Impressum

Rudi Czerwenka

Von Boltenhagen nach Ahlbeck

Mecklenburg-Vorpommerns Ostseeküste

Geschichte und Geschichten für Zugezogene, Touristen und andere Neulinge

 

ISBN 978-3-95655-544-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2009 im BS-Verlag, Rostock.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Vorwort

Plan und Konzeption für dieses Buch wurden bereits während der Endphase der DDR entwickelt. Als das Manuskript abgeschlossen war, hatte sich die Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht geändert. Autor und Verlag „Tribüne“ waren sich jedoch darin einig, keine oberflächlichen Aktualisierungen vorzunehmen. So werden in den Texten nicht nur weit zurückliegende und damit unwiderlegbare Vorgänge ins Licht der Gegenwart gerückt, sondern auch Ereignisse, die der Leser selbst erlebt hat, die nun aufgefrischt und vor dem Vergessen bewahrt werden können. Das Buch wurde - unbeabsichtigt - zum Zeitdokument.

Die Vielfalt und Vielzahl interessanter Fakten aus der Geschichte und der Gegenwart der Ostseeküste, aus Sagen und Märchen, Kunst und Brauchtum, aus den Bereichen Seefahrt, Fischfang, Handwerk, Landwirtschaft und Tourismus zwang zu Einschränkungen. Dennoch ermöglichte die Kürze der einzelnen Kapitel eine beachtliche thematische Breite. Trotzdem kann hier nicht mehr als ein Überblick geboten werden, ein Einblick in die Jahrhunderte der Entwicklung eines Landstrichs, seiner Städte und Dörfer, der Menschen und ihrer wechselnden Lebensumstände zwischen der Lübecker Bucht und dem Oderhaff.

Der Autor, obwohl von Geburt weder mecklenburgischer „Fischkopp“ noch pommerscher „Südschwede“, erwies sich mit seinen bisherigen Arbeiten für Verlage und Medien als einfühlsamer Kenner von Land und Leuten an der See. Bei den umfangreichen Recherchen für das vorliegende Buch fand er in Museumsdirektoren und Archivaren, bei Seeleuten und Landleuten, Wissenschaftlern, Hobbyforschern und unmittelbaren Zeitzeugen engagierte Berater und Helfer.

Dem einheimischen Leser wird das Buch die Blicke schärfen, Wissen und Einsichten erweitern, Erinnerungen wecken, Urlauber und Touristen werden diesen Landstrich an der Ostsee genauer kennenlernen und damit intensiver erleben.

Berlin, im September 1990

Nun sind fast 20 Jahre vergangen. Der Verlag „Tribüne“ konnte den Druck des Buches nicht mehr besorgen, er starb. Das unveränderte Manuskript wurde zu diesem Buch und ist - ein Zeitdokument.

 

Bargeshagen, im März 2009

 

„Besitz stirbt,

Sippen sterben,

Du selbst stirbst wie sie,

eins weiß ich,

was ewig lebt:

des Toten Tatenruhm.“

Edda

I. Wismarer Land - Wiege Mecklenburgs

„Wismar hat den bequemsten Hafen dieses ganzen baltischen Gestades. Kleinere Städte umgeben es rings wie ein Kranz. Der Acker ist äußerst fruchtbar.“

David Chyträus, 1590

Unter dem Hammer des Thor. Seehandel und Seeverkehr vor 1000 Jahren

Dieses Anfangskapitel soll über die berichten, die nach unserem heutigen Wissen zuerst das baltische Meer befuhren. Das waren weder die Slawen noch die niedersächsischen Kolonisatoren des Mittelalters, weder die Hansekaufleute noch die Städtegründer dieses Bundes; die Pioniere der nordeuropäischen Seefahrt kamen aus den Küstenregionen Skandinaviens. Die Franken nannten sie Nordmänner, Normannen. Sie selbst bezeichneten sich als Wikinger.

Die bisherige Geschichtsschreibung hat ihnen in zweierlei Hinsicht unrecht getan: Zum einen wurden sie als brutale und unmenschliche See- und Landräuber abgestempelt, zum anderen verschwieg man ihre nautischen und kolonisatorischen Leistungen ebenso wie ihre Entdeckungen.

Die Kargheit ihrer Heimat an den Küsten Dänemarks, Schwedens und Norwegens, die Nähe zu den Flüssen und Fjorden und zum Meer und ihre Stammesordnung, die den nachgeborenen Söhnen aller Schichten nur wenig Entwicklungschancen bot, trieb die Nordmänner auf das Meer. Dabei erkundeten sie zunächst die südlichen Küstengebiete der Ost- und Nordsee und die Flussmündungen und stießen hier weit ins Inland vor. Ihre Ziele waren Reichtum und Besitz. Hierbei unterschieden sie, getreu ihrem Götterglauben, kaum zwischen friedlicher Handelstätigkeit und räuberischer Bereicherung. Im freien genossenschaftlichen Zusammenschluss oder als Gefolgsleute ihrer Adelssöhne dehnten sie ihre Fahrten immer weiter aus. Normannische Handelsniederlassungen entstanden nicht nur auf der britischen Insel und an der Atlantikküste, sondern auch auf den Shetland- und Orkneyinseln, auf Irland, Island und Grönland. Die Vermutung, dass Wikinger schon 500 Jahre vor Kolumbus Amerika erreichten, wurde inzwischen durch Ausgrabungen normannischer Schiffsreste, Häuser und Bootsschuppen auf Neufundland bestätigt. Die Berichte über die Fahrten des Wikingers Leiv Eirikssons nach dem „Vinland“ in der Grönlandsage und der Saga Erik des Roten erwiesen sich als wahr.

Die Großen Handelsschiffe der Wikinger, die „Knorrs“, waren bis zu 30 Meter lang und mittschiffs bis zu 6 Meter breit. Bestückt mit einem Rahsegel und mit sechs oder acht Männern besetzt, konnten sie bis zu 40 Tonnen Fracht laden. Die Knorrs hatten nur vorn und achtern ein kleines Deck, dazwischen war alles offener Laderaum, der Getreide, Holz oder Salz in großen Mengen aufnehmen konnte. Darüber hinaus wurden aus dem Norden und Osten Europas Pelze, Bernstein, Walrosselfenbein, Speckstein, Eisenerz, Honig, Wachs und die kostbarste Fracht, Sklaven, verschifft. Aus West- und Südeuropa kamen Tuche, Glas, Keramik, Waffen und Schmuck.

