Impressum

Ulrich Völkel

Bonjour citoyen

Roman um Georg Büchner

 

ISBN 978-3-95655-528-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2010 im René-Burkhardt-Verlag Erfurt.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Vorrede des Autors nach 20 Jahren

Diesen Roman habe ich in den Jahren 1987 bis 1989 geschrieben. Mein damaliger Lektor, ein sehr freundlicher und aufrichtiger Mann, wusste manchmal nicht, ob er mir die Sache ausreden oder ob er mich ermuntern sollte, das Buch zu Ende zu bringen. Der Roman, darüber war ich mir im Klaren, würde in der DDR nicht erscheinen. Und ihn anderswohin zum Druck geben wollte ich damals nicht.

Mit der Geschwindigkeit der sogenannten Wende hatte niemand gerechnet, weiter westlich noch weniger Leute als hierzulande. Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, einen anderen Verlag zu finden. Das Thema war durch. Endgültig. Dachte ich.

Nach mehr als 20 Jahren nahm ich mir das Manuskript noch einmal vor. Eigentlich war es eher Neugier als die Absicht, es erneut mit einem Verlag zu versuchen.

Und dann verfolgte ich eine Diskussion im Fernsehen über die DDR von Leuten, die nicht in ihr gelebt hatten, und von Leuten, die in einer anderen DDR gelebt haben müssen. Vielleicht, dachte ich, könnte ich mit meiner Geschichte dazu beitragen, dass der eine oder andere ein Gespür dafür bekommt, was in einem vorgegangen ist, der dieses Land DDR gewollt hat - nicht so, wie es geworden ist, aber so, wie er meinte, dass es hätte werden sollen. Und der mit Bitternis erleben musste, wie katastrophal er sich geirrt hat.

Ich habe diese 20 Jahre gebraucht, um Abstand zu gewinnen und eine gewisse Form von Freiheit, die vor allem darin besteht, dass ich mich an meiner Frau, an meinen Kindern und an meinen Enkelkindern wieder freuen kann. Und an ein paar wenigen Freunden. Das ist sehr viel. Ich denke an einen Titel von Willi Bredel: „Die Enkel fechten’s besser aus.“ - Schön wär’s.

Ich habe an dem Manuskript wenig geändert. Vor allem sind es Kürzungen von Passagen, die des aktuellen Zeitbezugs bedurften, um verstanden zu werden, und des Landes, in dem ich lebte. Ich entdeckte Sätze, die mit Literatur wenig zu tun hatten, weil ich Dinge installieren wollte, die damals keine Zeitung gedruckt hätte. Es war häufig so, dass in der DDR Bücher Furore machten, weil in ihnen etwas stand, was anderswo nicht zu lesen oder zu hören war. Das gereichte der Literatur - und besonders den Literaten - schließlich zum Schaden, obwohl es dem einen oder anderen Leser geholfen haben mag.

Ich weiß nicht, ob es noch jemanden gibt, der dieses Buch lesen will. Ich hoffe es aber.

Ulrich Völkel

Weimar 2010

1. Kapitel

Merkwürdigerweise fragte sich Lukas Stadl erst jetzt, da er die Landesgrenze überfuhr, warum ausgerechnet ihm das HESSISCHE STAATSTHEATER in Darmstadt den Vorschlag gemacht hat, ein Stück über Georg Büchner zu schreiben; ihm, keinem Autor aus dem eigenen Stall, keinem bundesdeutschen Dramatiker, sondern einem, wie man dortzulande umschrieb ostdeutschen oder - verbindlicher - mitteldeutschen Autor.

Die Frage war ihm sogar gestellt worden, im Zentralvorstand des Schriftstellerverbandes nämlich, wo er die Unterlagen und den Reiseantrag hatte einreichen müssen. „Was glaubst du, Kollege Stadl, warum man in Hessen ausgerechnet auf dich verfallen ist, um sich ein Stück über Georg Büchner schreiben zu lassen?“

Worauf er in gemessener Wut geantwortet hatte: „Auf wen hätten die sonst kommen sollen?“

Wäre er gefahren, wenn er alles gewusst hätte? Er wäre. Aber um ein ganzes Ende gescheiter.

„Sehr geehrter Herr Stadl“, hatten sie geschrieben, „aufmerksam geworden durch Ihre Antworten auf die Fragen des Interviewers, wie in dem Journal Zeit-Theater nachzulesen ist, interessiert natürlich auch durch Ihre Komödie über Bismarck ...“ - und so weiter, Honig ums Maul, Westhonig, und schließlich die Frage, ob er ihnen ein Büchnerstück schreiben würde aus Anlass des 150. Todestages des Dichters 1987.

Das Interview hatte in der DDR ein mäßiges Echo gefunden. Wer las schon Zeit-Theater. Vermutlich hatten es einige Leute überhaupt erst gelesen, nachdem bekannt geworden war, wo es bekannt geworden war. Lukas Stadl konnte sich eines schadenfrohen Grinsens nicht erwehren. Horst Sanftleben, Sekretär der SED-Bezirksleitung, hatte ihn besucht, nachdem das Neue Deutschland eine wohlwollende Rezension zu seiner Komödie veröffentlicht hatte, die allerdings nicht in einem Theater seines Heimatbezirkes, sondern in Thüringen uraufgeführt worden war und nachgespielt wurde in Brno. „Das ist eine sehr gute Kritik“, hatte Sanftleben gesagt.

„Es ist ja auch ein sehr gutes Stück“, war seine unwirsche Antwort.

Auf dem Gang war ein leises Klingeln zu hören, das näherkam. Stadl saß allein im Abteil. Er beugte sich vor und sah einen Mann in sattgelber Jacke, der einen mit Getränken und Snacks beladenen chromblitzenden Wagen durch den Gang schob. Der Kellner öffnete die Abteiltür und fragte höflich, ob der Herr etwas zu essen oder zu trinken wünsche.

