Impressum

Ulrich Völkel

Bergers Ehe

Roman

 

ISBN 978-3-95655-526-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Für meine Frau

1. Kapitel

Die erste Woche ihres Urlaubs auf Hiddensee ging zu Ende. Wie an allen Abenden spazierten Kurt und Katja Berger auch an diesem nach dem Essen hinüber zum kleinen Hafen, um zu sehen, wie die Schiffe von Stralsund kamen oder zurückfuhren dorthin. Die Tagesausflügler verließen die Insel. Wer auf dem Festland gewesen war, kehrte heim.

Überraschend für beide, hatte Katja diesen Ferienplatz auf der Insel Hiddensee für den August bekommen, allerdings nur für zwei Personen. Es wäre das erste Mal gewesen, dass sie ohne die Kinder fahren würden. Katja zögerte. Kurt sagte: «Frag deine Eltern. Richtigen Urlaub könnten wir schon mal gebrauchen.»

Sie blickte auf. War er es nicht, der sonst immer gesagt hatte, er habe viel zu wenig von den Kindern und wolle deshalb nicht auch noch im Urlaub auf sie verzichten? Wenn es nicht Hiddensee gewesen wäre, sie hätte den Platz zurückgegeben. Sie rief ihre Mutter an. «Natürlich nehme ich die beiden», sagte die. «Spannt mal richtig aus. Ihr könnt es gebrauchen.»

Katja brachte Rolf und Astrid nach Potsdam. Denen würden die Eltern nicht fehlen, das wusste sie. Ihr die Kinder dagegen sehr. Schon auf der Rückfahrt nach Peenow, allein im Auto, dachte sie mit einem unerklärlichen Schuldgefühl an sie, als ob sie die beiden verraten hätte. Unsinn natürlich, man konnte ihnen keine größere Freude machen, als sie drei Wochen zu den Großeltern zu geben. Dennoch, Katja empfand so.

Kurt begriff sie nicht. Er versuchte Katjas Bedenken zu zerstreuen und redete davon, wie gut es ihnen beiden täte, wirklich einmal Zeit füreinander zu haben. So alt seien sie noch nicht, dass ihnen außer Halma spielen nichts mehr einfiele, wenn sie allein wären. «Außerdem», meinte er, «gibt es nicht ein paar Dinge, über die wir mal in Ruhe miteinander reden sollten?»

Sie sah ihn überrascht an. Ja, die gab es. Und wenn er selbst das Gefühl hatte, dass in ihre Ehe zu viel Alltäglichkeit geraten war, dann konnte Hiddensee wirklich etwas Besonderes für sie werden. Katja lehnte sich an ihren Mann, der die Arme um sie legte. «Es wird uns guttun, Mädchen, bestimmt.»

Den Wagen stellten sie in Stralsund auf den Parkplatz. Viel Gepäck hatten sie nicht mitgenommen. Um acht Uhr legte das Schiff ab, das sie auf die Insel bringen sollte. Sie genossen die Überfahrt. Blickten sie nach vorn, sahen sie die Insel Rügen. Linker Hand, noch unscharf, tauchten die Höhenzüge Hiddensees aus dem Wasser. Schauten sie zurück, versank die reizvolle Silhouette Stralsunds im Meer. Die Kuppeln der Kirchen blinkten in der Morgensonne. Eine leichte Brise wehte den Fahrgästen ins Gesicht.

Sie waren zum Vordeck gegangen. Es bedurfte nicht vieler Worte, um einander mitzuteilen, wie tief sie die Bilder in sich aufnahmen und wie groß ihre Freude auf den Urlaub war.

Das Schiff steuerte in einem großen Bogen Neuendorf an. Auf den Pfählen, die die Fahrrinne markierten, saßen Möwen, die, näherte sich ihnen der tuckernde Dampfer, mit lässigen Flügelschlägen abhoben, um sich dem kreischenden Pulk anzuschließen, der ständig das Schiff umkreiste. Sie schnappten Kekse und Wurstreste im Fluge auf, jagten einander die besten Stücke ab und segelten gemächlich zurück auf ihren Pfahl.