Die Kriegsschiffe der Wikinger, die berühmten Drachenboote, waren möglichst schmal, leicht und lang, also nur auf Schnelligkeit und Wendigkeit ausgelegt. Bei einer Länge von etwa 30 Metern waren sie nur bis zu 3 Meter breit. 50 Krieger bzw. Ruderer fasste ein solches Langschiff, dazu noch die Pferde der Berittenen und in hohen Holzfässern verstaute Nahrungsmittelvorräte. 44 bis 48 Männer saßen, beidseitig verteilt und durch ihre außenbords angehängten Schilde geschützt, an langen Riemen und verliehen dem Schiff beim Angriff oder bei Flucht das erforderliche Tempo, ansonsten fuhr man auch hier mit einem großen, wollenen, mit Pferdefett imprägnierten Rahsegel. Der Schiffsführer steuerte mit einem besonders breiten, an der rechten Bootsseite ins Wasser ragenden Riemen (steuerbord) und drehte also der linken Bootsseite seinen Rücken, seine Back, zu (backbord). Wegen ihres geringen Tiefgangs konnten die Langschiffe an allen Stränden anlegen, weit in die Flussmündungen vordringen und notfalls auch über Land getragen werden. Des Nachts bei Schlechtwetter dienten sie, an Land gezogen und angekippt, den Kriegern als Schutzunterkunft.

Es ist anzunehmen, dass sich die Wikinger auch im Schnittpunkt ihrer Handelswege einen Lager-, Messe- und Handelsplatz geschaffen hatten. Jener Kreuzungspunkt des Nord-Süd-Handels mit dem Ost-West-Handel musste sich auf der Halbinsel Jütland befinden. Demnach wurde die in vielen Chroniken genannte Großsiedlung Haithabu lange Zeit unter den mittelalterlichen Stadtmauern von Schleswig vermutet und gesucht, wo die Ostseemündung der Schlei tief ins Land reicht und von der Nordsee die schiffbaren Flüsschen Treene und Eider über eine nur kurze Landstrecke zu erreichen sind. Aber alle Forschungen verliefen ergebnislos, bis 1897 der dänische Archäologe Sophus Müller das gesuchte Haithabu gegenüber von Schleswig am Südufer der Schlei fand. Inzwischen ist das 24 Hektar umfassende Siedlungsgelände der frühmittelalterlichen Handelsstadt zu fünf Prozent und der frühere Hafen zu einem Prozent erforscht. Die Resultate der Grabungen vermitteln bereits heute einen lückenlosen Einblick in die soziale Kultur der Bewohner.

Etwa 1 000 Menschen lebten in Haithabu: Friesen, Dänen, Schweden, Sachsen, Slawen; Christen und Nichtchristen unterschiedlicher Glaubensrichtung; reiche Kaufleute, Krieger, Händler, Handwerker, Knechte und Sklaven, zeitweise sogar der König oder dessen Wikgraf; Haithabu war auch Bischofssitz.

Ein halbkreisförmiger Wall schützte die Stadt zum Land, zum Wasser hin lagen die Hafenanlagen, 100 Meter lange Anlegebrücken mit Lagerschuppen. Ein Netz bohlenbelegter Gassen und enger Knüppelwege durchzog die Siedlung, in der schilfgedeckte Häuser mit lehmverputzten Flechtwänden standen. Dabei gab es sieben Meter lange zweigeteilte Wohn-Stall-Häuser und etwa 20 Meter lange dreigeteilte Wohn-Stall-Gewerbe-Bauten. Die Inneneinrichtung war einfach - man legte darauf in Haithabu wenig Wert - sie beschränkte sich auf eine erhöhte Schlafstatt, auf einen offenen Herd, Tranlampen, einige Hängeborde und Truhen, worin die Bewohner ihre Kleidung und Kostbarkeiten - sofern sie zu den Besitzenden zählten - unterbrachten.

Die zunächst bescheidene, um das Jahr 780 errichtete Siedlung erlebte schon um 800 ihren großen Aufschwung unter der Herrschaft des Dänenkönigs Göttrik und einen erheblichen Bevölkerungszulauf durch die Umsiedlung vieler Kaufleute aus dem zerstörten slawischen Handelsplatz Reric. Haithabu wurde nicht nur Lagerzentrum für alle Fernhandelsgüter, es entwickelte sich auch zum Produktions- und Handelsplatz. Regierungswechsel, Machtfolgen und Kriege zwischen deutschen und dänischen Königen überstand die Stadt relativ unbeschadet. Nach zweimaliger völliger Zerstörung - durch die Norweger im Jahre 1050 und durch die Westslawen im Jahre 1066 - wurde sie jedoch nicht wieder aufgebaut; das benachbarte Schleswig trat das Erbe an.

In den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wurden im Hafenbereich von Haithabu besonders interessante Funde geborgen: ein Wikingerschiff, Reste weiterer Schiffswracks, die Kirchenglocke von Haithabu aus dem Jahre 948 und die Pfahlkonstruktionen der früheren Landebrücken. Grabfunde aus der unmittelbaren Umgebung förderten Beigaben wie Bekleidung, Waffen, Schmuck und Nahrungsmittelreste in Gefäßen zutage. Auch Runensteine wurden gefunden - mannshohe Findlinge - auf denen die Toten gewürdigt wurden.

Diese Sachzeugen fanden ihre Bleibe im Wikinger-Museum bei Schleswig, am Rande des Dorfes Haddeby, unmittelbar neben dem normannischen Siedlungskomplex. Sieben miteinander verbundene, kieloben liegenden Schiffen nachgestaltete Hallen informieren über Aufstieg und Untergang der frühmittelalterlichen Stadt Haithabu - über das Leben, die Arbeit, Handels- und Kriegszüge ihrer Bewohner, über Handwerk und Handel, über die Bauten, die seemännischen Leistungen, über die Kultur und die Götterwelt. Vieles, vor allem aus dem seemännischen Bereich, wirkt bis in unsere Zeit und führt zu der Einsicht, dass unsere Vergangenheit weiter zurückreicht, als man annehmen möchte.

Platt is ok wat! Zur niederdeutschen Sprache und Literatur

„Platt is ok wat!“, schrieb mir in den fünfziger Jahren Fritz Meyer-Scharffenberg in eines seiner Bücher. Ich, eben erst aus südlichen Gefilden zugewandert und längst noch nicht heimisch in diesem Landstrich an der Küste, verstand zwar den Sinn des Satzes, seine tiefere Bedeutung jedoch blieb mir verborgen. Aus Kindheit und Schulzeit kannte ich nicht viel mehr als „Eene meene mu. - un af büst du“, „Lott’ is dot“ und „Lütt Matten, de Has!“.

Die Umstände brachten es später mit sich, dass ich mich zu dem Wagnis entschloss, eigene niederdeutsche Texte zu schreiben. Sicherheitshalber wurden sie einer sachgerechten Überprüfung unterzogen. Bei der Premiere saß ich im Theatersaal und staunte nicht wenig, weil keiner der Schauspieler sich konsequent an meine Texte hielt. Nach der Vorstellung löste sich das Rätsel. Jeder der Darsteller hatte zwar platt, aber dabei seinen Regionaldialekt gesprochen, den holsteinischen, den pommerschen, den Rostocker oder den Hamburger. Und niemand von all denen, die die Vorstellung gesehen und ihre Freude daran gehabt hatten, war darüber gestolpert, nicht einmal die Rezensenten.

