Impressum

Ingrid Möller

Reisefieber - Fieberreisen

 

ISBN 978-3-95655-581-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2004 im Thomas Helms Verlag, Schwerin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Bildes „Kraniche an einer Küstenlandschaft“ von Walter Leistikow.

 

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Erste zaghafte Blicke über den Tellerrand - Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit

»... und auch mir steht der Sinnn innn
die weite, weite Welt!«

 

So ließen uns die Lehrer unbekümmert auf allen Wandertagen singen, obgleich uns »die Welt« doch keineswegs offen stand. Wir sangen diesen so überzeugend einprägsamen Text aus vollem Herzensgrunde.

 

Seit frühester Kindheit war mir eingeprägt worden, dass Reisen zu den höchsten aller Glücksgefühle verhelfe. Und der Beweis folgte auf dem Fuße: jede Fahrt zu der Jagdhütte, die zwanzig Kilometer weit weg lag, war ein Ausbruch aus dem Alltäglichen, war Natur pur, war Ruhe, Freiheit, Ausgelassenheit, Idealzustand. Die Hütte lag auf einem Hügel voller Brombeer- und Ginsterbüsche mit Blick auf einen kleinen See, einsam, die umliegenden Dörfer nur mit dem Fernglas richtig erkennbar. Das Leben spielte sich in einer Art Urzustand ab. Für mein Empfinden jedenfalls. Und in meiner Erinnerung schien dort immer die Sonne. Es war eine rundherum heile Welt, auch, als längst Krieg war. Und ich höre meine Mutter sagen: »Warum bloß kann es nicht überall so friedlich sein! Hier kann man einfach nicht glauben, dass auf der gleichen Erde Menschen sich massenhaft auf Befehl gegenseitig umbringen!« Folgerichtig wurden wir bald aus dem friedlichen Refugium verbannt. Nicht das Auto wurde beschlagnahmt, sondern »nur« die Reifen, weil ja die Devise hieß: »Räder müssen rollen für den Sieg!« Also gammelte der Hanomag aufgebockt in einer gemieteten Garage vor sich hin.

Ein unerhört aufregendes Ereignis war die Reise quer durch Mecklenburg zu Verwandten in Gnoien, als ich fünf war. Und das ganz ohne Erwachsene, nur mit meiner zehn Jahre älteren Schwester und meinem sieben Jahre älteren Bruder. Es ging gemächlich voran mit der Bimmelbahn, aber doch hastig genug, um meinem Bruder eine Beule einzubringen, als er beim Bremsen den Kopf aus dem Fenster steckte. In Gnoien war auch wieder alles anders als zu Hause.

 

Es gab dort eine Oma, die ständig im Bett liegen musste und alles, was sie brauchte, in erreichbarer Nähe um sich hatte. Denn - so schärfte sie mir ein - »Nichts, was man allein kann, darf man sich von anderen machen lassen!« Das beeindruckte mich nachhaltig. Ich versuchte ihr Leiden zu lindern, indem ich Pflanzen für Tees suchte, wie ich es im Drogistenhaushalt gelernt hatte. Bald war sie zusätzlich noch mit Tüten getrockneter Kräuter umgeben. Sie wusste meine Bemühungen zwar zu schätzen, nur leider halfen sie nicht. Ich wuselte viel um sie herum, weil sie mir leid tat. Sie brachte mir bei, wie man sich die Nase richtig zu schnäuzen hat, immer nur ein Nasenloch zurzeit.

Dann gab es da einen Opa, alt, rundlich, mit wenig Haaren. Durch ihn lernte ich, wie ein richtiger Opa aussieht und dass es wohl wirklich unpassend war, den jungen Mann in unserer Drogerie so zu nennen. Ich beschloss, es nie wieder zu tun.

Eigentlich zu Besuch waren wir bei unserm Onkel, dem einzigen, den wir hatten. (Ein weiterer war als junger Dachs im Ersten Weltkrieg gefallen.) Dieser Onkel konnte umwerfend lachen und schien ständig bester Laune zu sein. Laut schmatzend küsste er uns auf die Stirn. Seine Frau war so, wie man sich Wilhelm Buschs Fromme Helene im wirklichen Leben vorstellt: dünn, fast gewichtslos, mit schwebenden Bewegungen, sanft, freundlich lächelnd, und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Auch dann nicht, wenn nach dem Toben mit den Hunden mein Kleid voller Modderpampe war.