Der Dampfer machte in dem kleinen Hafen von Neuendorf fest. Die Insel war an dieser Stelle so schmal, dass man glaubte, die andere Seite mit einem Steinwurf erreichen zu können. Das Land lag flach, als wäre es gerade aus einer Welle aufgetaucht und würde von der nächsten wieder überflutet werden.

Den Häusern des kleinen Fischerdorfes sah man den neu erworbenen Reichtum ihrer Besitzer an. Was vor Kurzem noch Ställe oder Scheunen gewesen sein mochte, hatte jetzt einen hellen Anstrich erhalten und war mit großäugigen Fenstern versehen. Es gab keine festen Straßen in Neuendorf. Man hatte den Eindruck, die Häuser wären von der Hand eines Riesen ausgestreut, so unregelmäßig standen sie beisammen.

Halbwüchsige waren mit zweirädrigen Karren gekommen, um den Urlaubern ihre Koffer in die Quartiere zu fahren. Ein einträgliches Geschäft. Das Geld saß den Inselbesuchern bei der Ankunft locker. Kurt hob den Koffer und die Reisetasche auf ein solches Gefährt, sagte dem Jungen, wo sie wohnen würden, und gab ihm zwei Mark. Der nickte, bedankte sich aber nicht, sondern lud noch weitere Gepäckstücke auf und schob den Karren wortlos davon.

Sie ließen sich den Weg zur Einweisungsstelle zeigen, bezahlten die Kurtaxe, mieteten einen Strandkorb, erhielten ihre Essenbons und konnten dann das Zimmer beziehen. Es befand sich im Anbau eines Hauses, das kleiner war als der Anbau selber.

Sehr geräumig war das Zimmer nicht, die Einrichtung dürftig. Das Wasser floss aus dem Waschbecken in einen Plasteeimer. Zwei schmale Betten, über Eck gestellt, ein Schrank, ein Tisch, zwei altersschwache Stühle. Schaufel, Besen und Handfeger, lasen sie in der Mitteilung des Besitzers, könnten in der unteren Etage, Vorraum, ausgeliehen werden. Unbedingt nach Benutzung zurückbringen! Es stand ein ganzer Katalog von Verhaltensmaßregeln auf dem von einer durchsichtigen Folie geschützten Blatt. Zur freundlichen Beachtung! Erstens, zweitens, drittens und so weiter. Hinter jedem Hinweis ein Ausrufezeichen. Vermutlich war es gar nicht so bärbeißig gemeint. Die Leute glaubten wohl nur, es müsste so sein. Sie lasen es nirgendwo anders.

Kurt und Katja kümmerten sich nicht weiter um die Feriendienstordnung. Sie hatten aus den Fenstern geschaut und waren mit der Unterkunft zufrieden. Zu beiden Seiten erblickten sie das Meer, als schlügen seine Wellen gegen die Hausmauern. Das Zimmer lag am Nordende des Anbaus. Die Sonne würde sie am Morgen wecken, und ihren Untergang konnte man abends aus dem anderen Fenster beobachten. Der Ausblick entschädigte sie für die Dürftigkeit des Raumes. «Hier schlafen wir bloß», sagte Kurt, der ohnehin nicht verwöhnt war, was Räumlichkeiten betraf. «Wir haben das grüne Zimmer und den blauen Salon, die Insel und das Meer zu beiden Seiten.»

Sie nutzten den ersten Tag, um den Ort kennenzulernen, ihre Gaststätte, den Konsum, Post, Buchladen, Getränkestützpunkt. Das war in einer Stunde geschehen. Nach dem Essen liefen sie zum Westufer der Insel, hielten sich nicht lange im Strandkorb auf und gingen ins Wasser. Ihr Urlaub hatte begonnen.