Stadl rechnete. Ein Kännchen Kaffee kostet vier Mark und achtzig Pfennige. West. „Einen Kaffee bitte, schwarz, ohne Zucker.“ Da blieben von Tantes 20 Mark noch fünfzehn übrig. Das war leichtsinnig, doch er hatte das Gefühl, der Zugkellner könnte ihn für einen armen Schlucker halten, und als solcher wollte er, verdammt noch mal, nicht gelten in diesem Land. Der Kaffee schmeckte bitter.

Was steckte hinter dem Antrag des hessischen Theaters? So selbstverständlich, wie er die Einladung im Zentralvorstand hingestellt hatte, war sie natürlich nicht. Und nun meldeten sich die ersten Bedenken, ob es nicht besser gewesen wäre, freundlich zu danken, aber bestimmt abzulehnen. Freilich, ein Stück über Georg Büchner zu schreiben reizte ihn schon. Georg Büchner - das ist ein gewaltiger Stoff!

Aber war das Unterfangen nicht zu groß für ihn? Trieb ihn Eitelkeit mehr, als Ehrlichkeit gegen sich selbst ihn bremste? Lukas Stadl spürte, wie ihm die Hände feucht wurden. Es konnte aber auch an dem kräftigen Kaffee liegen.

Er stand auf und trat ans Fenster, um es zu öffnen, doch das gelang ihm nicht. Der Zug war klimatisiert, die Scheibe fest. Er trat auf den Gang hinaus und begab sich gemächlichen Schrittes zur Waschkabine. Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht. Na, Lukas Stadl, pass auf, dass du dem Klassenfeind nicht ins Messer läufst!

Als er in sein Abteil zurückkam, saß ein junger Mann auf dem Platz gegenüber. Er nickte ihm zu, leicht erstaunt, denn der Zug hatte seit der Grenze nicht wieder gehalten. Stadl blickte aus dem Fenster. In der Scheibe spiegelte sich das Gesicht des Fremden, der ihm irgendwie bekannt vorkam.

Blondes, volles Haar über einer hochgewölbten Stirn, die Brauen gleichfalls blond, die Augen grau, eine gerade, starke Nase, über dem kleinen Mund ein blondes Bärtchen, das Gesicht oval und von frischer Farbe. So hatte es in der Beilage zum „Frankfurter Journal“ gestanden. Alter: 21 Jahre. Größe: 6 Schuh, 9 Zoll Hessischen Maases. Der Steckbrief, mit dem Georg Büchner gesucht worden war, weil er sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indicierten Theilnahme an staatsverräterischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen hatte. Alter und Größe stimmten nicht überein, aber sonst - welch frappierende Ähnlichkeit!

Der Zug fuhr in eine Kurve. Das Gesicht auf der Scheibe verschwand. Lukas Stadl blickte zu dem Mann, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Er wollte dessen Stimme hören und die seltsame Szene verscheuchen. „Sagen Sie bitte, wir haben die Grenze längst passiert, aber noch ist kein Zöllner oder Grenzbeamter gekommen.“

Der Mann betrachtete ihn aus seinen kurzsichtigen Augen und um seinen Mund spielte ein herablassendes Lächeln. „Wenn man von Schleswig-Holstein nach Niedersachsen fährt, wird man auch nicht kontrolliert.“

„Das ist doch wohl ein Unterschied!“, betonte Lukas Stadl mit Nachdruck.

„Ja?“ Der Mensch nahm seine Zeitung wieder auf. Er hatte sie so gefaltet, dass nicht zu sehen war, um welches Blatt es sich handelte. Das Neue Deutschland war es gewiss nicht.

Lukas Stadl ärgerte sich, die Frage gestellt zu haben. Beim ersten Bahnhof verließ der Mensch grußlos das Abteil, während Stadl grübelte, wann und wo der eigentlich zugestiegen und warum er ausgerechnet in sein Abteil gekommen war. Unheimliche Erscheinung. Dann nahm er sich eine Zigarette aus dem Päckchen. Er hatte zu Hause auf dem Bahnhof eine Schachtel HB gekauft, die er sonst nicht rauchte, und war, als er sich dessen bewusst wurde, wütend auf sich. Wer H sagt, muss auch B sagen: HB. Jetzt eine Karo haben oder eine alte Juwel! Er blies den Rauch verärgert ins Abteil.

2. Kapitel

Der Zug lief pünktlich in Darmstadt ein. Das Theater hatte ihm mitgeteilt, in welchem Hotel er wohnen würde und den Weg beschrieben. Wenn er den Koffer auf dem Bahnhof einschloss, ließe sich das Hotel zu Fuß erreichen. Er war öffentlichen Verkehrsmitteln in einer fremden Stadt gegenüber skeptisch. Ein Taxi konnte er sich nicht leisten.

Lukas Stadl stieg aus dem Zug und blickte sich um. Er hätte schwören können, dass es hier anders roch als auf Bahnhöfen daheim. Ihm wäre lieber, er hätte alles vorgefunden, wie er es kannte. Und dies nicht, weil er es für besser hielt, wie es zu Hause war, aber es war sein Zuhause. Scheiß Paris, dachte er, Ringelnatz lässt grüßen.

Ein Mann kam direkt auf ihn zu. Er trug ein kleines Schild am Jackenaufschlag: Hessisches Staatstheater. Das enthob Lukas Stadl der Frage, was mit dem Koffer geschehen solle. Und es schaffte ein Gefühl von Vertrautheit in der fremden Stadt der fremden Welt. Er wurde abgeholt.

„Herr Stadl?“

Er nickte. „Ja.“

„Schubak. Ich bin Ihr Dramaturg. Willkommen in Darmstadt. Sie hatten eine angenehme Reise?“ Er reichte ihm die Hand. Dann bückte er sich nach dem Koffer, den er die Treppe hinauftragen wollte. „Ich habe den Wagen mit.“ Lukas Stadl protestierte. Er könne sein Gepäck durchaus selbst tragen.

Joseph Schilpe hatte ihm das erzählt. Joseph war schon in der halben Welt gewesen. In Boston hatte ihn ein - ja, wie sagt man korrekt zu einem Schwarzen? - also ein farbiger Amerikaner, ein dunkelhäutiger Taxifahrer jedenfalls angefaucht, als er seinen Koffer selbst in die Hotelhalle tragen wollte. „That’s my job!“ Man muss umdenken. Er ließ Schubak den Koffer tragen.