Die Siedler, die im Gefolge niedersächsischer Krieger und Priester seit dem 11. Jahrhundert Richtung Osten vorgestoßen waren, hatten ihre Sprache mitgebracht. Dann aber prägte jede einzelne Hansestadt die Mundart ihres Umfelds. Rostocker und Lübecker Chroniken, um 1300 bzw. 1450 verfasst, sind in Niederdeutsch geschrieben, unterscheiden sich aber in den sprachlichen Feinheiten deutlich voneinander. Plattdeutsche Bibeldrucke, die im gesamten norddeutschen Sprachgebiet verbreitet waren und verstanden werden sollten, übersprangen dagegen die territorialen Mundartgrenzen. Die alte niederdeutsche Rechtssammlung „Sachsenspiegel“ von 1230, die Urfassungen des „Eulenspiegel“ (1483) und des „Reineke Voß“ (1498) beweisen nachdrücklich, dass das Plattdeutsche nicht nur Umgangssprache, sondern auch Amts- und Literatursprache geworden war.

Das Ende dieser Blütezeit bahnte sich um 1600 an. Der Verfall der Hanse, die Verbreitung des römischen Rechts im Amts- und Handelsverkehr, das Latein der Schulen und Kirchen und Luthers sächsisch-böhmische Kanzleisprache verdrängten das Plattdeutsche aus der Öffentlichkeit. Der Dreißigjährige Krieg brachte auch für die niederdeutsche Literatur das Ende. Platt galt fortan als unfein, als niedrig. Es hielt sich auf dem Lande und in der Intimität der Bürgerhäuser, wurde aber von der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen. Innerhalb dieser Öffentlichkeitsbereiche konnte man sich auf platt nicht mehr verständigen.

Wortmeldungen und Diskussionen für oder gegen das Niederdeutsche begannen erst wieder in der Mitte des 19. Jahrhunderts. „Die plattdeutsche Sprache ist leichter auszusprechen, lieblicher zu hören, besser zu lernen, sie ist kürzer und reicher als die hochdeutsche“, bekannte ein Kieler Gelehrter. Ein Rostocker Professor dagegen betitelte eine seiner Vorlesungen: „... die Unvollkommenheiten der plattdeutschen Sprache und die zu erwünschende gänzliche Verbannung wenigstens aus den Cirkeln gebildet sein wollender Menschen.“

Der Gelehrtenstreit wurde durch die Literaten entschieden. Im Abstand von jeweils nur einem Jahr veröffentlichten der Dithmarscher Müllersohn und spätere Kieler Universitätsprofessor Klaus Groth (1819-1899), der Stavenhagener Bürgermeistersohn und Burschenschaftler Fritz Reuter (1810-1874) und John Brinckman (1814- 1870), Sohn eines Rostocker Kapitäns, ihre ersten Werke. Groth schrieb hauptsächlich niederdeutsche Lyrik. Seine volksverbundenen Verse fanden in Norddeutschland großen Anklang. Reuters Leben und seine wichtigsten Werke sind weithin bekannt. Er zählte um die Jahrhundertwende zu den am meisten gelesenen deutschen Autoren. Es gab regelrechte „Fan-Klubs“, sogar in Dänemark, Holland und Nordamerika entstanden Reutervereine.

Brinckman erntete zu Lebzeiten weder Ruhm noch Gewinn. Seine Mutter hatte innerhalb von elf Ehejahren neun Kinder in die Welt gesetzt, als der Vater auf See blieb und die junge Witwe mit dem Nachwuchs zurückließ. John Brinckman wurde, ähnlich wie Reuter, „wegen versuchter Stiftung eines verbotenen Vereins ... und wegen Teilnahme an verbotenen Verbindungen“ zu Gefängnishaft verurteilt, hielt sich nach Strafverbüßung mehrere Jahre in Amerika auf, heiratete nach der Heimkehr und bemühte sich, als Lehrer den Lebensunterhalt für seine zehnköpfige Familie zu beschaffen. Ungeschickte Verleger, enttäuschende Freunde, zu denen auch Reuter gehörte, wenig Glück und häufige Krankheit sorgten dafür, dass Brinckman nie aus den Sorgen herauskam. Sein „Voß un Swinegel“, sein „Vagel Grip“ und besonders „Kasper Ohm un ick“ fanden erst nach seinem Tod ihr Lesepublikum. Brinckman schrieb ein bildhaftes, volkstümliches, humorvolles Platt. Seine mit liebenswerten Charakterzügen ausgestatteten Figuren verkörpern „den Typus einer verschwundenen Rasse, den baltischen Seemann“. Straßen und Wege im Stadtteil Rostock-Brinckmansdorf tragen Namen Brinckmanscher Gestalten.

Das Niederdeutsche war wieder literaturfähig geworden. Felix Stillfried fasste diesen Sieg in Verse:

 

„‘ne Sprak, de lacht, ‘ne Sprak, de rohrt,

‘ne Sprak, so lud, so lisen –

o plattdütsch Land un Sprak un Ort,

jug will ick ümmer prisen!“

 

Bis zum heutigen Tag sind Stillfrieds Werke in Buchhandlungen und Büchereien sehr gefragt. Gleiches gilt für Rudolf Tarnows Schwankgeschichten „Burrkäwers“.

Bei vielen niederdeutschen Sprüchen, Versen und gereimten Volksweisheiten ist die Herkunft unbekannt. Bei der Erforschung dieser Volkskultur hat sich besonders Richard Wossidlo (1859-1939), Gymnasialprofessor in Waren (Müritz), verdient gemacht. Was er in den Häfen, in den Handwerksstuben und in den Dörfern aufspürte und sammelte, wird Bände füllen, wenn es eines Tages aufgearbeitet sein wird. Die Sprichwörter offenbaren Lebenserfahrungen und typische Charakterzüge des Volkes, zum Beispiel bei „De Düwel schitt ümmer up den gröttsten Hümpel“ oder „Ierst de Piep in Brand un denn dat Pierd ut’n Graben“.

Typisch für das Plattdeutsche sind auch bildhafte und aussagestarke Wortbildungen und Zusammensetzungen. Für den Schiffskoch gab es beispielsweise eine ganze Reihe von Namen: Smeerlap, Fettprinz, Kombüsenhingst, Tüffelslachter, Frikadellensmitt u. a. m. Die Lust an Wortschöpfungen hält bis in die Gegenwart an, das beweisen Formulierungen wie „Stratendampfer“ (Auto) oder „Kauhnoorsastrologe“ (Besamungstechniker).