Zwar standen die Körbe dicht beieinander, wenn auch längst nicht so gedrängt wie in anderen Badeorten der Ostseeküste, aber wer allein sein wollte, brauchte kaum hundert Meter weiter südlich in Richtung Gellen zu gehen oder ein kleines Stück nach Norden.

Eine Woche dauerte es, bis ihnen bewusst wurde, dass sie Urlaub hatten. Ausschlafen können. In Ruhe frühstücken. Kein Terminkalender, kein Telefon, kein dringender Bericht und keine Sitzung. Einen Tag vor sich wissen, der seinen Rhythmus allein durch die Mahlzeiten erhielt. Und auch da war ihnen nichts streng vorgeschrieben. Als sie letztes Jahr mit den Kindern in dem großen Heim waren, hatte es Frühstück um sieben Uhr dreißig gegeben, das Mittag um zwölf und Abendbrot um siebzehn Uhr; jeder Durchgang dreißig Minuten. Die nächsten standen bereits hinter den Stühlen. Wer außer der Reihe kam, kam zu spät. Hier in Neuendorf gab es kein Reglement. Man kam, wie man Appetit hatte, und aß in Ruhe.

Kurt missfiel das zunächst. Ein exakter Zeitplan wäre ihm lieber gewesen. Aber Katja fand diese Freiheit viel angenehmer. Auf ihrem Gesicht lag der Schimmer ungetrübter Zufriedenheit.

Sieben Tage Sonnenwetter. Der Wind strich über den schmalen Streifen Land im Meer. Manchmal wanderten sie zum Gellen hinunter, dem bewaldeten Südzipfel der lang gestreckten Insel. Der Geruch des Wassers und der würzige Duft der Nadelbäume vermengten sich zu einem eigenen Aroma.

Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg über Vitte nach Kloster. Sie hielten sich immer neben der Betonstraße, die die Heidelandschaft zerschnitt, und gingen den Pfad, der parallel zur Küste verlief. Katja blieb hin und wieder stehen, um Brombeeren zu pflücken. Oder sie genoss einfach die Aussicht aufs Meer und über die Heide. «Ich atme das Land ein», sagte sie.

Kurt mahnte: «In diesem Tempo schaffen wir es nicht einmal bis Vitte, geschweige denn Kloster und Dornbusch.»

«Na und?», fragte sie.

«Es war doch geplant!»

«Ja», antwortete sie gedehnt und lachte. «Pflück mir lieber ein paar Brombeeren. Weiter drinnen hängen die besten.»

Er schüttelte amüsiert den Kopf, drang tiefer ins dornige Gestrüpp ein als die meisten Wanderer vor ihnen, die offenbar nur im Vorübergehen gepflückt hatten, und brachte ihr eine ganze Handvoll Beeren.

Erst gegen Mittag kamen sie nach Vitte. In seinem Programm war der Ort für zehn Uhr geplant gewesen. Kurt hatte es vergessen. Sie fanden eine Gaststätte, in der sie essen konnten. Hunger hatten beide. Danach schlenderten sie durch die Straßen. Vitte gefiel Katja nicht. Sie hätte nicht sagen können, woran das lag. Es war nur eine Empfindung.

Kurt konnte ihr nicht zustimmen. «Ist doch alles sehr ordentlich.»

Bei der betonklotzigen Kaufhalle schüttelte Katja den Kopf. «Wie kann man bloß so wenig Nerv für diese Landschaft haben.»

«Wahrscheinlich werden sie anders der vielen Besucher nicht Herr», gab Kurt zu bedenken. «Praktisch ist die Halle.»

«Wie kann sie praktisch sein, wenn sie hässlich ist?»

Diese Logik ging ihm nicht ein, aber er hütete sich, mit seiner Frau eine Diskussion anzufangen. Er wusste aus Erfahrung, dass sie nur aneinander vorbeireden würden. Und er hatte andere Probleme als diese Kaufhalle.

