir auf den schlüpfrigen Weg.

Pfähle rammte ich dir in den Boden,

ragend über die Sümpfe der Leiden,

durch die sie dich trieben.

 

Die Steine nahm ich,

die sie nach dir geworfen,

weil ich dich liebte;

die Pfähle nahm ich,

mit denen sie unsere Liebe

zu trennen versuchten.

 

An der Grenze des Leidens

baute ich eine Wand aus Pfählen und Steinen,

die ihnen dein Fliehen verbarg.

 

Sie zerbrachen die Mauer und mich.

Doch du, in der Heimat der Menschlichen,

grüß mir das Morgen, Geliebte.

Myriam Broda

1902-1946

 

Niemals vergess ich dein Zimmer,

die Drohbriefe nicht und nicht

dein Bemühen, sie mir zu verbergen.

 

Und deinen dröhnenden Herzschlag

vergesse ich nicht,

wenn du aus Träumen aufschrecktest,

gejagt von der Furcht, doch schnell

wieder lächelnd, mich nicht zu erschrecken.

 

Ewig bleibt mir lebendig

dein Wissen um Menschlichkeit,

die ich erfüllt fand

in jenem Sechstel der Erde,

das sich mir auftat durch dich.

 

Doch die Gemeinschaft

die fürsorglich freundliche,

machte zu schmerzlich bewusst mir

dein Fehlen, du Lieber.

Werner Lengenfelde

1904-1947

 

Wenn ich euch sage, dass ich den November

vor allen anderen Monaten liebte,

dass mir Chopin jeden Schmerz

in bleischweres Trauern verwandelte,

dass jenes „Lied an den Mond" aus „Rusalka"

in seiner bitteren Schönheit mich lähmte,

wenn ich euch endlich gestehe,

dass mich der Walzer aus „Illusion" wieder und wieder

verführte, mein Ich mit Wehmut zu löschen,

 

dann wisst ihr von mir,

dass ich immer ein Schatten

und niemals ich selbst war.

Maria Lengenfelde

1906-1953

 

Ich war so müd wie ein Acker,

den man im Frühling besät

ohne Freude,

von dem man im Sommer geerntet

ohne ein Fest,

den man im Herbst oft vergessen, und der

dennoch getragen hatte,

Jahre um Jahre alles getragen,

wessen der Eine bedurfte.

 

Dann war der tot,

und plötzlich war ich so müde, -

wie sollt ich noch leben?

 

Sagt mir,

wie macht es der Acker,

dass für so viele er trägt?

Harald Weckenström

1899-1951

 

Fast fünfzig war ich,

da schenkte ein Lehrer dem Sohne,

der grade erst fünfzehn geworden,

das Buch:

„Wie der Stahl gehärtet wurde".

 

Bei jenen Worten vom Leben:

„ ... und nutzen muss man es so,

dass einen sinnlos verbrachte Stunden

nicht reuen ..."

liefen die Zeilen

vor meinem Blick ineinander.

 

Warum haben unsere Lehrer

uns nicht solche Bücher geschenkt?

Bernt Hagen

1919-1952

 

Ich hatte die Hände nicht mehr,

als ich vom Kriege nach Haus kam.

 

So nahmen die meisten

den Arm zur Begrüßung,

einige fassten

das Holz und bedauerten mich.

Doch ich war froh:

 

Ich hatte die Hände nicht mehr,

die ich zum Gruße verweigern hätt müssen,

als ich nach Haus kam.

 

Steht nicht geschrieben:

„Die Hand soll verlieren,

wer seinen Bruder erschlug?"

Fred Dörge

1927-1949

Als mich

- fiebernd aufgelesen im

Monat November am Rheine bei Krefeld,

eingeliefert in das städtische Hospital,

umgebettet vom Krankensaal Nummer sechs

in das Zimmer der Aufgegebenen -

 

als mich dort rasch das Fieber,

die Lungenentzündung, verzehrte,

hörten die Schwestern an meinem Lager

immer dasselbe:

 

den Namen der Mutter und Monikas Namen

und meine Bitte: „Ihr dürft noch nicht kommen!"

und die Begründung: „Ich finde erst Arbeit!"

und die Verheißung: „Bald werd ich euch holen!" –

 

und sie erfuhren so meine Geschichte,

die Geschichte der Krankheit des Sterbenden,

den die Erwartung vom Leben im Überfluss

fortgelockt hatte

von seinem Platz in der Stadt an der Spree

und von Mutter und Braut

hin bis zum Rhein, bis nach Krefeld

und in jenes Zimmer der Aufgegebenen,

letzte Ruhestatt über der Erde.