Im Haus lebten außerdem noch drei Kinder. Unser Cousin war einige Jahre älter als ich. Er bastelte mir Pappbrillen mit Zellophanpapier und warnte mich, die zweifelhaften Sachen zu essen, die seine kleinen Schwestern auf ihrem Puppenherd zusammenrührten. Auch sollte ich nicht so albern sein, ihre Verkleidungsspiele mitzumachen. Trotzdem hielt er mich nicht völlig von ihnen fern. Einmal sah die jüngere, wie ein Hund sein großes Geschäft erledigte und rief entsetzt: »Mensch, der wischt sich ja gar nicht ab!«

Das Haus war klein und schmal, mit steiler Treppe, einem Vorgarten mit niedrigen Buchsbaumeinfassungen um Fliegende Herzen, Hortensien und der damals verbreiteten Art einer kamillenähnlichen Pflanze. Vor dem Haus standen Bank, Tisch und Gartenstühle. Dort wurden wir »junges Gemüse« zu einem Erinnerungsfoto versammelt. Besonders interessant fand ich, dass man durch den Flur in ein überdachtes Warenlager voll Olfässer und gleich dahinter in einen schmalen Garten kam mit Gemüsebeeten, Hühnern und Kaninchenställen.

Im Ort wohnten noch mehr Verwandte. Sie hatten einen Textilladen. In ihm gab es eine Falltür zum Keller. Prompt purzelte ich hinein. So plötzlich, dass zum Erschrecken keine Zeit war.

Mit viel Freiheit hatte auch diese Reise zu tun. Wir durften fast alles. Mein Bruder durfte sogar gegen das Essen opponieren, indem er die Erbsen als »zu süß« befand und einfach nicht aß. So was war mir neu. Ohne Zögern schloss ich mich seiner Oppositionshaltung an. Und kam auch damit durch. (Leider, denn ich mochte Zuckererbsen gern.)

Voll neuer Eindrücke und innerlich gereift, kehrten wir heim. Meine Mutter holte uns vom Bahnhof ab. Das Wichtigste, was ich ihr sofort mitzuteilen hatte, war Omas Spruch: »Was man allein kann, darf man sich nicht von anderen machen lassen.« Meine Mutter musterte mich gründlich von Kopf bis Fuß und sagte dann pikiert: »Ja - und ganz genauso siehst du auch aus!«

Das Experiment, die Kinder allein reisen zu lassen, wurde nicht wiederholt.

Erst als ich das würdige Alter einer Halbwüchsigen erreicht hatte, durfte ich wieder nach Gnoien. Und dort gab es viele Fahrradausflüge. Ich sehe noch meinen Onkel vorneweg fahren, einen Rucksack auf dem Rücken und aus dem Rucksack guckte ein junger Dackel. Mein Onkel handelte mit »Landbedarf«, und dazu gehörten offenbar auch Hunde. Der Boden dort war ganz anders als bei uns. Nach dem Regen war er rutschig wie Schmierseife. Als meine Schuhe einsackten, muss ich wohl sehr hilflos dreingesehen haben, denn mein Onkel brach wieder in sein unwiderstehliches Gelächter aus. »Ja, mien Deern, Lehm kennste wohl noch nicht!« Die Gegend war auch nicht so eben wie bei uns. Einmal riss mir die Fahrradkette auf der Kuppe eines Hügels. Ich kam mächtig in Fahrt und flog - unten angekommen - über die Lenkstange.

Ein weiteres Reiseziel - sechzig Kilometer entfernt - war gut per Bahn zu erreichen: die Landeshauptstadt Schwerin. Und sie bot vieles. Da gab es viel, viel Wasser, ein Märchenschloss, große Häuser, ein prächtiges Theater, ein großes Museum. Unverständlich blieb mir nur, dass die Erwachsenen jedes Mal so viel Zeit in Cafés vergeudeten.

Viel Seen gab es ebenfalls um Goldberg, wohin - etwa gleich weit entfernt - etwas umständlicher mit der Bahn zu kommen war und wo diverse Verwandte und Freunde meiner Eltern wohnten. Es gab hier ein Mädchen, das wir einfach meine Cousine nannten, doch eigentlich war es keine Blutsverwandtschaft. Wir gluckten viel zusammen und handelten uns oft den Zorn ihres Opas ein. Er konnte mächtig schimpfen, aber nicht laut, weil er einen Kehlkopfbruch hatte. Einmal hatte er allen Grund, uns übers Knie legen zu wollen, denn wir waren allein der Länge nach über den vereisten Dobbertiner See gelaufen. Die Drogerie, die an der Hauptstraße lag, hatte nach hinten zum Garten hin einen Anbau mit Lagerraum und einem Fremdenzimmer, in dem wir Kinder - für unsere Begriffe natürlich immer viel zu früh - schlafen sollten. Dabei gab es ja so viel zu bequatschen. Sobald wir die schleichenden Schritte des Opas auf den laut knarrenden Brettern näherkommen hörten, drehten wir den Schlüssel um und hörten uns mit Vergnügen sein krächzendes Donnerwetter an. (»Wartet Ihr beiden! Schließt sofort die Tür auf! Ich hab genau gehört, dass Ihr getuschelt habt! Ihr könnt Euch noch auf was gefasst machen! ...«) Wir krochen unter die Bettdecke, damit er unser ersticktes Lachen nicht hören konnte.