Sie verließen Vitte und kamen nach Kloster, stiegen dahinter die sandigen Wege bergauf und gingen über die mit kurzem Gras bestandenen Hügel. Schweigend verharrten sie dort, wo das Land plötzlich steil abfiel zum Meer.

Sie setzten sich in den Sand einer Mulde, lehnten sich gegen den Hang im Rücken. Der Wind strich über sie hinweg. Die Luft flirrte. Himmel und Meer gingen weit draußen ineinander über, als wären sie eins. Katja schloss die Augen. Man konnte die Stille hören.

«Es ist schön hier», sagte sie. Jeder Vergleich wäre missraten. Die einfachen Worte sind oft die genauesten. «Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass alles Leben aus dem Wasser kommt. Aber geht es dir nicht auch so, wenn man ganz allein ist mit der Natur, die Unendlichkeit vor sich, dass man wie ein Vogel mit ausgespannten Schwingen hinabsegeln, eintauchen und eins sein möchte mit den Wellen, kein Fisch, kein Tier, kein Lebewesen, sondern nur wie das Wasser selber?«

Er nickte. Sie konnte es nicht sehen. «Hörst du mir überhaupt zu?»

«Natürlich, Liebling. Sieh mal!»

Sie schlug die Augen auf. Mit dem linken Arm wies er aufs Wasser. «Backbord sechzig vier Schnellläufer.»

Sie blickte in die angegebene Richtung. Es waren tatsächlich vier Schiffe zu sehen, weit draußen noch, aber geübten Augen wie denen von Kurt entgingen sie nicht.

Katja lachte. «Ach, Seemann, du bist nicht an Bord. Wir haben Urlaub.» Dennoch blickte auch sie zu den Schiffen hinüber. Sie liefen in Kiellinie und offenbar mit hoher Geschwindigkeit; denn sie kamen schnell näher. Schon konnte man die aufschäumenden Bugwellen erkennen. Katja lehnte sich an ihren Mann, er legte den Arm um sie. «Wir haben Urlaub», sagte Katja noch einmal, diesmal ohne Lachen, als wollte sie sagen: Vergiss für ein paar Tage deinen Dienst und erinnere dich, dass du mit deiner Frau allein bist in dieser herrlichen Landschaft und dass uns hier keiner sieht.

Aber er spürte ihre Sehnsucht nicht. Anscheinend beobachtete er noch immer die Schiffe, die jetzt eine exakte Wendung beschrieben und sich zur Gefechtsordnung formierten. Seine Gedanken waren längst dort angelangt, wo die Unruhe in ihm wucherte, weil er noch immer nicht wusste, wie er Katja beibringen sollte, was sie unbedingt wissen musste. Er hatte einen Moment zu lange gezögert, als er es ihr vor Wochen mitteilen wollte, und es dann immer wieder hinausgeschoben. Der Urlaub kam dazwischen, die Frist seiner Beunruhigung entgegen. Danach, sagte er sich, danach spreche ich mit ihr. Er hatte sich selbst einen Termin gesetzt, womit er sein schlechtes Gewissen beschwichtigen konnte, das nicht Folge der gefällten Entscheidung war, sondern in der Unaufrichtigkeit des Verschweigens bestand.

«Woran denkst du?», fragte Katja.

Kurt erschrak. «Ach, nichts. Nichts Besonderes. Es geht einem eben manches durch den Kopf. Die Schnellboote dort draußen, ich habe das noch nie aus der Distanz gesehen. Immer war ich an solchen Manövern beteiligt. Ich wusste gar nicht, dass es schön aussieht.»

Sie lächelte. «Ohne so etwas ist das Meer schöner.»

Er glaubte, dass sie es nicht ernst meinte, und ging auf den Ton ein. «Pazifist!»

«Ist das ein Schimpfwort? Ohne so etwas wären die Meere wirklich schöner.»