Luise Wesenberg

1892-1949

 

Warten verzehrte mein Leben.

 

Mit dreiundzwanzig bekam ich die Nachricht,

dass mein Mann an der Marne vermisst sei.

Fünf Jahre wartete ich auf den Mann,

den ich fünf Wochen besessen;

ich hoffte, dass ihn der Frieden mir brächte.

 

Als mir die Hoffnung erlosch,

spielte mein Sohn auf hölzernem Pferd

mit Papierhelm und hölzernem Schwert.

Ich zeigte ihm oft das Bild seines Vaters.

 

Fünfundvierzig Jahre zählte mein Leben,

als mir von meinem Sohne nur noch ein Bild blieb.

Später erhielt ich die Karte, die ich schon kannte.

 

Wieder nun wartete ich und lebte nur für die Hoffnung,

dass meinen Sohn der Frieden mir brächte.

 

Ich wartete, wartete, Jahre um Jahre ...

und starb endlich, als ich begriff,

dass keine Hoffnung mehr war meinem Warten.

 

O mordendes Leben:

In Nächten Vergangenes wärmend,

an Tagen Furcht vor der Klarheit,

und immer Frieren vom Einssein mit Toten!

Fritz Otten

1925-1950

 

Ich hatte ihn tot geglaubt.

Dann saß er mir in einer Augsburger Bar gegenüber.

Durch ihn hindurch

sah ich die knienden Frauen und Männer am Graben.

Ich stand hinter einem von ihnen,

in zitternder Hand den Revolver,

und schwankte, eh ich noch abgedrückt hatte.

 

Damals stand er bei mir

und stieß mich verächtlich zur Seite,

befahl mir, ihm zuzusehen ...

 

Nun saß er mir in einer Augsburger Bar gegenüber,

und ich sah ihn wieder bei Charkow,

wie er die Reihen der Knienden abschritt:

Schuss in den Nacken, Tritt in den Rücken -

bis nur noch einer am Grabenrand kniete.

Da rief er mich zu sich, damals, bei Charkow.

 

Es war eine Frau.

Sie fiel durch Genickschuss.

Durch mich ...!

 

Nun, in der Augsburger Bar, mir gegenüber,

stieß er mit anderen an und sagte:

„Auf das, was wir lieben!", und lachte wie damals.

 

Da musst ich's tun:

 

Ich schlug die Faust durch roten Wein in sein Gesicht

und schlug noch einmal zu

und schrie und schlug,

bis man mich überwältigte.

 

Er erholte sich bald.

Es blieben nur Narben vom Glas.

 

Hätte ich doch statt der Faust

den schweren Aschenbecher genommen!

Siegismund Blei

1874-1949

 

Heraklit nannte harmonisch:

Die Spannung, die Ruhe

im Gegenstreben von Bogen und Sehne.

 

Wisst ihr, was Marga mir war?

Eine Sehne, die nachgab,

die immer ganz dicht sich mir anschmiegte.

 

O harmonische Ehe!

Fett wurde ich

und zufrieden -

Nutzlose Null in Pantoffeln und Plüsch.

Marga Blei

1882-1940

 

Schön war mein Leben

durch die Gewissheit,

dass ich ihm lieb war und wert.

 

Er hatte Launen,

aber ich liebte ihn und

überwand mich zu zärtlicher Bitte,

wenn er gebeugt war

und aufrecht sein wollte.

 

Wenn ich ihn spürte,

mit mir vereint und zufrieden,

wusst ich mein Leben voll Sinn.

Julius Bregeland

1888-1950

 

Mein einziger Sohn

studierte marxistische Philosophie.