Sie fuhren die kurze Strecke zum Hotel. Schubak erklärte, was rechts und links zu sehen war, die Hände kaum am Steuer. Der Dramaturg hatte eine leise, unaufdringliche Stimme. Da hielten sie bereits vor dem Hotel.

Schubak nahm den Koffer und trug ihn in die Hotelhalle. Man schien ihn an der Rezeption zu kennen. Der Schlüssel für den Gast wurde vom Haken genommen. Zimmer 314. Die Anmeldung? Das hat Zeit. Er bliebe doch zehn Tage.

„Sie werden sich etwas frisch machen wollen“, sagte Schubak. „Ich warte in der Halle. Dann können wir die erforderlichen Imponderabilien gleich hinter uns bringen. Kaffee?“

Ein Hotelpage trug den Koffer zum Lift.

„Überredet“, antwortete Stadl locker. Leise summend öffnete sich die Lifttür. Gediegene Atmosphäre. Beruhigendes Rauschen. Freundlicher Glockenton. Die dritte Etage. Der Page trug den Koffer zum Zimmer, schloss auf, ließ dem Gast den Vortritt, stellte das Gepäck ab. „Haben Sie bestimmte Wünsche, Herr Stadl?“

Er meinte, den Sinn der Frage begriffen zu haben. Bakschisch, hatte der häufig dienstreisende Schilpe gesagt, überall musst du Bakschisch geben und kannst es auf keiner Reisekostenabrechnung belegen. Lukas Stadl griff in seine Tasche. Die letzten fünf Mark, weil er sich noch einen zweiten Kaffee und eine Wurst im Zug geleistet hatte. Er hatte es nicht kleiner. Wechseln lassen ging schlecht. Er gab das Geldstück mit einer großen Geste. Mit fünf Mark sind Sie dabei. Und war pleite.

Allein, sah er sich prüfend im Zimmer um. Es gefiel ihm. Er öffnete die Tür zum Bad, hellgrün gefliest, Ton in Ton. Er spülte die Hände ab und probierte das Eau de Cologne von der Konsole. Schubak, fragte er sich. Kenne ich den Namen irgendwoher? Freundlicher Mensch. Ihr Dramaturg. It’s my job. Die Bilder liefen ihm durcheinander.

Er verließ das Zimmer. Der Lift brachte ihn nach unten. Schubak hatte in der Halle einen Platz nahe der großen Scheibe zur Straße hin ausgesucht. Der Kaffee stand bereits auf dem Tisch, zwei große Cognac dazu. Schubak erhob sich und nahm erst wieder Platz, als Lukas Stadl saß. Höflichkeit? Unterwürfigkeit? Es gefiel ihm.

Der Dramaturg ergriff sein Glas und prostete Lukas Stadl zu. „Herzlich willkommen im Wilden Westen!“ Spott oder Spaß?

Der Cognac tat ihm gut. Er setzte sich bequemer in den Ledersessel und harrte der Dinge, die als Imponderabilien angekündigt worden waren.

„Professor Beuel erwartet Sie morgen gegen zehn Uhr, wenn es Ihnen recht ist. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit. Waren Sie schon einmal in der Bundesrepublik?“

Er war noch nicht. Die Verunsicherung machte sich wieder bemerkbar. Ich bin ein Exot für sie, dachte Stadl. Ich soll ausgestellt werden. Damen und Herren, Sie sehen hier einen aus dem Osten. Keine Angst, er tut Ihnen nichts. Wir haben ihm einen hübschen Käfig gebaut. Füttern erwünscht. - Oder bildete er sich das alles nur ein?

„Wenn Sie, bitte, quittieren würden, Herr Stadl?“ Schubak legte ihm einen Zettel und einen Briefumschlag hin.

Fünfhundert Mark? „Wie komme ich dazu?“, fragte er erstaunt.

„Sie müssen doch liquide sein, Herr Stadl“, erklärte er geradezu entschuldigend. „Sie sind unser Gast. Das Hotel geht natürlich auf unsere Kosten. Ein Vorschuss, der selbstverständlich verrechnet werden kann bei Vertragsabschluss. Wenn Sie darauf bestehen.“

Es wäre ihm entschieden lieber gewesen, wenn er hätte sagen können, dass er das Geld vorerst nicht brauche, er habe auf der Staatsbank ausreichend umgetauscht. Reisegeld? - hatten sie im Vorstand erstaunt gefragt. Sei froh, dass Du ein Dienstvisum bekommen hast. Mehr geht nicht. Du wirst doch irgendwo eine Tante mit etwas Westgeld haben oder so. Er setzte seinen Namen unter die Quittung. Stolz muss man sich erst einmal leisten können.

Schubak tat, als habe er das kurze Zögern Stadls nicht bemerkt. Er ging schnell zu unverbindlichen Themen über, das Wetter, die Fahrt hierher, Floskeln. Und unerwartet die Frage: „Sie haben mir die Sache von damals hoffentlich verziehen, Herr Stadl? Ist außerdem verjährt. Wir sind alle Heißsporne gewesen.“

Da fiel es ihm ein. Schubak, natürlich, Wilhelm Schubak! Der Verriss auf seine Inszenierung von LEONCE UND LENA. Und da musste er plötzlich lachen. „Schubak! Entschuldigen Sie, mir war der Name wirklich entfallen, weil Sie seither Schubiak für mich hießen. Halten zu Gnaden!“ Es war ein befreiendes Lachen. Der Druck löste sich endlich, der die ganze Zeit auf ihm gelastet hatte. Lukas Stadl legte die Rolle ab und war wieder er selbst.

Der Dramaturg lächelte schief. „War damals eben so. Trinken wir einen darauf?“ Sie waren alte Bekannte. Sie hatten sich zwar nie persönlich getroffen, aber sie hatten ein Stück gemeinsame Geschichte. Dass die irgendwann einmal auseinandergedriftet sein muss, war ihm noch gar nicht bewusst.