Wer im Küstengebiet nach plattdeutschen Leckerbissen sucht, der wird nicht nur in Büchern oder auf anderem bedruckten Papier fündig. Im sakralen Gemäuer des Doberaner Münsters entdeckt man beispielsweise folgende unfromme Grabschrift:

 

„Hier ruhet Gottlieb Merkel.

In sin Jugend was hei’n Ferkel.

In sin Öller was hei’n Swin.

min Gott, wat mag hei nu woll sin?“

 

Viele der im Hochdeutschen als vulgär geltenden Wörter sind im Plattdeutschen weder anstößig noch beleidigend. Sie sind literaturfähig. In der Umgangssprache werden sie sogar als Koseformen gebraucht, zum Beispiel „Nörßing“ oder „Schieting“.

Dank seiner urwüchsigen Kraft und seiner im Volk verankerten Wurzeln überdauerte das Platt seine Tiefzeiten. Heute lebt es weiter in den Neubaublocks der Städte, in den Kleinstädten entlang der Küste wie in den Dörfern. Es lebt im Berufsalltag der Bauern und Werftarbeiter, der Seeleute und Fischer und auch der Verwaltungsbeamten. Es lebt nicht nur in den alten, sondern auch in neuen Büchern und auf den Bühnen der Theater. Besser als jeder Personalausweis erklärt es jemanden zum Einheimischen, zum „Fischkopp“ oder „Südschweden“.

Bei Kurt Tucholsky findet man das Bekenntnis: „Das Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will, herrlich besoffen.“

Stationen einer Stadt. Aus Wismars Vergangenheit und Gegenwart

Mein Gegenüber im „Zägenkrog“, der kleinen, gemütlichen Seemannskneipe am Wismarer Ziegenmarkt, bezahlt seine Getränke wohl im Voraus - er reichte ein in Zeitung gewickeltes längliches Etwas über den Tresen ... Nach dem ersten Bier lockert sich seine Zunge. Beim Fischfang ist er erst seit wenigen Jahren. Vorher fuhr er auf größeren Pötten und hat allerhand von der Welt gesehen. Auch sein Vater war Seemann. Nur der Onkel musste an Land bleiben und den Laden übernehmen, den der Großvater, nachdem er die Seestiefel an den Türrahmen gehängt hatte, eröffnete. Seefahrer, Fischer und Kaufleute prägten das Gesicht dieser Stadt, früher wie heute.

Der Hafen von Wismar war jahrhundertelang Startplatz vieler wagemutiger Seefahrer und - wenn die Zeitläufe Schiff und Besatzung gnädig waren - Endpunkt ihrer Reisen.

„Otto Wilcken ist mit sinem schepe, gott lof, ockte wedder gekamen ..., was im 5 jahr vthgewest“, meldet eine Wismarer Chronik unter dem 8. November 1590.

Die Eintragung verschweigt die Risiken, denen die Kauffahrer, ihre Schiffe und Salzfrachten in spanischen Gewässern ausgesetzt waren.

Der engstirnige, um den Verfall seiner Macht besorgte König Philipp II. rüstete seine Flotte zum Kampf gegen England, und dazu war ihm jedes Schiff aus Europa, das spanische Häfen anlief, recht, auch das von Otto Wilcken. 1538 stach die berühmte Armada dann in See, 132 Kriegsschiffe mit annähernd 3 000 Kanonen und mehr als 30 000 Mann Besatzung - und erlitt im Kanal ihre entscheidende Niederlage! Den Rest besorgten die Stürme der Irischen und Schottischen See.

Nur 65 Schiffe fanden nach Spanien zurück, darunter auch das von Otto Wilcken. Doch noch weitere drei Jahre musste er, unterstützt von seiner Wismarer Schiffergesellschaft, um die Freilassung vom König ringen. Er hatte wohl keine Gelegenheit, seine abenteuerlichen Erlebnisse aufzuzeichnen, denn schon 1591 war er wieder unterwegs, um das begehrte Salz aus den Häfen der Iberischen Halbinsel nach Wismar zu holen. 1618 fuhr er letztmalig nach Spanien, bevor der europäische Krieg Seefahrt und Fernhandel stoppte. Ein Seefahrer- und Kaufmannsleben, wie es wohl nicht allzu oft dokumentiert ist. Doch nicht nur er musste derartige bittere Erfahrungen sammeln.

„Hans Schröder is vnder de engelsche flate geraden ... was jahr vnd dach vthgewest in groter not van den Engelschen vnd den Fribütern.“ Auch der Schiffer Paul Wirichs „is allda vom könige angeholden worden vnd hernach mit man vnd gudt nevent velen anderen dütschen schepen jämmerlich vmmekamen“.

Aus Wismar stachen einst die Koggen der Hansekaufleute in See, befrachtet mit Getreide, Mehl, Malz, Bier, Häuten und Wolle. Hier wurden Fische aus Skandinavien, Stoffe aus Flandern, Pelzwerk aus dem Baltikum und das Salz von Frankreichs und Spaniens Atlantikküsten angelandet. Von hier zogen alljährlich die Heringsfänger nach Schonen, wo sie während der Fangsaison gemeinsam mit Händlern, Böttchern und Salzern lebten und arbeiteten.

Beim Bummel durch den Alten Hafen denkt man kaum an diese beeindruckende Vergangenheit. Fischkutter, Schlepper und Fahrgastschiffe dümpeln vor sich hin, ein paar Angler starren auf ihre Posen, die im friedlich glucksenden Wasser auf- und abtanzen, und Möwen kurven kreischend nach Beute. Vor dem alten Baumhausgebäude, heute Zweigstelle des Seefahrtsamtes, stehen zwei bunt bemalte „Schwedenköpfe“. Es sind Nachbildungen. Das stadtgeschichtliche Museum im Schabbelthaus bewahrt die Originale auf, die, auf Pfählen thronend, um 1800 die Hafeneinfahrt markierten und vermutlich Spottbilder gegen die damalige schwedische Besatzung darstellten.

Die Kabelkrananlage der Werft ragt aus dem Dunst. Wismar büßte im zweiten Weltkrieg nicht nur ein Viertel seiner Wohnbauten, sondern auch drei Viertel seiner Industrieanlagen ein. Auf den Trümmern der zerstörten Hansawerft entstand der heutige Spezialbetrieb, in dem vor allem Passagierschiffe gebaut wurden. Etwa 50 Binnen- und 20 Seefahrgastschiffe liefen hier vom Stapel. Die Wismarer Werft baute alle auf der Linie Mukran-Klaipeda verkehrenden Eisenbahnfährschiffe.