So blieb die Firma Julius Bregeland,

beinahe zweihundert Jahre schon alt

und frei von jeglichem Makel,

ohne den Erben.

 

Da schien mir mein Leben sinnlos.

Ich jagte den Jungen davon.

 

Im Sterben begriff ich,

dass nicht durch seinen Entschluss

mein Leben sinnlos geworden,

sondern durch meine Wut,

die mir den Jungen vertrieb.

Hans Walden

1924-1953

 

Meinen Vater erschlugen sie,

weil er die Hakenkreuzfahne nicht grüßte.

 

So lernte ich rechtzeitig hassen.

 

Fünf Jahre später, in einem KZ,

lehrten Genossen

die Lehre vom Ursprung der Unmenschlichkeit.

 

So lernte ich rechtzeitig lieben.

 

Am 17. Juni erschlugen sie mich,

weil ich die rote Fahne nicht hergab.

 

Lernt und lehrt

die Lehre vom Ursprung der Unmenschlichkeit!

Kurt Sinnwer

1909-1950

 

Unerklärlich blieb euch das Rätsel,

dass ich mit gestorbenem Körper noch tagelang lebte.

Dabei ist es so leicht zu erklären:

 

Vierzig Jahre lang hab ich gelebt.

Davon war ich nur zwölf Jahre Kind;

acht Jahre suchte ich nach dem Weg in das Leben.

 

Ich fand ihn versperrt von Verbrechern,

kämpfte drei Jahre lang gegen sie

und wurde durch lange zwölf Jahre von ihnen gequält.

 

Als mich Genossen befreiten,

war ich so eng mit dem Tode verbunden,

dass sich die Ärzte zwei Jahre lang mühten,

das Bündnis zu lösen.

 

Mit siebenunddreißig war ich befreit von der Klinik,

und der Weg in das Leben war nicht mehr versperrt.

 

Aber ich musste erst wieder laufen lernen,

lernen, die Karte zu lesen, den Kompass zu brauchen

und Menschen zu rufen, für die ich den Weg suchte.

 

Ich lernte drei Jahre.

 

Dann ließ mich mein zwölf Jahre

geschundener Körper im Stich.

Ich starb, als ich grade zum

Anfang des Lebens gelangt war.

 

Ich kämpfte noch tagelang gegen den Tod.

Zu sterben ist hart, wenn das Leben beginnt.

Song-Texte (1957-1971)

Freundliche Empfehlungen für Spießer

1. Für naive Spießer

Pflegt treu die alten Bräuche und die Etiketten

und achtet peinlich auf die Rangverschiedenheiten,

befolgt Herrn Knigges Regeln noch in Ehebetten,

beweint und konserviert die guten alten Zeiten

und lasst auf keinen Fall die fortgeschrittne Jugend

an eure plüschgeweihte stolze Tugend!

 

Hängt weiter bunte Blümchenbildchen an die Wände

und legt adrett gestickte Deckchen auf die Tischchen,

versargt im Nussbaumschrank die Goethe-Goldschnitt-Bände,

lebt dem Kanarienvogel und den goldnen Fischchen

und lasst auf keinen Fall die bösen roten Buben

in eure plüschgeweihten guten Stuben!

 

Schwört auf den Rommékreis und eure Stammtischrunde,

ehrt nur die Tradition verwandtschaftlicher Feste,

verabscheut Politik aus tiefstem Herzensgründe,

seid stolz auf euern Bauch und eure weiße Weste

und lasst auf keinen Fall von bösen Aufgeklärten

euch eure plüschgeweihte Welt entwerten!

 

Lass euch auch weiterhin von euren trauten Frauen

das Pfeifchen stopfen und die Filzpantoffeln wärmen,

fahrt fort, dem lieben Gott und seinem Stab zu trauen,

erforscht das Kommende aus Kaffeesatz und Sternen

und lasst auf keinen Fall die bösen Funktionäre

in eure plüschgeweihte Lebenssphähre!

2. Für intellektuelle Spießer

Bewegt euch immer in den exklusivsten Räumen,

umgebt euch jederzeit mit den modernsten Dingen,

zwingt euch, im tiefsten Traume noch abstrakt zu träumen,

verkneift euch unbedingt, ein Wanderlied zu singen!