Näher war Ludwigslust mit der seltsamen Kirche und dem schönen Schlosspark, aber dorthin zu fahren, galt noch nicht als Reise. Dorthin fuhren wir eher zweckgebunden. Zum Beispiel zu einer Schneiderin, die sich auf Kinderkleider spezialisiert hatte. Sie war sehr liebenswürdig, aber verwachsen, bucklig und klein. Das Kleid, das sie mir zur Silberhochzeit meiner Pflegeeltern verpasste, sehe ich noch heute vor mir: dunkelblauer Samt, Hängerform, an den Schultern mit roter Seide gesmokt und mit einer Verzierung, von der ich gesagt haben soll: »Das Kleid hat oben eine sülberne Schleife und die sieht danz lot aus.« (Sie war eindeutig rot, was mir - während ich die maßlose Übertreibung aussprach, wohl selbst eingefallen war.)

In der Schule dann gab es schließlich Erdkundeunterricht, wo zu erfahren war, dass das bescheidene Fleckchen, das uns bekannt und vertraut war, noch nicht einmal einen Fliegendreck ausmachte auf einer Landkarte, die die Welt darstellte, zergliedert in einen bunten Flickenteppich unzähliger kleiner Länder innerhalb großer Erdteile, wobei immer wieder von Kriegsfronten und Feindesland die Rede war. Sehr abstrakt das alles. Anschaulicher waren da schon die Bilder in Meyers Konversationslexikon. Daraus ließ sich ersehen, welche Pflanzen in tropischen Ländern wachsen, und dass die Palmen dort höher sein können als Häuser. Kaum zu glauben angesichts der Zierpalmen in den Blumenkübeln in unserem Wohnzimmer. Auch die Kenntnis über Tiere und Menschenrassen ließ sich Meyers Farbtafeln entnehmen. Spannend war es, die zusammengeklebten Seiten mit den Pergamentbögen vorsichtig auseinanderzuziehen. Das Geräusch allein verursachte Gänsehaut. Welche Überraschungen boten sich da: ungeahnt bunte Tierarten, Schmetterlinge, Vögel, Säugetiere, Quallen, Muscheln, ebenso Nordlichter, Blütenkelche in Dschungelwäldern, Gesteinsarten, Wasserfälle, Gebirgsmassive mit Gletschern und ewigem Schnee. Da kamen Ahnungen auf, was alles wohl »die große weite Welt« zu bieten hätte.

Meine Mutter schürte diese Träume. Sie erzählte wieder und wieder von der einzigen richtigen Reise, die ihr nach dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen war, ins Gebirge, zum Vierwaldstätter See. Nie würde sie vergessen, wie sie von der Bergkuppe aus ein Gewitter unter sich gesehen hätte. Und sie gab wieder, was ihr Vater in jungen Jahren auf der Wanderschaft zur Schweiz und ins Elsass alles erlebt hatte. Auch kaufte sie mir Kinderbücher, die mehr oder weniger mit Reisen zu tun hatten (»Annette reist in die Rhön«, »Auf der Hallig«). Nur Selma Lagerlöfs »Nils Holgersons Reise mit den Wildgänsen« musste ich mir ausleihen, war nicht mehr zu beschaffen. Ach, wie herrlich musste es in Schweden sein! ...

Im Stillen fasste ich schon früh den Entschluss, später mal alles verdiente Geld fürs Reisen auszugeben. Denn - so hatte meine Mutter es selbst erlebt - Geld kann durch eine Entwertung über Nacht weg sein, die Erinnerungen allein kann einem niemand wegnehmen.

Doch eigentlich war es keine Zeit, übers Reisen zu reden. Nachts gingen die Sirenen. Das hieß: raus aus dem warmen Bett und runter in den provisorischen Luftschutzkeller. Dann hörte man das brummende Geräusch der Bomberstaffeln. Schließlich kam die Entwarnung.

Fliegen - wie schön könnte das sein! »Ja«, sagte meine Mutter, »vielleicht wirst du es ja noch erleben, dass Flugzeuge nicht zur Vernichtung da sind, sondern zur ganz privaten Beförderung von Reisenden. Die Welt kann schließlich nicht immer so verrückt bleiben!« Was für ein verführerischer Gedanke!

Dabei kam der Krieg immer näher. Nicht einmal an Schulausflüge war zu denken. Wegen der Tiefflieger, die plötzlich kamen und auf alles schossen, was sich bewegte. Manchmal konnten die Hühner im entfernten Garten erst bei Dunkelheit gefüttert werden, und schließlich hielten wir sie auf dem engen Hof am Haus.

Als der Krieg vorbei war, grassierten Seuchen wie Typhus und Diphtherie. Kein Schulunterricht über lange Zeit. Dann auf Abruf unter freiem Himmel, wo wir auf Baumstämmen saßen.