Als sich Schubak verabschiedete, war die Zeit für einen Stadtbummel schon zu fortgeschritten. Lukas Stadl sah noch, wie der Dramaturg in seinen Wagen stieg, nach vier Cognac. Er hätte sich jetzt nicht einmal mehr auf ein Fahrrad gewagt. In der Brusttasche seines Jacketts knisterte der Briefumschlag mit den fünfhundert Mark West. Sie wollen es schließlich verrechnen, sagte sich Lukas Stadl. Und im Übrigen haben sie mich eingeladen.

In sein Zimmer zurückgekehrt, fühlte er sich bereits etwas heimischer. Er nahm sich Zeit, die Einrichtung zu taxieren. Es war kein erstklassiges Hotel, aber ein gediegenes. Der Zimmerpreis ließ ihn die Augen heben, einhundertzweiundvierzig Deutsche Mark, allerdings einschließlich Frühstück. Das ist die Gelegenheit, hatte ihm Joseph Schilpe auf den Weg gegeben, sich ordentlich satt zu essen, um das Geld für ein teures Mittagessen zu sparen. Fünfhundert Mark sind hierzulande kein Vermögen.

Er nahm die Wäsche aus dem Koffer und legte sie in den Einbauschrank im Vorraum. Den Inhalt seines Reisenecessaires stellte er auf die Konsole im Bad und in den Spiegelschrank. Er ließ Wasser in die Wanne laufen und schüttete den bereitstehenden Badezusatz hinein.

Er hätte müde sein müssen, aber er fühlte sich hellwach. Er dachte unvermittelt an Johanna. Wenn ich um diese Stunde ein Gespräch anmelde, müsste es eigentlich bis dreiundzwanzig Uhr durchgestellt sein. Um diese Zeit ist sie meistens noch wach. Er nahm den Hörer auf und wählte die Hotelzentrale an, der er seine Nummer von zu Hause und die seines Hotelzimmers nannte. „Wird es länger dauern?“, fragte er vorsichtshalber.

„Wieso?“, klang es leicht pikiert zurück, als habe er Trägheit unterstellt. „Ich verbinde Sie. Außerdem können Sie von Ihrem Zimmer aus direkt anwählen.“

Ehe er begriffen hatte, meldete sich Johanna am anderen Ende der Leitung. „Stadl.“ Es schwang die Frage mit, wer um diese Zeit noch anrufe.

„Hier auch.“

Kurzes Schweigen. „Lukas? Ist was passiert? Von wo rufst du an?“ Johanna war hörbar verunsichert.

„Aus meinem Hotelzimmer. Ich bin gut angekommen.“ Er musste erst einmal den Kloß hinunterschlucken. Johannas Stimme tat ihm gut. „Wie geht es dir?“

„Du verrückter Kerl, mich so zu erschrecken! Gut natürlich. Hast du drüben im Lotto gewonnen, dass du mich anrufen kannst?“

„Ich liebe dich, Johannamädchen“, sagte er mit belegter Stimme.

Wieder kurzes, erstauntes Schweigen. „Bist du allein im Zimmer?“, fragte sie misstrauisch.

Er lachte zufrieden. Die Überraschung war ihm gelungen. Um das Gespräch nicht zu teuer werden zu lassen, erzählte er ihr schnell das Wichtigste in wenigen Sätzen. „Morgen schreibe ich dir ausführlich, ja?“ Er gab ihr einen Kuss durchs Telefon, den sie erwiderte. Dann legte er den Hörer vorsichtig auf die Gabel zurück und betrachtete ihn noch einige Sekunden gedankenverloren. Schließlich zog er sich aus und stieg in die Wanne. Er hatte Sehnsucht nach Johanna.

Er genoss das Bad. Hinterher frottierte er sich kräftig. Aber als er seinen Pyjama angezogen hatte, verspürte er keine Lust, ins Bett zu gehen. Er setzte sich in den bequemen Sessel gegenüber seinem Schreibtisch und musterte wie aus großer Entfernung, indem er die Augen zu schmalen Schlitzen verengte, die Einrichtung seines Zimmers. Das Bett. Der einfache Sekretär. Die Lampe. Der Klubtisch mit zwei Stühlen. Ein farbiges Bild an der Wand. Schwere Gardinen vor dem Fenster. Dezent gemusterte Tapete. Dicker Teppich. Und ganz langsam veränderte er das Interieur des kleinen Raumes.

Zuerst musste das Bett verschwinden. Er stellte ein Kanapee aus der Biedermeierzeit hin, kurze Dackelbeine, die beiden Armstützen und die Rückenlehne leicht geschwungen, nussbraunes Holz, dunkelroter Samtbezug. An die Stelle des Klubtisches mit der Glasplatte setzte er einen großen ovalen nussfarbenen Tisch mit glatten, sich nach unten verjüngenden Beinen, auf den er eine damastene Decke legte, darauf eine Obstetagere. Um den Tisch gruppierte er hochlehnige Stühle, die Vorderbeine etwas ausgestellt, die mittleren Streben der Rückenlehnen handgeschnitzt, die Sitzflächen hoch gepolstert und ebenfalls mit rotem Samt bezogen.

Ein Gläserschrank natürlich, Rokoko, die Front gewölbt. Darauf wäre Johanna zuerst gekommen. Er passte nicht ganz in die Zeit, aber Büchners waren vermögende Leute, gut situiertes Bürgertum. Vielleicht war der Schrank ein Erbstück. Auf einem schlanken Piedestal eine rankende Pflanze.

Eine Standuhr mit langsam schwingendem Pendel. Wie spät mochte es sein? Man hatte bereits zu Abend gegessen. Der Hausherr setzte seine lange Tabakspfeife in Brand und blätterte in einer Zeitschrift. Doktor Büchner hatte auf das Journal Unsere Zeit abonniert, in dem umfangreiche Beschreibungen der französischen Revolution veröffentlicht wurden. Er hatte eine Vorliebe für alles, was aus Frankreich kam. Und das im Großherzogtum Hessen des Jahres 1831! Ernst Karl Büchner war ein Frankophiler. Er hatte in der Armee Napoleons als Militärarzt gedient, worauf er noch immer stolz war, zehn Jahre nach dem Tod des Kaisers.

