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Rudi Czerwenka

Wo Kapitäne geboren wurden

Zur Geschichte der Seefahrtschule Wustrow

 

ISBN 978-3-95655-546-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2003 im Scheunen Verlag, Kückenshagen.

 

Wir danken Herrn Manfred Sawitzki aus Wustrow und Herrn Hans Götze aus Ahrenshoop für die Bilder und Dokumente.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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SEEFAHRT IST NOT

„Ik hew ein' Kaptein kennt, de wir achtig Johr ölt un hett einunachtig Johr to See fohr'n." Wertung und Deutung dieses Fischländer Rechenwunders hat der Volkskundler Richard Wossidlo seiner Leserschaft überlassen. Jedermann kann es nach Belieben auslegen, bis er den wahren Sinn erfasst. Denn das Resultat stimmt. Allerdings hat es Jahrtausende gedauert, bis ausgerechnet diese abgelegene, kleine, schmale Küstenregion zum Standort eines in der gesamten maritimen Welt geachteten Seefahrervölkchens wurde.

Das Fischland war ursprünglich eine Insel, entstanden und geformt in den Perioden der Nacheiszeit aus skandinavischen Geschieben, durch die Ostsee schließlich auf den heutigen schmalen Landstreifen zurückgebildet. Der Bogen dieser Inseln und Inselchen begann östlich von Rostock, wo die Küstenlinie nach Nordosten abbiegt und umfasste nicht nur das heutige Fischland, sondern setzte sich fort über den Darß, den Zingst, den Kleinen und den Großen Bock, über Hiddensee und den Bug bis nach Wittow. Land wurde abgetragen, Land wurde angespült. Das Fischland zählte und zählt bei diesem natürlichen Prozess zu den Verlierern.

Begrenzt wurde es durch zwei frühere Mündungsarme der Recknitz, im Westen durch den Permin, der vom Wustrower Hafen in die Ostsee führte und durch den Loop, den Darßer Kanal zwischen Althagen und Ahrenshoop, ebenfalls eine durchgehende Verbindung zwischen Bodden und freier See. Im Innern erschwerten unzugängliche Urwälder und unwegsame Moore die Besiedlung. Dennoch lebten hier seit alters her Menschen, wie steinzeitliche Funde belegen. Tausende von Objekten, Schaber und Klingen, Keile und Beile, Pfeil- und Speerspitzen, Sicheln und Angelhaken, wurden besonders in den Jahren um 1900 von eifrigen Sammlern geborgen. In der Bronzezeit, also in den zwei Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung scheint die Besiedlung zurückgegangen zu sein; aus dieser Periode fehlen die zuvor zahlreichen Belege. Erneute Landverluste am Küstenstreifen waren wohl die Gründe.

Das änderte sich um 600, als Slawen vom Stamm der Kessiner in das von Germanen verlassene Gebiet vorrückten. Sie lebten von dem, was Land und See ihnen boten und hinterließen kaum Spuren. Abgesehen von ihren naturbetonten Lebensformen hatten sie vermutlich einen weiteren wichtigeren Grund, hier auf größere Siedlungsrodungen zu verzichten. Das Fischland war eine Kultstätte, war ihr Swante Wustrowe, die Heilige Insel. Der künstlich aufgeschüttete Kirchenhügel von Wustrow trug den Tempel ihres Gottes Swantewit. Die Sage berichtet allerdings, Swantewit habe den Hügel mithilfe seines Schimmels in einer einzigen Nacht selbst errichtet, um seinen göttlichen Thron gegen die Feinde erfolgreich verteidigen zu können.