Schließlich gab es eine Fahrradtour in die Ruhner Berge und eine Bahnfahrt an den Plauer See. Bei Silbermühle übernachteten wir in einer Scheune, nachdem wir abends um ein großes Lagerfeuer herum gesessen und gesungen hatten. Für unser Empfinden war es Romantik pur. Auch Boote standen zur Verfügung, und der See hatte die ideale Badetemperatur. Allerdings sorgte ich unbeabsichtigt für Unruhe. Ich hatte mich verschätzt, was die Entfernung zum gegenüberliegenden Ufer betraf. Eben mal rüberschwimmen und zurück, konnte doch kein Problem sein. Doch das Ufer schien sich immer weiter zurückzuziehen. Mit ziemlich weichen Knien kam ich gegenüber an und musste mir mühsam einen Weg suchen durch Schlingpflanzen und Schilf. Noch mal die Strecke zurückzuschwimmen, würde ich nicht schaffen. Also gab es nur eines: am Ufer herum zurücklaufen. Auch nicht so einfach, denn es gab jede Menge Buchten, die vorher gar nicht zu sehen waren. Als ich dann völlig erschöpft zur Klasse zurückkam, war schon die Wasserschutzpolizei alarmiert worden, denn vom Lagerplatz aus war ich nicht zu sehen gewesen. Mein Glück, dass alle dichthielten und meine Eltern nichts davon erfuhren!

In der 11. Klasse schließlich reifte ein kühner Plan: wir wollten uns durch ein Kulturprogramm, das wir auf Dörfern vortrugen, so viel Geld verdienen, dass wir eine Klassenfahrt nach Thüringen bezahlen könnten zu den Stätten der deutschen Klassik, nach Eisenach und Weimar, wo Goethe und Schiller die Werke verfasst hatten, über die wir unsere Aufsätze schrieben. Die Idee zündete. An schulfreien Nachmittagen übten wir unser Programm ein. Sketche, Volkslieder, Schattenspiele zu Texten von Wilhelm Busch, Rezitationen aus Tarnows »Burrkäwern«. Ein LKW wurde aufgetrieben, der mit Sitzbänken bestückt war und uns beförderte. Die Menschen in den derzeit kulturell ausgehungerten Dörfern waren ein äußerst dankbares Publikum. Sie klatschten aus Leibeskräften und immer hieß es: Kommt wieder! Manchmal hatten sie sogar eine Torte gebacken. Eine Rarität damals!

So beglückten wir Dorf für Dorf in der Griesen Gegend, und es füllte sich ganz allmählich unsere Reisekasse bis zu dem Punkt, wo es für die Fahrt reichte. Klar, dass wir in Hochstimmung waren.

Die Reise begann frühmorgens am 4. Juni 1952 vor Sonnenaufgang. Wir drängelten uns an den Fenstern, machten uns gegenseitig auf Blumen, Burgen, Kirchtürme, Flüsse und Ortsschilder aufmerksam, liefen beim Aufenthalt in Magdeburg ein paar Kurven durch die Stadt, sangen die Industrieschlote der Leunawerke weg, verfolgten das ansteigende Gelände, begrüßten die ersten Berge, waren - wie man heute sagen würde - »voll high«. In Halle wurde der Zoo besichtigt. Dann, am Spätnachmittag, war Eisenach erreicht. Kaum das Gepäck in der Jugendherberge abgelegt, erkundeten wir grüppchenweise die Gegend. Gleich hinter der Herberge begann der Wald. Wie es da steil bergauf ging! Wir kannten keine Müdigkeit mehr und merkten das Gewicht der klobigen Schuhe nicht. Ein Zaun konnte kein Hindernis sein, auch wenn er einen Zwickel in die Trainingshose riss. Wir liefen und liefen, immer höher und tiefer in den Wald hinein. Dann drehten wir uns um und stießen einen Ruf des Entzückens aus: eine Schneise gab den Blick frei auf das tief unter uns liegende Tal und einen Himmel, der das ganze Spektrum der Farben von zartviolett bis hellblau und rosa vorführte, wie es Caspar David Friedrich gemalt hat. Immer tiefer verloren wir uns in den Wald, setzten uns auf einer kleinen Wiese ins frische Heu, um zu verpusten und rannten weiter. Merklich wurde es schummrig. Im Tal flammten hier und da Lichter auf. Der Mond leuchtete immer heller. Zeit, endlich umzukehren. Aber woher waren wir gekommen? Keiner hatte darauf geachtet. Der Zaun, an dem ich mir das Loch gerissen hatte, war einfach weg. Schließlich gingen wir auf die Lichter der Stadt zu, gerieten auch in die Straßen, irrten herum und fragten nach einer Jugendherberge. Achselzucken. Dann ein schmiedeeisernes Wirtsschild: das Lutherhaus. Hier fand sich jemand, der Bescheid wusste. Gott-sei-Dank!

Einmal gab es noch eine große Aufregung, denn der Hüter der Reisekasse hatte sie aus den Augen verloren, und weg war sie, fand sich jedoch wieder an.