Lasst euch auf keinen Fall von frechen Jugendchören

in eurem geistgeweihten Schweben stören!

 

Verschließt dem Taggeschehen eure Villentore,

bleibt in der Einsamkeit der Intellektuellen,

was andern Lenin ist, das bleib für euch Tagore,

was auf den Füßen steht, sucht auf den Kopf zu stellen,

und lasst auf keinen Fall durch Arbeiter und Bauern

euch euer geistgeweihtes Sein versauern.

 

Pflegt euren Künstlerklub und eure Musenrunde,

verabscheut Tradition und kollektive Bande,

macht Bartischpolitik und träumt vom Menschheitsbunde,

seid stolz auf euern Geist, belächelt die vom Lande

und lasst auf keinen Fall von dummen Aufgeklärten

euch eure geistgeweihte Welt entwerten!

 

Seid für die freie Welt und für die freie Liebe,

bekämpft die Ehe und die bürgerlichen Sitten,

erklärt zum Grundproblem die sexuellen Triebe,

bemüht euch, Klassengegensätze zu verkitten,

und lasst auf keinen Fall die bösen Funktionäre

in eure geistgeweihte Lebenssphäre!

Klasseneinmaleins

Das merken Kinder meist verhältnismäßig schnell:

Ob Hunde bissig sind, erkennt man nicht am Fell.

Ob Nüsse wertlos sind, verrät die Schale nicht.

Ob Freund, ob Feind sich zeigt, sieht keiner am Gesicht.

Doch bringt ein Irrtum hier sehr oft den Tod.

Nur wer da gründlich prüft, kommt nicht in Not.

 

Das kann kein Mensch bestreiten,

weil das nun mal so ist;

drum kümmre dich beizeiten,

wenn du im Zweifel bist!

 

Das hat sogar ein Kleinkind meist sehr bald erkannt:

Ein Raubtier streicheln kostet wenigstens die Hand.

Bei einem Steppenwolf verfängt kein Schmeichelton;

die Bestie will dich fressen, denn sie lebt davon.

Das Vieh bekehrt kein Gott, kein Missionar,

wer waffenlos im Dschungel war, der war.

 

Das kann kein Mensch bestreiten,

weil das nun mal so ist;

drum kümmre dich beizeiten,

wenn du noch wehrlos bist!

 

Das ist seit Menschengedenken so für jedermann:

Wer sich bei Frost entblößt, ist mächtig übel dran.

Und wer zum Feinde ohne Waffen geht,

der braucht 'nen Engel, dass er 's übersteht.

Und selbst die Engel scheinen nicht immun,

wenn Teufel ihnen lieb und zärtlich tun.

 

Das kann kein Mensch bestreiten,

weil das nun mal so ist;

drum lerne es beizeiten,

und - dass du's nie vergisst!

Die Sache mit der Wirkung

Es sind uns manche Leute gar nicht grün,

weil alles, was uns dient, ihr Schaden ist.

Hingegen unsre Schwäche macht die Leute kühn,

ein falsches Wort von uns lässt ihren Weizen blühn.

Sie düngen ihren Grund mit unserm Mist.

 

Drum muss man sich die Leute gründlich anschaun.

Drum frage man sich immer, wem was nützt.

Drum darf man nicht in jede Kerbe reinhaun,

sonst fällt man mit dem Ast, auf dem man sitzt.

 

So manche Leute können reizend sein:

sie hätscheln dich und sind stets für dich da.

Sie sind sehr höflich, freundlich, geistreich und sehr fein

und sagen, du seist unfrei, und wolln dich befrein,

doch sagst du ja, stehst du mit Ohne da.

 

Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.

Drum frag bei jedem Ratschlag, wem er nützt!

Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,

sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.

 

Die Leute schimpfen auf dein neues Haus.

Dein Haus hat Mängel, und du stimmst mit ein.

Doch so ermutigt, packen sie den Sprengstoff aus,

und während du noch jammerst, sprengen sie dein Haus,

um dich von seinen Mängeln zu befrein.