Als im 12. Jahrhundert Heinrich der Löwe mit seinen Kriegern in das Gebiet vordrang, die Christianisierung einleitete und nachfolgend deutsche Siedler ins Land rief, wurden die slawischen Bewohner nicht wie im Brandenburgischen vertrieben oder gar vernichtet, sondern integriert. Sie lebten weiter wie bisher von Fischfang und Feldbau, von der Jagd und ihren Handwerken. Die Zuwanderer dagegen brachten ihre eigenen Wirtschafts- und Siedlungsformen mit. Sie rodeten die Wälder, gewannen dadurch Ackerland und legten auch auf dem Fischland, wenn auch kleiner als anderswo, kompakte Siedlungen an. In dieser Zeit entstanden die großen und kleinen Städte, so auch Rostock und Ribnitz, bildete sich das Bürgertum heraus, schwangen sich aber auch im mecklenburgischen Binnenland unzählige ritterliche Lehnsherren zu fast autarken Regenten auf. Die alten und neuen Fischlandsiedler dagegen waren nur dem Fürsten untertan. Sie bearbeiteten die schweren Böden, bauten Roggen, Gerste, Hafer und Flachs. Sie nutzten den Fischreichtum des Meeres und des Boddens. Sie leisteten die auferlegten Naturalabgaben und Spanndienste, wenn die Jahre gut und ertragreich verliefen. Für sie änderte sich kaum etwas, als der Fürst 1324 das Klarissinenkloster zu Ribnitz gründete und den Nonnen u. a. auch das Fischland als Schenkung übereignete. Bei diesen Abgaben und Diensten blieb es, auch als St. Claeren endlich 100 Jahre nach der Reformation in ein adliges Damenstift umgewandelt wurde. Die Herren der Insel wechselten, aber sie blieben die Herren. Auf dem engen Fischland durfte nur leben, wer hier Haus und Hof besaß. Die Bauern waren also gezwungen, ihr Land unter ihren Kindern aufzuteilen, die sich dann nur noch eigene Häuser bauen mussten.

 

Die Wälder begannen zu schrumpfen, die bestellten Ackerflächen wuchsen, obwohl für den einzelnen immer weniger zur Verfügung stand, auch an Erntegut. Im Hinterland dagegen wuchs mehr Getreide, als dort verbraucht werden konnte. Auf dem Fischland hatte man Fisch, allerdings Fisch im Überfluss. In guten Jahren düngte man sogar die Gärten damit. Fisch wurde zur Währung zum Erwerb dessen, was man auf der Insel entbehren musste. So lag es nahe, angesichts der einerseits von Generation zu Generation verkleinerten Ackerflächen und des Mangels an Pachtweiden auf den regelmäßig überfluteten Ribnitzer Wiesen, andererseits angesichts des Überflusses an Fisch neue Wirtschaftsformen wie den Handel zu suchen und auszubauen.

In diese Zeit, in das 14. Jahrhundert, fiel der Beginn der Fischländer Seefahrt, ausgeübt zunächst neben der bäuerlichen Tätigkeit, bis zum Übergang zur reinen Berufsschifffahrt im 17. Jahrhundert. Mit kleinen bis zu 10 Meter langen einmastigen Schuten, oft selbst zurechtgezimmert in einfacher Schalenbauweise, transportierte man einheimisches Holz, aus dem Hinterland herangeschafftes Getreide sowie geräucherte oder eingesalzene Fische zunächst nach Lübeck, Kiel oder Kopenhagen und kehrte mit Waren zurück, an denen es daheim mangelte, mit Salz, Kleidungsstoffen oder Tonzeug. Das bisherige karge Dasein wurde allmählich überwunden, sogar durch bescheidenen Wohlstand abgelöst. Die Fischländer Bauernschiffer, zunächst vom Bürgertum der reichen Hansestädte belächelt, erregten alsbald deren Unwillen. Besonders Rostock und Stralsund waren nicht geneigt, die Konkurrenz der Fischländer hinzunehmen, die inzwischen mit auf eigenen Werften gebauten größeren Galeassen bis nach Finnland, Russland, England oder den Niederlanden segelten und auf den dortigen Märkten Geschäfte machten. Die Pläne, den Ribnitzer Hafen und die Zufahrten zur Ostsee auszubauen, wurden von den am Absatz ihres Getreides interessierten Fürsten und Landherren bereits unterstützt. Das zwang die Städte zum Handeln. Truppen der Hansestadt Stralsund überfielen 1395 die Residenz des Pommernherzogs in Ahrenshoop, zerstörten aber nicht nur die Burg, sondern vor allem den dortigen Seezugang. Der Fürst musste die Niederlage hinnehmen, er starb kurz danach. Dem Fischland blieb anschließend nur der Permin als schiffbarer Wasserweg zwischen den Häfen von Wustrow oder Ribnitz oder den Werften an den Ufern des Boddens zur freien See. Da der Stralsunder Überfall auf den Loop für die Täter ohne Folgen geblieben war, wurden nun auch die Rostocker aktiv. Unter dem Vorwand, Schlupfwinkel der Piraten aufspüren und zerstören zu wollen, rückten sie mit einem Aufgebot von 1 000 Bewaffneten heran, versenkten im Permin drei mit Sand gefüllte schwere Prähme und machten damit auch diese Zufahrt unbrauchbar. Das Fischland war seit 1400 keine Insel mehr. Es war von Westen her über Land erreichbar, wenn das Meer angesichts der damals noch fehlenden Deiche die Ribnitzer Salzwiesen mal nicht überschwemmte.