Baedeker hätte seine Freude an uns gehabt. Was haben wir nicht alles in der kurzen Zeit besichtigt: die Wartburg, das Bachhaus mit Instrumentensammlung, das Lutherhaus und -denkmal, die Kirchen, das Reuterhaus, das Burschenschaftsdenkmal, die Drachenschlucht, in Erfurt den Dom und in Weimar Goethes Garten- und Wohnhaus, das Haus der Frau von Stein, das Shakespeare-Denkmal, das Schloss, das Schiller- und das Liszthaus, die Fürstengruft und das Theater. Und keineswegs murrend oder oberflächlich, nein, durchaus voller Begeisterung und bei gewissenhafter Notierung aller Einzelheiten. Jedes irgendwo angebrachte Zitat, jede Büste, jedes Bild an der Wand nebst Darstellung und Verfertiger wurden im Reisebericht vermerkt. Durch diese Erfahrung hatten wir Blut gerochen, und würden künftig immer versuchen, so viel wie möglich mit eigenen Augen kennenzulernen. Doch ganz tief im Unterbewusstsein hatte sich auch etwas anderes eingenistet, das man »Reisefieber« nennt. Und das bedeutet nicht nur Spannung auf Unvorhersehbares, es bedeutet auch Angstträume von verlorener Barschaft und ziellosem Umherirren in einer völlig unbekannten Umgebung. Doch diese negative Seite wurde verdrängt.

Alt genug, Großstadtleben kennenzulernen, nahm meine Mutter mich mit zum Kirchentag in Berlin. Wir wohnten bei Verwandten. Die meisten Veranstaltungen waren im Westteil der Stadt. Noch nie hatte ich so viel Menschen auf einem Haufen gesehen. Als im überfüllten dunklen Waldstadion nachts auf Kommando jeder ein Streichholz anzündete und Luthers Marseillaise »Ein’ feste Burg ist unser Gott« gesungen wurde, bekam ich eine Ahnung von dem, was man als Massenpsychose bezeichnet. So viele Seelen auf den gleichen Ton gestimmt, das war schon etwas Beachtliches, hatte etwas Beschwörendes, das wohl auch leicht zu missbrauchen war.

(Wenn man an die Zeit dachte, als ein ganzes Volk angeblich »den totalen Krieg« gewollt hatte.)

Weiterreichende Wünsche und Träume - das Studium

Als die Bewerbungsunterlagen fürs Studium abgegeben werden mussten, stand für mich fest: Kunstgeschichte sollte es sein. Und zwar in Berlin bei Prof. Richard Hamann. Meine Familie fiel aus allen Wolken. Verständlicherweise. Erstens war es extrem unvernünftig, einen so brotlosen Beruf haben zu wollen nach den Jahren des Darbens, wo sich alles um Essen und Trinken drehte. Zweitens auch noch in Preußen, wo doch Rostock näher lag und auch eine Universität hatte. Wenn es wenigstens Hamburg gewesen wäre, aber das ging ja nun nicht mehr! Wie kam ich nur auf solche Flausen?! Das hatte man wirklich am allerwenigsten damit bezweckt, als man meine kulturellen Interessen förderte. Durch Klavierunterricht, Lob über mein Zeichentalent, Kauf von kunstgeschichtlichen Büchern. Warum nur wollte ich ihnen das antun!

Trotz langer Diskussionen blieb ich dabei. Ich hatte Hamanns »Geschichte der Kunst« gelesen und war fasziniert über seine Fähigkeit, große zeitliche und geografische Zusammenhänge herzustellen, die Kunst als Ganzes zu sehen. Ihm schien alles gleich vertraut zu sein, egal ob Felsmalereien der Urgeschichte, Monumentalstatuen des ägyptischen oder vorderasiatischen Altertums, griechische Tempel und Idealplastiken oder römische Triumphbögenreliefs und Herrscherbildnisse, mittelalterliche spirituelle Bilder oder lebensnahe Renaissancegemälde ... Alle Facetten der Kunst wusste er treffend in ihren Besonderheiten zu erfassen, als sei es ganz selbstverständlich, als müsse jeder Betrachter es sehen und die gleichen Schlüsse ziehen. Gewiss kannte er das alles aus eigener Anschauung. Also musste er viel gereist sein, sehr viel. Und das konnte er jederzeit auch jetzt noch, denn sein fester Wohnsitz war in Marburg. Er las jeweils ein Semester dort und das zweite eben an der Berliner Humboldt-Universität. Somit ignorierte er die Teilung Deutschlands und war prominent genug, das zu dürfen.