 

Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.

Drum frag bei der Kritik stets, wem sie nützt.

Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,

sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.

 

Die Leute rufen nach dem „freien Wort".

Das scheint in deinem Sinn, und du stimmst ein.

Doch wenn ihr Wort dann frei ist, hetzen sie zum Mord.

Dann poche du nur auf dein vogelfreies Wort:

sie schlagen dir den klugen Schädel ein.

 

Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.

Drum frag bei jedem Worte, wem es nützt.

Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,

sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.

Die Sache mit der Menschlichkeit

Man soll als Mensch auch schwache Menschen lieben,

von allen Schwächen ist ja niemand frei.

Und schon Herr Goethe hat so schön geschrieben,

dass jeder Mensch recht gut und hilfreich sei.

 

Doch wenn die Bösen roh sind

und die Güte falsch verstehn,

da muss die Liebe flöten gehn,

dann kommt's drauf an, wer - wen!

 

Man soll als Mensch die Feigen nicht verachten.

So mancher Feige zeigte lieber Mut.

Man muss die Sünder rücksichtsvoll betrachten,

die meisten Sünder sind sich selbst nicht gut.

 

Doch wenn die Feigen hetzen

und die Sünder Recht verdrehn,

da muss die Rücksicht flöten gehn,

dann kommt's drauf an, wer - wen!

 

Die Seelenkranken sind nicht zu beneiden,

drum muss man immer nett zu ihnen sein.

Und weil die Zweifler durch das Zweifeln leiden,

soll man die Zweifel ihnen auch verzeihn.

 

Doch wenn die Kranken prahlen

und die Zweifler Zwietracht sän,

da muss die Duldung flöten gehn,

dann kommt's drauf an, wer - wen!

 

Man soll als Mensch auch dumme Menschen lieben,

ach, mancher Dumme wäre lieber klug.

Man muss die Trägen liebreich vorwärts schieben,

auch manchem Trägen geht's nicht schnell genug.

 

Doch wenn die Dummen bocken

und die Trägen störrisch stehn,

da muss die Liebe flöten gehn,

dann kommt's drauf an, wer - wen!

 

Der Mensch muss menschlich sein und menschlich bleiben.

Wer ungern menschlich ist, ist auch nicht gut.

Nur darf man Menschlichkeit nicht übertreiben.

Leicht wird unmenschlich, was zu menschlich tut.

 

Denn wenn Verbrecher drohen

und die Mörder auferstehn,

dann ist die Schonung - Massenmord!

Dann kommt's drauf an, wer - wen!

An die Unpolitischen

Die meisten Menschen sind im Wesen gut.

Sie haben Mitleid mit der Not der Armen.

Sie sind bereit, sich ihrer zu erbarmen,

und tun dem Bettler etwas in den Hut.

 

Und trotzdem stirbt das Elend nicht durch sie.

An ihrer Güte mästen sich die Fresser,

und durch ihr Gutsein wird die Welt nicht besser;

die Ärmsten leben weiter wie das Vieh.

 

An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,

dass es nicht reicht, wenn man stets wohlgetan,

und dass nicht zählt, wenn man euch gütig nennt;

gezählt wird nur die Tat, die jedermann

ein Leben schafft, in dem er gut sein kann.

 

Die meisten Menschen scheun die Arbeit nicht.

Sie schuften unentwegt wie Arbeitsbienen.

Sie lernen die Maschinen zu bedienen,

erfüllen gut und gründlich ihre Pflicht.

 

Und trotzdem kommt die Menschheit schwer vom Fleck.

Man nutzt den Fleiß, das Elend zu vermehren,

Erfindergeist, um Welten zu verheeren,

denn jedes Ding dient dem und jenem Zweck!

 

An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,

dass es nicht reicht, wenn man vor Eifer schwitzt,

und dass nicht zählt, wenn man euch fleißig nennt;

gezählt wird nur die Tat, die Menschen nützt,

die Herrscher schwächt und Volkes Herrschaft stützt.

 

Die meisten Menschen meiden die Gewalt,

sie leben friedlich, wünschen keinem Schlechtes,

erziehen Kinder, lehren sie was Rechtes

und werden so in Ehren grau und alt.