Er saß in gerader Haltung auf seinem Stuhl und war korrekt gekleidet, als habe er die Absicht auszugehen. Es kam vor, dass er noch zu später Stunde an ein Krankenbett gerufen wurde. Dann wollte er keine Zeit mit dem Anlegen passender Kleidung verlieren.

Doktor Büchner räusperte sich. Wollte der Hausherr etwas vorlesen wie alle Abende, wenn die Familie beisammensaß? Aber es war kein gewöhnlicher Abend. Georg, von allen französisch Georges genannt, der älteste der Büchnersöhne, sollte am nächsten Morgen nach Strasbourg aufbrechen, um dort sein Studium der Medizin zu beginnen; Straßburg, wie die Stadt seit dem Friedensschluss von Luneville wieder hieß.

Lukas Stadl ließ die Mutter ihre Handarbeit in den Schoß legen. Sie blickte mit wehmütig-stolzem Gesichtsausdruck zu ihrem Ältesten, der bemüht war, seine innere Erregung zu verbergen.

Georgs Schwester Mathilde, zwei Jahre jünger als er, ebenfalls mit einer Handarbeit beschäftigt, folgte dem Beispiel ihrer Mutter und legte den Stickrahmen beiseite. Mit Bewunderung sah Wilhelm zu seinem um drei Jahre älteren Bruder, den er sehr liebte und dessen Vertrauter er war. Louise, Ludwig und Alexander, die jüngeren Geschwister, hatten sich bereits von ihm verabschiedet und schliefen.

Das Bühnenbild war eingerichtet, die Darsteller hatten sich versammelt. „Geh mal mit dem gesamten Licht um zehn Grad runter!“, bat er den Beleuchter. Aber der hatte eine andere Idee. Er steckte gelbe Scheiben vor die Scheinwerfer, das gab ein warmes Licht. Der Regisseur war einverstanden. „Hast dir einen Groschen verdient!“, rief er nach oben. Lukas Stadl stand auf, löschte die grelle Deckenlampe und knipste die kleine Tischleuchte an. Gut so.

Das Stück hätte beginnen können. Dennoch zögerte Lukas Stadl. Noch wusste er zu wenig über seine Helden. Was wird Georg Büchner empfunden haben an seinem letzten Abend zu Hause in Darmstadt? Welcher Art ist seine Vorgeschichte? Natürlich kannte er Büchners Primaneraufsatz über den Helden-Tod der Vierhundert Pforzheimer. Sehr viel Pathos und sehr viel Gloriole, jedoch entschieden mehr politischer Verstand, als ein fleißiger Schüler des Pädagog bei seinen Lehrern gelernt haben konnte. Er las Fichte und Heine, rief sich Stadl ins Gedächtnis.

3. Kapitel

Er lag noch lange wach. Jedes Geräusch im Haus hallte auf besondere Weise wider, als stünden keine Möbel in den Zimmern und als hingen keine brokatenen Gardinen vor den Fenstern. Die Großmutter, la grand-mère, traktierte in der Beletage ihre Pochbrettgesellschaft mit herrischer Stimme. Zwar verstand er nicht, was sie sagte, aber er ahnte es. Dabei war es ihm stets ein Geheimnis geblieben, wie die fast blinde Frau überhaupt Karten spielen konnte, wenn sie nicht betrog. Er sah sie in ihrer stolzen, aufrechten Haltung sitzen, ganz Rokoko, als sei die Zeit bereits in ihrer Jugend stehen geblieben; denn er hatte sie oft beobachtet, wenn sie ihre Damen zum abendlichen Spiel um den Kartentisch versammelte.

„Aber, Frau Hofkonditor, ich hatte den Buben!“, behauptete Liesel Schmus.

„Wie können Sie einen Buben haben!“, lautete die spitze Antwort von Henne Traubenblatt aus ihrer unendlichen Kattunhülle heraus. „Und selbst wenn, dann sollten Sie ihn wenigstens nicht ansagen.“

„Treff ist Trumpf!“, fuhr die Großmutter dazwischen und spielte aus, obwohl sie gar nicht an der Reihe war, wobei sie in ihrem unbekümmerten Französisch Boddschamper zischelte, was als pot de chambre zu erkennen einem Philologen zur Ehre gereicht hätte. Fein war die alte Dame nicht am Kartentisch. Liesel Schmus schluckte. Arm wie eine Kirchenmaus, konnte sie es sich nicht leisten, den Nachttopf mit einem cul de Paris, was bei ihr Kiddeparih gelautet hätte, zu quittieren; denn zum Schluss wurde immer noch ein kleines Nachtmahl serviert, um dessentwillen sie eigentlich kam.

Hörte das Georg Büchner oder träumte es Lukas Stadl aus Gelesenem zusammen? Die Nacht verbindet Zeitalter zu einer Sekunde.

Die Bilder verblassten. Das nüchterne Hotelzimmer trat wieder hervor. War ihm kalt geworden, weil er noch immer in seinem Sessel hockte wie der Regisseur vor seinem Pult im Zuschauerraum während der Probe? Oder ahnte er bereits, dass es die blanke Eitelkeit gewesen sein musste, ein Angebot zu akzeptieren, dem er wahrscheinlich gar nicht gewachsen war? Sie sollten DANTONS TOD spielen, pur, da hätten sie ihren Büchner. Warum noch ein Stück über ihn, das, und in diesem Punkt machte er sich nun wirklich nichts vor, unter Büchner bleiben musste. Es sei denn, und dabei hob er den Zeigefinger, als wolle er auf diesen Gedanken vor einem erlauchten Publikum nachdrücklich hinweisen, es sei denn, das Stück wird nicht einfach eine dramatisierte Biografie nach dem Strickmuster Unddannpassiertefolgendes. Die Zeitverhältnisse galt es zu begreifen und begreifbar zu machen. Und: Wie sich einer in ihnen verhält.