Als die Zusage kam, dass ich zum Studium angenommen war, jubelte ich. Auf nach Berlin! Doch - dort angekommen - deprimierte mich die kaputte Stadt. Überall graue Steinhaufen. Trümmer über Trümmer. Auch wir Studenten mussten unsere Aufbaueinsätze ableisten. Da wurden die Ziegelsteine, von denen wir den Zement abklopfen mussten, von Stein zu Stein immer schwerer. Abends schmerzten die Handgelenke. Den Marx-Engels-Platz empfand ich keineswegs als gestalteten Platz, sondern als Vakuum, und mich selbst darauf klein wie eine Ameise. Wie spannend auch die reichlich angebotenen Vorlesungen waren, wie gierig ich auch all das Neue aufsog, an den Wochenenden zog es mich nach Haus. Trotz langer Bahnfahrt. Hauptsache, wieder Farbe sehen, grüne Wiesen und Wälder und heile Häuser. Doch eigentlich war das Hin- und Herfahren zu anstrengend. Auch stellte sich heraus, dass um Berlin auch Grün war. Am Wannsee, am Müggelsee, an der Dahme. Und bunt waren schließlich auch die vielen Ausstellungen, ungewohnt die modernen in den Westsektoren. Es wehten Eindrücke herüber aus anderen Erdteilen. Aus Amerika. Aus Indien. Von der Südsee. Und natürlich aus den Ländern, die als Wiege unserer Kultur gelten: Griechenland, Italien, Frankreich. Nicht nur Kunstausstellungen wurden besucht. In Dahlem gab es schließlich daneben das Völkerkundemuseum. Und den Botanischen Garten mit den tropischen Gewächshäusern, die den Duft der entfernten Welten ganz unmittelbar verströmten.

Zum Studium gehörten ganz selbstverständlich auch Exkursionen. Doch die blieben innerhalb der Grenzen der DDR. Der Klassenausflug nach Thüringen war dagegen ein harmloser Vorgeschmack gewesen. Jetzt grenzte es an Drill. Jeder hatte ein Referat vorzubereiten und vor dem Objekt zu halten. Egal, welche Kältegrade im alten Gemäuer waren. Ich erinnere mich an eine winterliche Fahrt zum Thema »Norddeutsche Backsteingotik«, die sehr dazu beitrug, mir diese eigentlich wunderschöne Architektur auf Jahre hinaus zu vermiesen. Der Seminarleiter im Feldherrnschritt vorneweg und absolut ohne Verständnis für den Wunsch nach Verschnaufpausen. Wir froren erbärmlich. (Obgleich uns das Frieren geläufig war von den kaum geheizten Vorlesungssälen.)

Erste Auslandsreise - nicht ganz legal

Über die Landesgrenzen hinauszukommen, war damals noch nicht so schwierig, aber bei dem bisschen Stipendium nicht zu ermöglichen. Nach dem Verständnis der Obrigkeit war die BRD ja schon Ausland, eigentlich sogar die Westsektoren Berlins. Aber es fiel schwer, Deutschland nicht als ein Land zu sehen, wo doch überall Verwandte wohnten. In Hamburg. In Stade. In Westfalen. Also fuhr man hin, sofern man nicht »auffällig« geworden war und der Ausweis konfisziert und die Genehmigung verweigert wurde.

So ergab es sich, dass meine erste wirkliche Auslandsreise über Westfalen nach Holland ging. Das war dann schon nach dem Studium, zusammen mit meinem Mann, eingeladen von Schwägerin und Schwager. Gespannt warteten wir auf die Grenze. Doch - oh Wunder! - der Westwagen wurde einfach durchgewinkt. Ohne jede Kontrolle. Ausgelassenheit stellte sich ein. Die Landschaft: ähnlich wie in Deutschland. Die Beschriftungen witzig, als sei Plattdeutsch hier die Nationalsprache. »Sachten rijden« stand auf einem Schild. Gut, dann ritten wir eben sachte und guckten mal nach einem Gasthof. Es war ein ganz normales Bauernhaus und wir bestellten ein ganz normales Frühstück. »Goed«, sagte der Besitzer, schwenkte sich auf sein Fahrrad und verschwand am Horizont. Verdutzt sahen wir ihm nach. War dies doch keine Schenke? Uns knurrte der Magen. Doch nach einem Viertelstündchen kam er wohlgemut zurück, haute Eier und Schinken in die Pfanne, garnierte die Teller etwas seltsam mit Gurken und stellte weiches Weißbrot dazu. Wir ließen uns nicht lange nötigen. Weiter ging es dann Richtung Iysselmeer. Flache Gegend mit Wiesen wie auf den wohlvertrauten Landschaften aus dem 17. Jahrhundert. Es war nicht wie eine Auslandsreise, es war eher wie ein Zurückkommen in vertraute Gefilde. In Ermelo fanden wir eine Privatunterkunft mit Familienanschluss. Kein Gedanke, dass die Zimmer abgeschlossen werden müssten. Auch beim Essen gehörten wir dazu. Meine Güte, was da alles auf dem Tisch stand! Ganz ohne Punktmarken und Zuteilung! Man konnte aussuchen, was man wollte und reinstopfen bis zum Platzen. Das reinste Schlaraffenland. Das also war gemeint, wenn die Alten von »Friedenszeiten« schwärmten. Schon allein das weiche weiße Brot schmeckte so verführerisch, dass man nicht wusste, wann man satt war. Und Butter stand da in großem Napf, Honig, Konfitüren, Wurst und Schinken, Schokoladenraspel - die uns ganz neu waren - und dazu Kaffee und Kakao. Der Fernseher wurde eingeschaltet: wir hatten den Eindruck, auch er sei ein Familiensender, denn es gab fast nur private Nachrichten aus dem Königshaus. Neu für uns.