 

Und trotzdem droht der ganzen Menschheit Krieg.

Atomraketen liegen aufgeschichtet,

die Abschussbasen sind lang eingerichtet,

und Millionärsminister wollen Krieg.

 

An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,

dass es nicht reicht, wenn man stets Frieden hält,

und dass nicht zählt, wenn man euch friedlich nennt;

gezählt wird nur die Tat, die für die Welt

den Frieden mit erschafft und ihn erhält.

Lied vom Besserwissen

Wer die Welt verändert,

muss durch Taten lernen,

denn der Sozialismus

fällt nicht von den Sternen.

 

Was noch nicht erprobt ist,

macht sich mächtig schwer:

Immer laufen Fehler

hinter einem her.

 

Nachher

wird man's immer besser wissen.

Doch das Nachher,

es kommt nicht von allein.

Doch weil wir's

stets besser wissen müssen,

muss die Arbeit

heut bewältigt sein.

 

Jene, die am Tage

ihre Zeit verpennen,

mühen sich am Abend,

Mängel zu erkennen.

 

Wenn sie lamentieren,

weil sie Fehler sehn,

habt die bessren Nerven:

Lasst sie einfach stehn!

 

Nachher

wird man manches besser wissen.

Doch das Nachher,

es kommt nicht von allein.

Doch weil wir's

stets besser wissen müssen,

muss die Arbeit

heut bewältigt sein.

 

Haben wir die Mängel

endlich so behoben,

dass selbst all die Nörgler

unsre Sache loben;

 

ist der Sozialismus

endlich aufgebaut -

dann seid nicht zufrieden,

dann sagt selber laut:

 

Nachher

wird man manches besser wissen.

Doch das Nachher,

es kommt nicht von allein.

Doch weil wir's

stets besser wissen müssen,

dürfen wir

niemals zufrieden sein.

Song von den Wandlungen

Mancher ist beim Aufbau bester Mann:

Jeden Sonntag fährt er Sonderschichten,

allen Helfern geht er kühn voran,

selbst das Kreisblatt kann davon berichten;

doch dann zieht er in die neue Wohnung,

und von diesem Tag an braucht er Schonung.

 

Ach, mancher brave Mann in unserm Staat

war zum Sozialismus auf dem Marsch.

Jetzt sitzt er zwischen Wohnung, Wartburg, Fernsehapparat

schön schaumgepolstert auf dem breiten Stuhl.

 

Mancher hat in unserm Staat studiert

und die Marxsche Lehre gut gefunden,

hat an Feiertagen demonstriert,

schien dem Sozialismus sehr verbunden.

doch dann konnt er sich 'nen Wartburg kaufen

und lässt nun den Sozialismus laufen.

 

Ach, mancher brave Mann in unserm Staat

war zum Sozialismus auf dem Marsch.

Jetzt sitzt er zwischen Wohnung, Wartburg, Fernsehapparat

schön schaumgepolstert auf dem breiten Stuhl.

 

Mancher war schon beinah Sozialist.

In Gemeinschaft brach er alle Normen,

war vielleicht gar mehrfach Aktivist,

sehr bemüht, sein Leben schön zu formen,

dann wurd's ihm zu wohl im trauten Heim,

und er ließ den Fortschritt Fortschritt sein.

 

Drum auf, Genossen, schreitet kühn zur Tat!

Blast den neuen Spießern frisch den Marsch!

Zieht ihnen zwischen Wohnung, Wartburg, Fernsehapparat

das weiche Polster von dem breiten Stuhl!

Standpunkte

Wer eingehüllt in Vorurteile

weit ab von uns sein Leben führt,

mit distanzierter Langeweile

Erfolg und Fehler registriert,

 

dem scheint das Heiße kühl bis lau,

und Enthusiasmus wirkt befremdlich,

präziser Plan scheint ungenau.

Verständliches ist unverständlich.

 

Das macht: Es sieht vom Mond aus

die Erde ungewohnt aus.

 

Wer unerreichbar und erhaben

sich über andere erhebt

und arrogant und aufgeblasen

hoch über unserm Leben schwebt.