Hinter der Holz- und Stückgutpier wurde Wismars wichtigstes Ladegut umgeschlagen: der gesamte seewärtige Kali-Export. Weiter voraus, wo sich die Bucht zur Ostsee öffnet, erkennt man die Tanks und Rohrleitungsbrücken des Ölhafens.

Die natürliche Lage der Wismarer Bucht an der mittelalterlichen West-Ost-Handelsstraße führte um 1200 zur Gründung der Stadt und begünstigte ihre stürmische Entwicklung.

Auch die Größe des Marktplatzes lässt ahnen, wie rege es hier schon vor Jahrhunderten zuging. Die Patrizierhäuser künden bis heute vom Wohlstand vergangener Zeiten. Hier steht der „Alte Schwede“, errichtet um 1380 und damit ältestes Wohngebäude der Stadt. Seinen Namen erhielt das Haus allerdings erst nach 1878, als es zum Restaurant umgebaut worden war. Ein weiteres, besonders den Literaturfreunden bekanntes Wismarer Lokal wird man vergeblich suchen, das „Gasthaus Goldener Stern“, in dem Eulenspiegel seine Späße getrieben haben soll - es hat nie existiert. Auf diesem Markt drängten sich im Mittelalter die Buden und Stände der Kaufleute, Handwerker, Händler und Bauern. Noch im heutigen Wismar fallen dem Besucher die vielen kleinen Geschäfte und Läden auf. Die Kaufmannschaft hat hier Tradition. Übrigens eröffnete Rudolf Karstadt 1881 sein erstes Geschäft in dieser Stadt.

Auf dem Markt trieb auch der Adel sein Spektakel. In- und ausländische Fürsten ließen sich in der Hansestadt huldigen, wurden von Rat und Volk kniefällig empfangen. Die Abgänge der Herrscher vollzogen sich meist weniger pompös. Auf einem der hier veranstalteten Turniere wurde ein mecklenburgischer Herzog erschlagen, auf einem weiteren ein Thronfolger zum Krüppel gestoßen ...

Hier wurden durch die Bürgeropposition, die mit dem Wollenweber Claus Jesup kurzzeitig zur Macht gelangt war, ein Ratsherr und ein Bürgermeister enthauptet. Der eine hatte die Stadttore nachts weder verriegeln noch bewachen lassen, was den dänischen Belagerern allerdings entging und für die Stadt ohne Folgen blieb. Der andere hatte die städtisch Salzflotte im Sund kampflos den Feinden überlassen. Eine Steinplatte im Nordwestteil des Marktpflasters kennzeichnet noch heute die Hinrichtungsstätte von 1427.

Auf dem Markt endete auch der Hauptstrang der mittelalterlichen Wasserleitung. Zuvor hatte man sich aus der „Grube“, einem kleinen offenen Kanal, der über Gräben mit dem Schweriner See verbunden war und noch heute die nördliche Altstadt durchquert, versorgt. Die Grube lieferte nicht nur Trinkwasser, sie bewegte Mühlräder, diente dem Warentransport im Stadtbereich und konnte, falls ein Brand ausbrach, vor ihrem Austritt in die Wismarer Bucht gestaut werden. Der mecklenburgische Herzog jedoch fürchtete, sein Schweriner See könnte leerlaufen und ließ 1569 den Zufluss sperren.

Die Stadtbürger waren gezwungen, nach neuen Quellen zu suchen. Sie führten das Wasser über eine sieben Kilometer lange Leitung aus durchbohrten Fichtenstämmen anfänglich zu einem hölzernen, später steinerner Sammelbecken auf dem Markt. Der heutige zwölfeckige Kalksteinbau der „Wasserkunst“ wurde vom Utrechter Philipp Brandenstein im Stil der niederländischen Renaissance entworfen und um 1600 vollendet.

Wismar benötigte viel Wasser - für sein Bier, das im gesamten europäischen Norden, auch in Spanien und Portugal begehrt und berühmt war. Das Brauregister Wismars von 1464 verzeichnet 182 Brauer. Die Stadt lebte vom Bierexport, „der Schneider, Schuster, Hüter ..., der Böttcher, Träger, Schopenbrauer ... und der Schiffer würde ohne das Brauwesen nicht vom Gestade kommen“. Die reichen Brauerfamilien stellten Bürgermeister und Ratsherren. Auch Heinrich Schabbelt, in dessen 1570 errichteten Haus heute all die interessanten Zeugnisse der Stadtgeschichte bewahrt werden, war Bürgermeister und Brauer.

Zu Schabbelts Zeiten war die Blüteperiode der Stadt bereits vorüber. Der Abstieg hatte sich mit dem zurückgehenden Einfluss der Hanse angebahnt. In den Machtkämpfen der Städte und Herrscher rund um die Ostsee war Wismar oft Prellbock zwischen den Parteien. Pestepidemien und Brände, der Dreißigjährige Krieg und vor allem der Westfälische Friede, der eine 150-jährige Schwedenherrschaft einleitete, führten zum Verlust der seeseitigen Handelskontakte und isolierten die Stadt von ihrem wirtschaftlichen Umfeld. Wallensteins Pläne und die Versuche der Schweden, Wismar wenigstens zu einer Militärbastion auszubauen, blieben in Anfängen stecken. Handwerk und Gewerbe verkamen, ganze Straßenzüge waren unbewohnt und verfielen, Garnisonstruppen aus aller Herren Länder wechselten sich ab.

Vieles war unwiederbringlich verloren, als sich im Mai 1945 Marschall Rokossowski und Feldmarschall Montgomery hier im „Torgau des Nordens“ die Hände reichten. Dennoch verfügt die Stadt neben Stralsund über eine erhaltenswerte mittelalterliche Bausubstanz. Wer Zeit hat zu suchen und Augen zu sehen, entdeckt überall, auch in den Nebenstraßen, liebevoll gepflegte Fassaden an einzelnen Gebäuden und ganzen Häuserfronten, kunstvoll gearbeitete Türen, alte schöne Treppen, Lampen und Terrakotten. Noch ist vieles zu tun, sieht manches von außen besser aus als von innen.

Beim „Zägenkrog“ ist es umgekehrt. Man könnte an der unauffälligen Gaststätte vorbeilaufen, doch schon im Flur wird deutlich, dass man in eine geschichtliche Zeit eintritt.

Mein Tischnachbar, ein für mich anonym gebliebener Nachfahre der Wilckens, Schröders, Wirichs, Schabbelts und Jesups, hebt sein Glas. Wir trinken auf das Wohl der See- und Werftstadt Wismar - mit Rostocker Bier!

„... welche sie Mikelborg nannten“. Von der Slawenburg zum modernen Dorf

Mecklenburg liegt in Mecklenburg nahe der Mikelborg.