In einer kleinen Stadt waren zwei Männer dabei, ein kleines Haus anzustreichen. »Ah, jetzt kamen de Dütsen!«, sagten sie und unterbrachen die Arbeit. »Woran sehen Sie das?«, fragen wir zurück und kommen ins Gespräch. Einer von ihnen war durch den Krieg nach Birkenwerder gekommen. »Was?«, fragen wir ungläubig, »Ausgerechnet Birkenwerder? Da wohnen wir auch.« Nicht zu glauben. So klein ist die Welt. Trotz allem.

Wir bummelten noch durch Harderwijk und fuhren nach Amsterdam. Ach ja, viele Gebäude kenne ich von Bildern, Stichen, Fotos, auch die Grachten, die Alleen. Das alles gibt es wirklich! Wir sind maßlos ausgelassen vor Freude. So maßlos, dass meiner Schwägerin ein Malheur passiert: plötzlich, mitten auf dem sonnenbeschienenen Straßenpflaster gegenüber dem Rijksmuseum werden ihre Fußspuren sichtbar, dunkel auf hellem Grund. Eine Sekunde lang stutzen wir. Zauberei? Doch dann brechen alle Dämme; Lachkrämpfe schütteln uns.

Wir bummeln weiter durch die Stadt. Gehen ins Rijksmuseum.

Endlich! Die Gemälde holländischer Maler des Goldenen Zeitalters! Viele kenne ich zwar aus den Museen in Schwerin, Berlin, Dresden, Leipzig, Hamburg - aber eben nicht die hiesigen Paradestücke wie Rembrandts Nachtwache. Überhaupt, was hier in dieser Stadt entstanden ist, wirkt hier auch ganz anders. Wieder stellt sich das Zuhause-Gefühl ein. Seltsamerweise mehr als im westlichen Deutschland mit seiner Wirtschaftswundermentalität.

Erster Flug - Urlaub in Nessebar

Es war die Zeit der zunehmenden »Republikflucht«. Wir erlebten sie hautnah am Stadtrand von Berlin. Wenn morgens in der Nachbarschaft die Jalousien nicht hochgezogen waren, musste man damit rechnen, dass die Bewohner auch über Nacht »gegangen« waren. Viele unserer Freunde und Bekannten waren schon weg. Und doch blieben wir naiv genug, es vorher nicht zu merken. Wenn etwa der Zahnarzt sagte : »Sie können sich gern die Birnen aus unserem Garten abpflücken, wenn Sie hier vorbeikommen!« Oder der eine Arzt bei Dunkelheit eine Kiste Pilsner bei uns ablud und ein anderer ein Kinderbett. (»Nein, machen Sie kein Hoflicht an!«)

Es wurde gemunkelt, dass eine Mauer gebaut werden sollte um die DDR herum und mitten durch Berlin. Wir hielten das für undurchführbar. Auch noch, als auffallend viel Betonpfähle an den S-Bahn-Gleisen lagen. In einer solchen Mangelgesellschaft - wie sollte das klappen? Und außerdem: Wie könnten die Alliierten das zulassen! Vorsorglich allerdings schafften wir etwa die Hälfte unseres beweglichen Hausstandes westwärts. Teils - soweit es erlaubte Güter betraf - als Geschenksendung von unseren Postämtern an unterschiedliche Adressen, teils auf recht gefährliche Weise von Westberliner Postämtern aus. Wenn ich heute bedenke, wie dicht das Spitzelnetz gewesen sein muss, wird mir bei dem Gedanken noch ganz übel. Einmal hatte ich wieder Porzellan unter den Kissen der Kinderkarre deponiert, in der unser kleiner Sohn saß, und packte in einer Telefonzelle am Bahnhof Gesundbrunnen alles in den vorbereiteten Karton. Als ich mit dem fertigen Paket herauskam, guckte ein fremder Mann unseren Sohn freundlich an und sagte: »Na, Kleiner, jetzt sitzt du ja wieder schön niedrig!« Eine andere sehr brenzliche Situation gab es, als mein Vater, B. und ich in der S-Bahn aufgehalten wurden. Es war mal wieder Kirchentag und die Kontrolleure glaubten, mein Vater wolle dorthin und wollten ihn mitnehmen. Allein konnten wir ihn denen nicht überlassen, der Haken war nur, dass B. um seinen Brustkorb ein Handtuch befestigt hatte voll eingenähter silberner Bestecke. Er nahm die Flucht nach vorn, zeigte Ausweis und Dienstausweis, trat forsch auf und sagte, der alte Herr sei unser Besuch und wolle keineswegs in den Westen und schon gar nicht zum Kirchentag. Der Kontrolleur glaubte es. Aber selten hab ich B.s Gesicht so grün gesehen.