4. Kapitel

Lukas Stadl wachte zu gewohnt früher Stunde auf. Die Decke zur Seite, das Fenster weit geöffnet. Kalte, feuchte Herbstluft strömte ins Zimmer. Er atmete tief und genussvoll ein. Er spürte die Kühle angenehm prickelnd auf seiner Haut. Erst als ihn fröstelte, trat er in den Baum zurück und sah sich um, als wäre es wichtig, sich alle Details genau einzuprägen.

Wer kennt Georg Büchner. Ich nicht. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Soll Sokrates gesagt haben. Sagt Plato. Der eine zitiert den anderen, der Dritte stellt bereits eine Theorie auf, der Vierte leitet davon ab. So beginnen die Legenden, so entsteht das Haus der Desdemona, das es nicht und die es nicht gegeben hat. Wer macht sich die Mühe, noch einmal an die Quellen zurückzukehren?

„Büchner“, hatte Joseph Schilpe gesagt, „dann zieh dich mal warm an. Dort - wie hier. Um Georg Büchner haben sich Legenden gebildet, die über Jahrzehnte von einer Wissenschaftlergeneration, kaum modifiziert, an die nächste weitergegeben wurden.“

Das HESSISCHE STAATSTHEATER wollte ein Stück haben über Georg Büchner von ihm, Lukas Stadl, DDR, früher sogenannte DDR, in den Springer-Blättern noch lange mit Anführungsstrichen; Zone bei den ewig Gestrigen. Warum von ihm?

Im Darmstädter Echo hatte gestanden: Nächstes Jahr ist Georg Büchner 150 Jahre tot. Das wird entsprechend gefeiert werden in Darmstadt. Und mitten im Artikel ein schwarz eingefasster Kasten, der Tagesspruch: Sage mir, wer dich lobt, und ich sage dir, worin dein Fehler besteht. Wladimir Iljitsch Lenin. Stadl kannte dieses Zitat nicht, weshalb er es mit Vorsicht gelesen hatte. Die bringen es fertig, solche Sachen zu erfinden. Warum wollen sie ein Büchnerstück haben von mir? Warum von mir?

Er frühstückte. Joseph Schilpes Rat eingedenk, aß er reichlich. Jedoch misslang es ihm, ein weiteres Brötchen ungesehen in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen. Er scheiterte an der Größe des Backwerkes. Und an seinem Stolz.

Es war kurz nach acht Uhr, als er sich erhob. Professor Beuel, der Intendant, erwartete ihn in zwei Stunden. Es blieb genug Zeit für einen ersten Erkundungsgang in die nähere Umgebung des Hotels. Dafür hatte er eine besondere Methode entwickelt: Zuerst wanderte er die am weitesten rechts abbiegende Straße die rechte Seite hinauf bis zum Ende oder bis zu einer großen Kreuzung, sodann auf der linken Seite bis zum Ausgangspunkt zurück; danach die nächste Straße. Insgesamt fünf mündeten in den Platz vor seinem Hotel. Die verkehrsreichste hob er sich bis zuletzt auf.

Schaufenster wie weit aufgerissene Mäuler, die ihn anschrien: Das ist ein Überfall!

An einem Kiosk suchte er Ansichtskarten aus, Grüße an Johanna und ein paar Freunde, Joseph Schilpe unbedingt. Ob er eine an Horst Sanftleben in die Bezirksleitung der Partei schickte, eine möglichst freche? Er verkniff sich die Albernheit. Welch irres Angebot an Zeitschriften aller Couleur! Lukas Stadl stand vor STERN und SPIEGEL, während er zu PLAYBOY und PRALINE schielte. Schließlich wandte er sich der Verkäuferin zu. „Haben Sie einen Stadtplan von Darmstadt?“ Die Frage verriet seine Herkunft, was ihn sogleich ärgerte. „Möchten Sie einen für Männer?“

Himmel, wie die ihn anglupschte! Er hielt es für eine Anspielung, eine Aufforderung sogar. Da hob er die Augenbrauen und erwiderte schnell: „Wieso? Ihre Adresse könnte ich mir merken.“

Sie musterte ihn sehr von oben herab und sagte gnadenlos: „Vergiss es, Opa.“

Er legte die Karten zurück und ging grußlos davon. Plötzlich merkte er, dass er die Richtung verloren hatte. Rundum hoch aufragende Kaufhäuser, die ihre Tentakeln nach ihm ausstreckten wie seine Fangarme ein Polyp. SONDEBANGEBOT!!! Er hatte das Empfinden, die Gebäude rückten immer enger zusammen, jagten ihn, hetzten ihn, trieben ihn sich gegenseitig zu in ihre sperrangelweiten Glasmäuler. Sie schrien und kreischten und fauchten und hechelten ihm ihre Billigpreise in die Ohren: ... Mark und Pfennige ... fennige...ennige!

Er beschleunigte seine Schritte. Er öffnete den oberen Knopf seines Hemdes. Fort, fort! Da erreichte er, endlich, einen freien Platz. Nun konnte er wieder atmen.

Er blieb stehen. Sein Blick fiel auf das Schloss. Hier hatte zu Büchners Zeiten Großherzog Ludwig II. residiert. Da fiel ihm der HESSISCHE LANDBOTE ein.

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrscht über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache; aber das Folk liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben der Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tisch der Vornehmen.

Bevor er den freien Platz überquerte, betrachtete Stadl das Gebäude und wollte es sich als eine Zwingburg vorstellen. Es gelang ihm nicht. Etwas enttäuscht trat er durch eines der Tore in den Vorhof. Junge Leute begegneten ihm, Studenten. Ein Schild wies den Weg zum Staatsarchiv. Gut, das wusste er jetzt. In den nächsten Tagen würde er hier arbeiten. Schubak hatte ihn bereits avisiert.

Stadl blieb stehen und sah sich um. Die Schlosswände waren mannshoch mit großbuchstabigen Parolen besprayt. Er ging langsam weiter bis zum Innenhof. Auch hier Losungen. Da holte er sein Notizbuch aus der Tasche, setzte sich auf einen Treppenstein und schrieb.