Wer diesen rätselhaften Satz nicht zu durchschauen vermag, dem sei die Erklärung nachgereicht. In Mecklenburg, an der von Wismar nach Schwerin führenden Fernverkehrsstraße, liegt Dorf Mecklenburg, und am Rande dieses Dorfes liegt die Mikelborg bzw. das, was von ihr übrig geblieben ist.

Die Gaststätte „Mecklenburger Mühle“ auf einem Hügel neben der Straße und der Parkplatz davor verlocken zum Anhalten, besonders dann, wenn der Magen knurrt und die Kehle trocken ist. Vermutlich jedoch geht es den meisten Touristen ebenso wie den Einheimischen: Man sucht sich einen Platz in der „Müllerstube“ oder der „Bauernstube“, bestellt á la carte, damit es schnell geht, schlingt sein Essen hinunter, zahlt möglichst im Voraus, und weiter geht die Fahrt. Dabei verpasst man viel und verzichtet nicht nur auf solche traditionellen Speisen wie „Mecklenburger Rippenbraten“, „Mühlentopf ‘ oder die leckere „Müllerplatte“, auch gewissermaßen die Bekanntschaft mit der Geschichte dieses Landstrichs.

Die frühesten Ereignisse aus der Zeit, bevor die germanischen Langobarden im Verlauf der Völkerwanderung das Land räumten, sind noch weitgehend unerforscht. Vor 1400 Jahren sickerten dann aus dem Osten slawische Stämme ein. Den Stammesführern der Obotriten schien die unzugängliche Moorlandschaft günstig für den Bau ihrer Hauptburg. Ein eiszeitlicher Hügel inmitten der Sümpfe wurde zu einer Höhe von mehr als zehn Metern aufgeschüttet und planiert. In die Erde gerammte Eichenpfähle bildeten einen Palisadenwall, in dessen Schutz hölzerne Bauten entstanden. Diese „große Burg“ - der Burgberg misst 250 Meter in der Länge und ist knapp 200 Meter breit - war Wohnsitz der Stammesfürsten, war Verwaltungszentrum der Obotriten und gewährte notfalls den Siedlern der Umgebung Zuflucht und Sicherheit.

Schon vor einem Jahrtausend berichtete der arabische Reisende Ibrahim Ibn Jakub über die Burg, die zu seiner Zeit seit 300 Jahren bestand. Die meisten damaligen und nachfolgenden Chronisten, die die Mikelborg und die slawischen Lebensformen beschrieben, hatten das Land und die Verteidigungsanlage entweder flüchtig oder überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Nach der Jahrtausendwende, im Verlauf der Ostexpansion Heinrich des Löwen, stürmten deutsche und auch dänische Eroberer wiederholt gegen die Burg an und zerstörten sie 1322 endgültig.

Die Ritter aus dem Gefolge des Welfenherzogs waren für ihre Kriegsdienste mit Landbesitz entlohnt, „belehnt“ worden, sie kehrten zunächst in ihre niedersächsische Heimat zurück, warben dort verschuldete oder landarme Bauern oder Bauernsöhne und führten die Planwagentrecks in das eroberte Slawenland. Dort teilten sie ihr Lehen an die Bauern auf, nahmen sich selbst die besten Hufen und übernahmen das Amt des Dorfschulzen. Trotz verschiedener Abgaben an den Landesfürsten, an den Grundherrn, an Kirche und Klöster waren die Bauern zunächst frei. Die ersten Formen der späteren Leibeigenschaft entstanden, indem die Grundherrn vom Landesherrn die Gerichtshoheit erkauften. Damit konnten die bäuerlichen Geld- und Naturalabgaben sowie die Frondienste ungestraft gesteigert werden; letztere erhöhten sich zum Beispiel von acht Frontagen pro Jahr um 1300 auf sechs Frontage pro Woche am Ende des 17. Jahrhunderts. Die bestehenden Abgaben wurden gesteigert und neue eingeführt. Wer nicht zahlen konnte, verlor seinen Hof, wurde leibeigen.

Ein dänischer Junker beschrieb den Arbeitstag eines Leibeigenen hinter dem Pflug: „Ein Paar Ochsen arbeiten jedes Mal und werden vor den Haken gespannt, aber nicht länger als höchstens vier Stunden ... zunächst vom Aufgange der Sonne bis um acht Uhr fort. Um diese Zeit bringt der Junge, welcher die Ochsen wartet und füttert, dem Arbeiter Frühkost und ein Paar frische Ochsen ... Alsdann treibt er die abgespannter Ochsen in die für sie bestimmte Koppel, wo sie bis um zwölf Uhr bleiben, um welche Zeit der Junge sie wieder dem Arbeiter zuführt und ihm zugleich das Mittagessen bringt ... Der Junge treibt die abgespannten Ochsen nach der Graskoppel, wo sie bis um vier Uhr bleiben und alsdann ... dem Arbeiter mit seiner ... Vesperkost wiedergebracht werden, um bis zum Untergange der Sonne zu arbeiten.“

Wenn diese Darstellung sich auch nicht unmittelbar auf Dorf Mecklenburg bezog, so waren die Verhältnisse hier nicht anders als am Beobachtungsort des Chronisten.

Auch auf dem Plateau des früheren Burgberges rissen die gutsherrlichen Hakenpflüge den Boden auf, bis dieses Stück Land Eigentum der Kirche wurde, die den Hügel 1370 zur Einrichtung eines Friedhofs freigab. Schon beim Ausschachten der Gräber trat Stück um Stück die slawische Vergangenheit zutage. Bei sich anschließenden wissenschaftlichen Grabungen stieß man auf Fundamentreste von Wällen und Häusern, auf Gefäßscherben, Eisengeräte und sogar auf Bärenschädel. So wurde in Dorf Mecklenburg vieles ans Tageslicht gebracht, was andernorts noch im Dunkeln liegt.

Anschauliche Auskünfte über die jüngere Vergangenheit des Dorfes und der Umgebung erteilt das „Agrarmuseum Dorf Mecklenburg“ im benachbarten Groß Stieten. Neben vielerlei landwirtschaftlichen Geräten und baulichem Inventar findet man hier eine „Speisekarte“, den Wochenspeiseplan einer Gesindeköchin aus dem vorigen Jahrhundert. Zum Frühstück gab es vom Montag bis zum Sonnabend das gleiche, nämlich „Melksupp“. Das Mittagessen wechselte zwischen „Arwtensupp“, „Tüffel mit Schausterstipp“, „Bohnensupp“ und „Pelltüften mit Hiring“. Der eingangs erwähnte pikante mecklenburgische Rippenbraten steht nicht im Angebot. An den Abenden tauchte das jeweilige Mittagessen mit dem Zusatzvermerk „aufgewärmt“ meistens nochmals auf.