Die Angst bei solchen Aktionen war sehr wohl berechtigt, und heute versteh ich, dass meine Mutter sagte: »Kinder, wenn ihr das vorhabt, geht und lasst alles stehen und liegen! Der ganze Kram ist es nicht wert, dass ihr euch dafür in solche Gefahr begebt!« Das sagte ausgerechnet sie, aus deren Hausstand wir die wertvollsten Sachen hatten. Aber natürlich wusste sie auch um die Brutalität des Regimes, da ja ihr Mann sechsunddreißig Monate im Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg zugebracht hatte.

Dennoch - alles stehen und liegen lassen - das brachte kaum jemand fertig.

Auch mein Cousin und seine Frau hatten ihre Habe im Kinderwagen rübergebracht und gerade noch so die Kurve gekriegt.

Anfang August 1961 wurde die Stimmung immer aufgeheizter. Man spürte, dass Gefahr in der Luft lag. Es wurde Zeit. Doch Schwägerin und Schwager waren bei B.s Eltern zu Besuch. Sie mussten zurück, bevor es zu spät war. Wir fuhren am 12. August hin. Ich blieb mit dem Kleinen bei meinen Eltern. B. ging zu seinen Eltern. Er kam und kam nicht zurück. Nachts dann, leicht angesäuselt, hatte er sich beschwichtigen lassen. Nein, wer glaubt denn so was! Eine Mauer wird es nie geben!

Frühnachrichten: die Mauer stand. Unsere Gefühle von damals sind nicht zu beschreiben. Nun waren wir denen total ausgeliefert, saßen in der Falle, konnten nicht mehr entrinnen. Da halfen auch die abenteuerlichsten Fluchtpläne nichts, denn ich war hochschwanger und hätte nichts riskiert, was Leib und Leben in Gefahr brachte.

Viel Aufregung kam in den nächsten Jahren auf uns zu. B., der neben der Apothekenleitung noch mit Wissen und Billigung des Kreisapothekers in Westberlin Medizin studiert hatte, wurde bezichtigt, an der »Abstimmung mit den Füßen« beteiligt gewesen zu sein und wurde zur Audienz beim Gesundheitsminister befohlen. Die Auseinandersetzung hatte mit einiger Verzögerung zur Folge, dass er sich quasi über Nacht entscheiden musste, ob er weiterhin die staatliche Apotheke leiten wollte oder - nach einem Bewährungsjahr - das Studium in Ostberlin fortsetzen. Eine Woche lang wurden die Geschäftsunterlagen auf Unstimmigkeiten untersucht und die Mitarbeiter einzeln befragt. Es ließ sich nichts finden, aber es kostete unsere Nerven. Vorerst sollte alles so weiterlaufen.

Reisen in sogenannte befreundete Länder hatten wir uns bis dahin nicht geleistet. Das Geld war auf die hohe Kante gelegt worden, denn es lief ja seit Jahren eine Anmeldung auf ein Auto namens »Wartburg«. Als die Anmeldung dann schließlich zuteilungsreif war, mussten wir das meiste Geld trotzdem zusammenleihen, weil das Gesparte inzwischen für eine monströse Musiktruhe draufgegangen war. Diese Truhe barg in sich Fernseher, Radio, Plattenspieler und Tonband und galt als »toll«. Doch leider funktionierte fast nie alles. Für jedes Teil war ein anderer Monteur zuständig, der meistens die Reparatur der anderen wieder demontierte. Immerhin holten wir uns, wie es damals hieß, so »die Welt ins Haus«. Nur sehr selektiert zwar, auf drei oder vier Kanälen, die zur Hälfte wiederum illegal waren (aber die Antenne auf dem Dach ließen wir uns nicht umdrehen!) und alles in flimmerndem Schwarz-Weiß-Grau.

Bunt und in Hochglanztechnik erreichte uns dagegen allsommerlich eine Flut schönster Urlaubspostkarten. Mit durchgängig blauem Himmel, weißen Bergkuppen, wedelnden Palmen, blühenden Hängen und türkisfarbenem Meer an Stränden voller gebräunter Menschen. Solche Postkarten, die zusätzlich mit verbalen Lobeshymnen beschrieben waren, kamen natürlich von Verwandten und Freunden, die im Westen lebten, vereinzelt aber auch von Absendern mit Ostadresse. Und wir schlossen daraus: wenn auch nicht Mittelmeer, Pazifik oder Atlantik - am Schwarzen Meer müsste es landschaftlich eigentlich auch ganz schön sein. Kümmern wir uns doch mal darum!