Rote Nelken und DICH. - Nazis raus! - Türken raus! - Auch wir Deutschen sind Ausländer. Fast überall! - Solidarität heißt Widerstand im eigenen Land. - Jeder Mensch hat das Recht, jene zu töten, die ihn in seinen Rechten einschränken wollen.

Aber er las nirgendwo: Friede den Hütten! Krieg den Palästen! War der HESSISCHE LANDBOTE ein müder, abgestandener Aufsatz geworden, der keinen mehr anging? Hatte er nur noch historischen Wert? War denn, was einst existenzielle Grundforderung bedeutet hatte, inzwischen verwirklicht worden? Hierzulande?

Man spricht nicht mehr von Klassenkampf. Es gibt Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Arbeitgeber sind mitunter auch die Arbeitwegnehmer. Man redet von sozialem Konsens und sozialem Frieden, von Sozialstaat. Und wahrlich, er hatte es bereits auf dem kurzen Weg vom Hotel bis hierher gesehen: Die Läden barsten nachgerade vor undenkbarer Fülle. Ist man hier so außerordentlich fleißig und erntet den gerechten Lohn? Oder geschah das auf Kosten anderer? Wer geht hinter wessen Pflug? Und der Schweiß welcher Menschen gibt das Salz her für die Tische dieses reichen Landes? Auf welchen Äckern wird das Futter für das heimische Vieh geerntet? Solidarität heißt Widerstand im eigenen Land. Krieg den Palästen. Die Hütten stehen anderswo. Wie viel Arroganz gehört eigentlich dazu, das Wort von der DRITTEN WELT zu prägen. Und welche Dummheit, es einfach nachzuplappern, denn es setzt selbstverständlich voraus, dies hier sei die ERSTE WELT, obwohl es nur die EINE gibt.

Die Euphorie war dahin. Misstrauen grub sich immer tiefer in seine Gedanken. Er musste herausfinden, warum sie das Theaterstück von ihm haben wollten, und sich erst dann entscheiden. Wollten sie es nämlich, um ihn mit seinen Leuten daheim zu entzweien, mit denen er zufrieden nicht immer war, so schmisse er ihnen den Vertrag vor die Füße. Verdammich, die fünfhundert Silberlinge lagen ihm schwer in der Tasche.

Da sah er zur Uhr und erschrak. In fünfzehn Minuten erwartete ihn Professor Beuel. Er hatte keine Ahnung, wo sich das Theater befand; die ihm geläufige Beschreibung Schubaks bezog sich auf den Weg vom Hotel.

Schnell stand er auf und verließ den Schlosshof. Draußen sah er sich nach einem Taxi um. Er musste nicht lange warten. Ein Wagen fuhr auf sein Winken heran. Stadl stieg ein und sagte der Fahrerin: „Georg-BüchnerAnlage, bitte.“

Die Frau dreht sich um. Sie war jung und sah gut aus, trug überlange, blutrot lackierte Fingernägel. Sie war lässig gekleidet. Stadl musste an Joseph Schilpes dunkelhäutigen Taxifahrer aus Boston denken. Wozu würde diese Lady sagen: Das ist mein Job? Das stellte er sich vor, weshalb er zunächst nicht verstand, warum sie das angegebene Fahrziel als Frage wiederholte. „Georg-Büchner-Anlage? Wo soll das sein?“

„Intendanz des Hessischen Staatstheaters“, erklärte er verunsichert. Der Brief mit der genauen Anschrift lag in seinem Hotelzimmer.

Es gab einmal einen Georg-Büchner-Platz in Darmstadt. Der war umgebaut, vergrößert, unpersönlich geworden und heißt seither Karolinenplatz nach einer Prinzessin des gewesenen Großherzogtums. Nicht einmal die Taxifahrerin wusste, dass der Deckel der Tiefgarage des Theaters den Namen des großen Dichters trägt.

Es gibt keine Georg-Büchner-Straße in Darmstadt. Zwar führt eine Schule seinen Namen, aber nicht die, in welche er einst gegangen ist. Die Grafenstraße, in der seine Familie gewohnt hat und wo in größter Hast sein Drama DANTONS TOD entstanden war, heißt noch heute Grafenstraße. Es gibt eine Matthias-Claudius-Buche, schön. Aber eine Du-Thile-Eiche auch, benannt nach dem übel beleumdeten Innenminister aus Büchners Zeit. Kein Strauch, kein Stein erinnert an jenen Platz, wo Georg Büchner und seine Freunde von der durch ihn gegründeten Gesellschaft für Menschenrechte ihre Schießübung abgehalten haben, um für den bewaffneten Widerstand und die Befreiung der Gefangenen gewappnet zu sein.

Die Stadt, die Georg Büchner gekannt hat, existiert nicht mehr. Am 11. September 1944 haben anglo-amerikanische Bombengeschwader Darmstadt in Schutt und Asche gelegt. Der Krieg war von deutschem Boden ausgegangen und gnadenlos dorthin zurückgekehrt. In einer Nacht kamen zwölftausend Menschen ums Leben, völlig sinnlos. Friede den Hütten.

„Tatsächlich, da steht es“, sagte die Taxifahrerin. „Georg-Büchner-Anlage.“

Er zahlte, stieg aus und stand vor der Tiefgarage des Betonklotzes, der das HESSISCHE THEATER war.

„Zu Professor Beuel.“ Er nannte dem Pförtner seinen Namen. Der Mann an der Pforte wusste Bescheid. Schubak kam und begleitete ihn zum Intendanten.

„Na, gut geschlafen?“, fragte der Dramaturg. „Schnell noch ein Hinweis. Der Professor ist dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen. Er pafft eine Menthol nach der anderen. Rauchen Sie möglichst nicht, jedenfalls nichts anderes als Menthol.“

Theater sind sich alle gleich, dachte Lukas Stadl erheitert. Der Herr des Hauses ist der Herr des Himmels: Was ER tut, das ist wohlgetan. Er sah dem Treffen mit Gelassenheit entgegen. Spätestens in einer Stunde würde er wissen, warum sie in Hessen ausgerechnet auf ihn verfallen waren, Lukas Stadl, DDR.