Einer der letzten Gutsherren in Dorf Mecklenburg war ein ehemaliger kaiserlicher Vizeadmiral; während des Kappputsches bangte er um seine Alleinherrschaft über Land und Leute und rief, um einen Streik zu verhindern, das berüchtigte Freikorps Roßbach aus Schwerin zu Hilfe. Die Junkersoldaten holten den Streikführer, den kommunistischen Tagelöhner Franz Slomski, aus seiner Kate und schossen ihn nieder.

Nach 1945 arbeiteten 26 Neubauern auf dem an sie aufgeteilten Boden zunächst gemeinsam, die Großflächen und Stallungen; der darin konzentrierte Tierbestand und die übernommenen Geräte zwangen dazu. Allmählich ging man zur Einzelwirtschaft über, doch die Erfolge blieben aus. Verschiedene Neubauern gaben aus Altersgründen auf, andere waren aus Fremdberufen gekommen und fanden sich in der Landwirtschaft nicht zurecht, manchen lockte auch der industrielle Aufschwung im nahen Wismar. Erst 1955 entschloss man sich in Dorf Mecklenburg zur Gründung einer LPG.

Dass später diese Genossenschaft mit ihren Erfolgen bei der Gemüse-, Getreide-, Rüben- und Futterproduktion, mit den modernen Wohnblocks und Einfamilienhäusern, mit den Sport- und Kulturstätten, mit der „Mecklenburger Mühle“ und der „Traditionsstätte“ bekannt und geachtet war, hatten die Dorfbewohner vor allem durch ihren Fleiß, ihre Beharrlichkeit und ihre Einsatzfreude erreicht. Die Anstöße jedoch gingen überwiegend von zwei Männern aus.

Dr. Joachim Wieland, Landarbeitersohn aus Pommern, übernahm 1962 zunächst den Vorsitz der LPG Bad Kleinen und nach dem Zusammenschluss mit der LPG Dorf Mecklenburg die Leitung der nunmehr 8 500 Hektar umfassenden Genossenschaft. Bis zu seinem Tod blieben ihm nur zehn Jahre, in denen mehr verändert wurde als in hundert Jahren zuvor. Joachim Wieland war ein besonnener Mann, ein nüchterner Planer und kühler Rechner, ein erfahrener Fachmann, ein Leiter, wie ihn die Genossenschaft brauchte. Die LPG Dorf Mecklenburg wurde zum Vorzeigeobjekt für das neue mecklenburgische Dorf.

Ihm zur Seite standen nicht nur die Bauern seines Dorfes, sondern auch der Direktor des benachbarten VEG Groß Stieten, Erich Tack. Er, Landarbeitersohn und zunächst selber Landarbeiter, hatte schon 1951 die Leitung des Volkseigenen Gutes übernommen und in dieser Pionierzeit vieles ausprobiert, bis sich der Betrieb auf Tierzucht spezialisierte und hierin sehenswerte Erfolge erreichte. Erich Tacks Optimismus und Aktivität überwanden so manche Schwierigkeit. Erfolge waren für ihn stets nur Anlass für neue Pläne, die nicht nur auf höhere Produktionsergebnisse zielten. Er liebte das Leben und wollte dessen Annehmlichkeiten auch den Bauern zugänglich machen. Die Kinder in Groß Stieten haben ihre eigene Schwimmhalle, die Jugendlichen ihre eigene Berufsschule, die Großen ihre Reitsportgruppe, ihr Blasorchester, ihren Segelklub und anderes mehr. Auch der Ausbau der „Mühle“ und der Aufbau der „Traditionsstätte“ erfolgten nach Erich Tacks Anregungen.

Es lohnt sich also, in Dorf Mecklenburg eine etwas längere Pause einzulegen, nicht nur wegen der vielversprechenden Speisekarte der Gaststätte „Mecklenburger Mühle“, sondern auch wegen der historischen „Speisekarte“ der Gesindeköchin und andere Merk- und Denkwürdigkeiten, mit denen das Agrarmuseum in der Halle und im Freigelände aufwartet.

Und wer den Weg zum alten Burgwall nicht scheut und über die Vorstellungskraft verfügt, durch die Jahrhunderte zurückzublicken, dem werden jene Zeiten lebendig werden, von denen ein Chronist 1230 schrieb: „Der Slawenherrscher Niklot ... hatte eine Burg in den Sumpf bauen lassen, welche die Slawen Lubow, die Deutschen jedoch Mikelborg nannten.“

Die letzte Fahrt der „Cap Arcona“. Das Ehrenmal am Tannenberg in Grevesmühlen

Der Ortsfremde verhält seinen Schritt, wenn er während des Spaziergangs im Grevesmühlener Erholungspark „Tannenberg“ auf eine Gedenkstätte stößt. Eine Inschrift im Halbrund der aus rotem Porphyr errichteten Mauer gibt Auskunft:

Am 3. Mai 1945 versenkten britische Bomber die ,Cap Arcona’ und die ,Thielbeck’ in der Lübecker Bucht. Von 7.600 Häftlingen aus 24 Nationen, die die Faschisten nach Räumung des KZ Neuengamme und anderer Lager auf diesen Schiffen gefangenhielten, fanden 7.000 wenige Tage vor der Beendigung des Krieges den Tod. 407 Opfer fanden hier ihre letzte Ruhestätte.“

Erschüttert und nachdenklich steht der Spaziergänger vor der Rasenfläche inmitten des Blumenrondells, erfasst die mitgeteilten Einzelheiten, die unvorstellbare Zahl der Toten und das Datum der Untat.

Aus den Berichten einzelner Überlebender ergibt sich das ungefähre Bild der damaligen Vorgänge. Drei Wochen vor Kriegsende, als die Fronten bereits quer durch Deutschland verliefen, ging ein Fernspruch des obersten SS-Führers Himmler an die Kommandanten aller noch existierenden Konzentrationslager: „Die Übergabe kommt nicht infrage. Das Lager ist sofort zu evakuieren. Kein Häftling darf lebendig in die Hände des Feindes fallen.“