Die Vorstellungen, den jetzt um seine Zufahrten beraubten Ribnitzer Hafen eines Tages dennoch auszubauen und die eine oder andere Zufahrt wieder zu öffnen, hielten sich weiter bis ins 19. Jahrhundert, scheiterten aber immer wieder an fehlenden Geldern, am Widerstand der Konkurrenten oder an politischen Wirren. Die Nordischen Kriege, der Dreißigjährige Krieg, Cromwells Navigationsakte und Napoleons Kontinentalsperre belasteten nicht nur diese Region und warfen die Entwicklung zurück. In den relativ friedlichen Zwischenzeiten ließen die Fischländer jedoch nicht ab vom Schiffbau und von der Seefahrt, obwohl die Wege quer durch den gesamten Bodden nun länger und wegen ständig wechselnder Untiefen auch gefahrvoller geworden waren. Sogar für erfahrene Steuerleute war es kompliziert, eine Brigg, eine Dreimastbark oder einen tief gehenden Schoner von einer Boddenwerft oder vom Wustrower Hafen in die freie See zu bugsieren, auch wenn das Schiff keine Ladung führte. So mussten die heimatlichen Werften und Häfen im Lauf der Zeit aufgegeben werden. Die Fischländer Flotte lud, entlud und überwinterte stattdessen in Rostock bzw. in Warnemünde.

Nur die Besatzungen, vom Schiffer bis zum Schiffsjungen, kamen immer noch und zunehmend aus dem Fischland und den umliegenden Dörfern. Auch die Tradition, ein Schiff nur mithilfe der Familie zu bauen und zu betreiben, lebte in abgewandelter Form weiter.

Einen Drei- oder Viermaster mit Kosten von über 10 000 Talern konnte man auf althergebrachte Weise allerdings nicht mehr finanzieren, auch wenn alle Teile der seefahrenden Verwandtschaft jahrelang Taler um Taler von der kargen Heuer zurückgelegt hatten. So entwickelte sich auf traditioneller Basis die Partenreederei. Der an einem späteren eigenen Schiff Interessierte suchte sich zunächst einen Korrespondenzreeder, möglichst einen erfahrenen Rostocker Seehandelskaufmann. Dieser entwickelte zunächst die Pläne für den beabsichtigten Neubau, vor allem die Finanzpläne. Damit ging der künftige Eigner auf Partnersuche, innerhalb der Verwandtschaft, im Dorf und darüber hinaus, unter den Schiffbauern, aber auch unter wohlhabenden Bürgern und Gutsherren. Ein jeder zahlte seinen Anteil und wurde später nach diesem Anteil am Gewinn beteiligt, den das Schiff einfuhr. Der Korrespondenzreeder war für die Partneranteile und -beteiligung verantwortlich, der Schiffer für das Schiff. Mit seinen Erfahrungen stand er schon den Schiffbauern von der Kiellegung an zur Seite, half bei der Wahl des Bauholzes und der Masten, des Gutes und der Segel. Er kannte das Schiff also buchstäblich in- und auswendig. Das System der Partenreederei bewährte sich hervorragend, allerdings nur bis zum Übergang zur Dampfschifffahrt. Bei den dann erforderlichen Investitionen waren die bisherigen Geldgeber überfordert. Bis dahin hatten sich die Fischländer Schiffer, aber auch die Seeleute vom Fischland einen herausragenden Ruf erarbeitet. Diese kleine Region war international nicht zu übersehen und nicht zu übergehen. Ex- und Importeure im Seeverkehr griffen beim Transport empfindlicher oder auch besonders kostbarer Waren gern auf Fischländer Schiffe und Schiffer zurück. Heuerbaase aus Hamburg, Lübeck oder Bremen, die sich bereits im Winter auf den beschwerlichen Weg ins Fischland machten, um hier Seeleute für ihre Schiffe zu werben, hatten dagegen nur selten Erfolg. Die Fischländer fuhren lieber unter ihresgleichen.

Um das Jahr 1700 zählte die Fischländer Flotte 56 hier beheimatete Schiffe. Um 1800 waren es bereits 70, um 1830 schon 96. Die Zahlen wuchsen bis 1845 auf 168, zehn Jahre danach auf 197 und betrugen 1860 sogar 240 Schiffe. Die verschiedenen Quellen liefern hierbei allerdings unterschiedliche Werte. Ähnlich verlief die Entwicklung des Mannschaftsbestandes. Von den im Jahr 1860 in Rostock registrierten Schiffen kamen 219 der 335 Kapitäne und 544 der 1 271 Matrosen und Steuerleute vom Fischland.