5. Kapitel

Straßburg empfing Büchner trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit mit der unvergleichlichen Anmut eines Altweibersommers: ein wenig Melancholie, reife Frucht und fallendes Laub, laue Luft, ein sanftes Schwingen, die Zärtlichkeit eines Kusses. Er war hingerissen von dieser Stadt. In Straßburg lebte ein Cousin seiner Mutter, Edouard Reuß, Theologiedozent am Séminaire protestant, in dessen Haus er die ersten Tage wohnte. Dann bezog er sein Logis bei Pfarrer Jaeglé, einem Witwer, dessen Wirtschaft seine älteste Tochter Wilhelmine führte. Minna, wie sie gerufen wurde, zeigte ihm das Zimmer, an das er sich kurz vor seinem Tod in Zürich erinnerte. Rue Guillaume nro. 66, links eine Treppe hoch, in einem überzwergen Zimmer, mit grüner Tapete.

Er war andere Räumlichkeiten gewohnt, doch die Einfachheit sagte ihm zu. Vielleicht weil es Minna war, die ihm das Zimmer zeigte. La chambre est petite, mais très jolie. Klein und hübsch waren auch ihre Hände.

Am 9. November 1831 schrieb sich Georg Büchner als Student der Medizin in die Liste der Neuzugänge ein. Er war glücklich, wenigstens die ersten Semester in Straßburg absolvieren zu dürfen. Gedachte er der geistigen Enge seines hessischen Vaterlandes, überliefen ihn Schauer des Unwillens. Freilich war er so unbedarft nicht, dieses Mehr an Freiheit schon für die ganze Freiheit zu halten, dafür hatte sich das Bürgerkönigtum bereits viel zu fest installiert. Aber es herrschte ein anderer Geist hierzulande. Man musste sich nicht heimlich versammeln, um auch dann noch nur hinter vorgehaltener Hand das Wort Gleichheit zu flüstern. Und ihr Gruß, bonjour citoyen, der in Hessen eine Herausforderung war, hätte hier keinen erschreckt um sich blicken lassen.

Er traf Karl Minnigerode wieder, mit dem er schon in Darmstadt befreundet gewesen war, und der, wie die Zwillinge Zimmermann, wie Luck, Neuner, Koch und Nievergelder, zu jenen Mitverschworenen gehörte, die in ihrem Schülerzirkel Politik und Philosophie betrieben hatten.

Büchner gewann schnell neue Freunde hinzu. Die Brüder Stoeber, Jean-Moyse Lainbossy, Wilhelm Baum und Eugen Boeckel. Sie luden ihn zu den Versammlungen der EUGENIA ein. Das war keine der schlagenden Verbindungen, wo man sich bei martialischen Säbelfechtereien absonderliche Blessuren beibrachte, sondern ein eher unbekümmerter Verein, wie es die Satzung vorschrieb: Fröhliches Beisammenseyn, trauliches lehrreiches Gespräch, Gesang und holder Biergenuß. Eine Versammlung von Busenfreunden, Schmollis, wie sie sich selbst nannten, die im Wirtshaus ZUM DRESCHER ihr Stammlokal gefunden hatten.

Eugen Boeckel führte ihn in die Runde ein. Der neue Gast wurde bei fortgeschrittener Stimmung mit großem Hallo begrüßt. Und er musste sogleich eine Eignungsprüfung ablegen, die darin bestand, eine ganze Maß Bier ohne abzusetzen auszutrinken.

Büchner sah seinen Freund Boeckel an. Soll ich wirklich? Die Sache war ihm ein bisschen zu dumm. Aber Eugen gab ihm aufmunternd Bescheid. Also schluckte er, des Biertrinkens ungewohnt, den bitteren Gerstensaft hinunter, wovon er die erste halbe Stunde so benommen war, dass er, als er wieder zu Verstand gelangte, froh sein konnte, rechts und links gestützt zu werden, um nicht von der Bank zu fallen. In dieser Verfassung sang er das angestimmte Lied der EUGENIA nach der Melodie Hoch vom Olymp herab etc. mit, wobei er nach dem Refrain der vierten Strophe - Dem Armen, der irret im finsteren Land, Reichet, ihr Brüder, die rettende Hand! - der rettenden Hand Eugen Boeckels dringend bedurfte, um schnell den Ausgang zu finden, weil er zum Gotterbarmen kotzen musste.

Er spuckte und spie vier Strophen lang, sodass er, ins Lokal zurückgekehrt, gerade noch den Schlussrefrain mitbekam. Ja, feurig ertöne zum Himmel empor /Dreimal der rauschende Jubelchor! Und da war ihm tatsächlich, als habe er die Engel singen hören.

An diesem Abend stand Büchner der Sinn nach traulich lehrreichem Gespräch nicht. Auf dem Heimweg nahmen ihn Eugen Boeckel und Wilhelm Baum in die Mitte, obwohl ihn die frische Nachtluft bald wieder zu klarem Verstand brachte, wenn auch nicht gleichermaßen zu festen Knien.

hospes perpetuus

Plötzlich hatte Büchner das Empfinden, sie würden beobachtet. Irgendeine finstere Gestalt umschlich und belauschte sie. Waren die Geheimpolizisten des Großherzogs bereits hinter ihm her oder die Spitzel des Bürgerkönigs? Er bückte sich, als habe sich die Schnalle seines Schuhs gelöst. Dabei schielte er hinter sich. Da! Die Gestalt verschwand in einem Haustor.

„Was ist los? Läuft dir das Bier aus der Hose?“, spottete Wilhelm.

„Oder ziehst du dir die Schuhe aus, um leise die knarrende Treppe hochzusteigen, damit du nicht entdeckt wirst von Mademoiselle jolis pieds et jolies mains?“, setzte Eugen noch eins drauf.

Bei dem Gedanken an Minna musste er lächeln. Aber gleich war er wieder bei der Sache. Sie sollten sich möglichst unauffällig zu ihm herunterbeugen, flüsterte er. Als sie es endlich taten, teilte er ihnen seine Beobachtung mit. „Es ist uns jemand auf den Fersen!“