So zogen Kolonnen ausgezehrter und geschundener Menschen in gestreiften Anzügen unter SS-Bewachung aus allen Himmelsrichtungen in jenes Reststückchen des „Großdeutschen Reiches“, das noch nicht von den Alliierten besetzt war. Wessen Kräfte versagten, wer nicht Schritt halten konnte oder zusammenbrach, wurde erbarmungslos erschossen. Leichen markierten die Wegspuren dieser Todeszüge. 4 000 Häftlinge waren von Stutthof bei Danzig in Marsch gesetzt worden, nur etwa 1 000 erreichten die Lübecker Bucht. Dorthin waren auch die Überlebenden des KZ Neuengamme bei Hamburg getrieben worden. In der Bucht lagen der 7 500 BRT große ehemalige Passagierdampfer „Cap Arcona“ und die „Thielbeck“ sowie die kleineren „Athen“ und „Deutschland“ vor Anker, von den Faschisten als schwimmende, in letzter Bedrängnis schnell zu vernichtende Behelfs-KZ vorgesehen. Schleppschuten, Leichter und die beiden kleineren Schiffe transportierten unablässig die Häftlinge vom Neustädter Ufer zu den Schiffsriesen. Auf der „Cap Arcona“ befanden sich am 29. April bereits 6 500 Häftlinge und 500 Bewacher. Und ständig kam neue Menschenfracht, bis die Schiffsräume und Gänge überquollen. Die Kranken und Verletzten waren sich selbst überlassen, Medikamente gab es nicht, als Verpflegung wurde warmes Wasser ausgegeben, in den abgeschotteten Großzellen fehlte jegliche Frischluft. Nur die Leichen wurden an Deck gebracht und lagen dort zwischen stinkenden Kotkübeln. U-Boote und Vorpostenboote umkreisten die Schiffe mit den Gefangenen. Alles deutete darauf hin, dass der Vernichtungsbefehl in letzter Minute ausgeführt werden würde. Schon in der Nacht des 2. Mai ertönten Salven und Detonationen, die Bewacher hatten Transportfahrzeuge torpediert und versenkt. Der „Athen“, die als Zubringer ständig zwischen Ufer und Liegeplatz hin und her pendelte, gelang es, unter weißer Flagge den bereits von den Briten besetzten Neustädter Hafen anzulaufen.

Am 3. Mai gegen 14.30 Uhr näherten sich britische Jagdbomber den ankernden Schiffen. Das Flakfeuer der Faschisten blieb wirkungslos. Und dann fielen die Bomben. Die „Thieleck“ ging infolge mehrerer Volltreffer in Flammen auf und sank innerhalb weniger Minuten; sie riss 2 600 Menschen mit in den Tod. Hier gab es keine Überlebenden, keine Zeugen, keine Ankläger.

Auch die „Cap Arcona“ brannte und war seitlich unterhalb der Wasserlinie aufgerissen. Die Flammen erfassten das hölzerne Oberdeck. Rauch, Glut und Hitze erfüllten die Gänge und drangen in die von der SS verbarrikadierten Räume unter Deck. Der Bananenbunker, vollgestopft mit sowjetischen Gefangenen, wurde zum Massengrab. Aus dem mit 600 Häftlingen belegten Krankenrevier rettete sich niemand. Die Munitionskammern explodierten und entfachten neue Brandherde. Panik brach aus. Häftlinge, Besatzungsmitglieder und SS-Leute stolperten durch Qualm und Feuer, über Tote und Verletzte, brachen zusammen oder erreichten das glutheiße Deck und sprangen ins maikalte Wasser, während sich das Schiff zischend und gurgelnd zur Seite neigte. Hunderte Arme reckten sich Hilfe suchend aus den Wellen. Die Fahrzeuge der Bewacher fischten auf, was Uniform trug, auf die um ihr Leben schwimmenden Häftlinge gingen Schüsse nieder. Nur wenige deutsche Fischer, die vor Ort kreuzten, widersetzten sich dem Morden und retteten einige Schwimmer, dabei das eigene Leben riskierend. Wer auf diese oder andere Weise das Ufer erreichte, wurde an den noch von den Faschisten gehaltenen Strandabschnitten erneut von den MG-Salven der SS empfangen, bis die vorstoßenden britischen Truppen das Gemetzel beendeten. Draußen auf dem Wasser hatten nur wenige überlebt, auf Wrackteilen schwimmend, an Trossen oder Ankerketten hängend, stundenlang in Kälte und Nässe ausharrend. Inzwischen war das Schiff in Seitenlage auf Grund gegangen, und die aus dem Wasser ragende Seitenwand wurde zur Rettungsinsel für einige Häftlinge, die das Grauen überlebt hatten. Sie wurden schließlich von britischen Booten übernommen. 7 000 waren verbrannt, zerfetzt, zertrampelt, erdrückt, erschossen, ertrunken.

Fünf Tage danach kapitulierte die faschistische Wehrmacht, war der Krieg zu Ende. Die Waffen schwiegen.

Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die ersten Opfer der „Cap Arcona“ an den Oststränden der Lübecker Bucht, auch an der Insel Poel, angeschwemmt worden. Dorfbewohner von Groß Schwansee und Barendorf bargen die Toten und setzten sie auf den Friedhöfen bei. Doch die westlichen Winde und die Strömung warfen immer wieder Leichen an den Strand. Einige der Toten wurden unmittelbar am Ufer bestattet, andere fanden unter den Bäumen des Gutsparks ihre vorläufige Ruhe. Zögernd, über Monate, sogar über Jahre hinweg, gab das Meer seine Opfer frei. Schließlich richtete man für die insgesamt 407 Toten dort, wo die meisten von ihnen gefunden worden waren, einen kleinen Gedenkfriedhof ein. Ein schlichtes Birkenkreuz und ein einfacher Staketenzaun kennzeichneten ein Jahrzehnt lang den Platz am Ufer der Bucht. Wegen der ständigen Verwüstungen durch Schwemm- und Flugsand, durch Wind und Meer und wegen der abseitigen Lage entschloss man sich 1954 zum Bau einer Gedenkstätte in der Kreisstadt Grevesmühlen und zur Umbettung der Toten.

Ein breiter, mit Splitt verfestigter Weg führt aus einer Senke des Parks zum Mahnmal. Neben den Stufen, die zur Grabstätte emporleiten, steht ein Steinblock mit dem Symbol der VVN, dem auf der Spitze ruhenden Dreieck. Ein Halbkreis aus roten Porphyrquadern schließt den Ehrenfriedhof ab. Darüber rauschen hohe Bäume. Der Lärm der nahen Verkehrsstraßen, die Geräusche der spielenden Kinder aus dem Park dringen nur schwach bis hierher. Stille herrscht an der letzten Ruhstätte der Opfer der „Cap Arcona“.

An bestimmten Tagen im Jahr, am 3. und 8. Mai sowie am 11. September ändert sich dieses Bild. Auf dem Weg zum Mahnmal sammeln sich die Menschen, schreiten in langem Zug über den knirschenden Splitt - Bürger der Stadt und der Umgebung, Delegationen aus Betrieben und Organisationen, Schulklassen und Sportler. Unter die in der Mehrheit jüngeren Teilnehmer mischen sich alljährlich einige ältere Männer, die an diesen Gedenktagen immer wieder hierher kommen. Es sind die letzten Überlebenden der „Cap Arcona“, die ihre toten Freunde und Leidensgenossen, ihre unbekannt und ungenannt gebliebenen Mitkämpfer ehren - „den Lebenden zur Mahnung“.