 

sieht alle Menschen hässlich klein

durch schmutzig-grauen Alltag waten,

sieht ungezählte Plackerein

statt ungezählter Heldentaten.

 

Das macht: Es sieht vom Berg aus

ein Riese wie ein Zwerg aus.

 

Wer leidend durch die schwarze Brille

in unsre lichten Tage schaut,

wem durch die Schwaden der Destille

der sonnenklare Morgen graut,

 

dem scheint die Sonne ohne Kraft,

der Tag voll kalter Feindlichkeiten,

dem bleibt die Zukunft nebelhaft

in trüben, dicht verhangnen Weiten.

 

Das macht: Ganz ohne Liebe

ist's Leben mächtig trübe!

Die Sache mit dem Standpunktverlust

Schwebt wer in höheren Regionen,

treibt er wirr im Wind,

weil er in den abstrakten Zonen

keinen Standpunkt find’t.

Das kommt, weil haltlos ist, wen gar nichts hält.

Und wen nichts hält, der ist leicht umzuwerfen.

Der fällt dann sich und andren auf die Nerven,

wenn er aus irgendwelchen Wolken fällt.

(Ganz abgesehn vom Schwanken in den Winden

der Ideo-Thermik, die ihn haltlos finden.)

 

Schwebt wer in höheren Regionen

übers Leben hin,

verwirren Halluzinationen

bald schon seinen Sinn.

Denn wer genial der Wirklichkeit entschwebt,

sieht von den Dingen nur die äußren Hüllen,

und was ihn treibt, hält er für eignen Willen.

Weht es ihn fort, sagt er sich, dass er strebt.

(So kommt’s, dass manche hohl und aufgeblasen,

mit sel’gem Lächeln ins Verderben rasen.)

 

Schwebt wer in höheren Regionen,

müh er sich geschwind,

dass er in stabilen Zonen

einen Standpunkt find’!

Dies sei als Losung hier noch angehängt,

obwohl 'ich weiß, dass exclusive Dichter

und die formal besorgten Musenrichter

so sehr direkt Gesagtes schrecklich kränkt.

(Doch wünscht’ ich mir, sie würden auch mal wagen,

was sie zu sagen haben, klar zu sagen.)

Song von den Feststellern

Da ist so manches manchmal faul

und bringt uns viel Verdruss.

Und mancher stellt dann manches fest,

was man schnell abstelln muss.

 

Der Leiter kommt, der Ingenieur,

der Meister lässt sich sehen,

und alle stehn und stellen fest -

und gehen.

 

So viele gibt's, die stellen fest;

doch wie viel stellen ab?

Ach, gebt den Feststellern den Rest!

Stellt sie zum Abstelln ab!

 

Da stehn Waggons, die sind voll Splitt,

die müsste man entladen.

Jedoch die Technik macht nicht mit.

Der Ladekran hat Schaden.

 

Kollegen stehn und stellen fest:

Das wird viel Standgeld kosten!

Die Schaufeln liegen dicht dabei -

und rosten.

 

So viele gibt's, die stellen fest;

doch wie viel stellen ab?

Drum gebt den Feststellern den Rest!

Stellt sie zum Abstelln ab!

 

Da suchen hier und dort die Leut

nach technischem Niveau.

Doch mancher bastelt still für sich,

wird weder klug noch froh.

 

Er denkt, wenn er nicht weiter weiß:

Wie leicht ging's im Vereine!

Stellt's fest und sucht sein Weltniveau -

alleine.

 

So viele gibt's, die stellen fest;

doch wie viel stellen ab?

Drum gebt den Feststellern den Rest!

Stellt sie zum Abstelln ab!

 

Da sind Genossen überall

bemüht bei Tag und Nacht,

dass endlich überwunden wird,

was uns noch Sorgen macht,

 

doch andre sitzen warm und weich

vor ihren Fernsehtruhen,

stelln fest, dass dies und das noch fehlt -

und ruhen.

 

So viele gibt's, die stellen fest;

doch wie viel stellen ab?

Ach, gebt den Feststellern den Rest!

Stellt sie zum Abstelln ab!