«Ja», sagte er. «Natürlich. Aber es ist anders.» Manchmal war es schwierig, mit Katja zu reden. Sie irritierte ihn mit ihrem Mona-Lisa-Lächeln. Wollte sie ihn necken? Es gab jedoch Dinge, über die er nicht spaßen konnte. Oder steckte doch mehr hinter ihrer Bemerkung?

«Du hast einen Beruf», hatte Katja einmal gesagt, «der gewiss noch notwendig ist, aber den abzuschaffen du alle deine Kraft einsetzen müsstest. Macht dir das nicht manchmal Kopfzerbrechen?»

«Nein!», lautete seine schnelle Antwort. «Ich sehe das anders. Ich bin Offizier geworden, um einen Krieg zu verhindern oder zu kämpfen, wenn er uns aufgezwungen wird. Dächte ich wie du, müsste ich schon mal anfangen, mein Schiff zu verschrotten, um dem Gegner ein gutes Beispiel zu geben.»

Er wäre früher auf ihre Bemerkung gründlicher eingegangen, grundsätzlich, in der Absicht, ihr seinen Standpunkt nicht nur klarzumachen, sondern ihn auch zu ihrem werden zu lassen, deckungsgleich. Das tat er nicht mehr. Im Laufe ihres zwölfjährigen Beisammenseins hatte er erfahren, über welche Dinge sie miteinander reden konnten und über welche nicht. Das grenzte zwar ihren Gesprächsstoff ein, aber es verringerte auch die Reibungsflächen. Begann hier die Einsamkeit der Ehe? Den Eindruck hatte er nicht. Es gab reichlich Themen, auch durchaus unterschiedliche Auffassungen, über die sie debattieren konnten, ohne eigene Positionen aufgeben zu müssen oder das Gefühl zu haben, sich prinzipiell gegenüberzustehen. Und es gab welche, über die sie sprachen, indem sie bestimmte Fügungen und Wörter wie Versatzstücke auf einer Theaterbühne bewegten, genau darauf achtend, dass einer des anderen Kreise nicht störte; Gespräche wie dieses beispielsweise, wie schön es wäre, brauchte es keine Kriegsschiffe auf dem friedlich blinkenden Meer.

Die vier Schnellboote hatten ihr Manöver beendet und liefen nun wieder in Kiellinie seewärts, vielleicht zum Schießen, vielleicht in den Heimathafen. Allmählich verschwanden sie hinter der Kimm. Nur leichte Rauchwolken verrieten noch, dass sie da gewesen waren.

Und wie eine leichte Rauchwolke über dem Horizont war auch Kurts letzter Satz in Katjas Gedächtnis geblieben als ein Zeichen, während die Worte selbst in der Weite ihrer Gedanken verschwanden.

Es gab viele Dinge, die unausgesprochen zwischen ihnen lagen, ohne dass sie sie als störend empfunden hätten. Es war eben so. Man hatte sich daran gewöhnt. Genauer: Er hatte sich daran gewöhnt und sie sich damit abgefunden. Aber irgendwie, schien ihr, durfte es nicht so sein. Es war am Anfang nicht so gewesen und hatte mit einstiger Unbekümmertheit sicherlich wenig zu tun. Und eigentlich konnte es auch nicht daran liegen, dass ihr, Katjas, Leben gänzlich anders geworden war, als sie es sich einmal vorgestellt hatte.

Diese eine Woche auf Hiddensee hatte sie ruhiger werden lassen, sodass sie einander gründlicher zuhörten, nicht schon auf Antwort bedacht waren, während der andere noch redete. Oder sie konnten im Strandkorb liegen, schweigen, einander spüren und sich verstehen ohne Worte. Es geschah, dass sie morgens aufwachten, sich ansahen, Sehnsucht empfanden und ihr nachgaben. Zu Hause wäre das schon wegen der Kinder nicht möglich gewesen.

Ein Gespräch wie eben das über die Schiffe auf dem Meer erschien Katja im Nachhinein wie eine Rückblende in einem Film. Jetzt waren sie wieder in der Gegenwart, die eigentliche Handlung ging weiter. Katja blickte hinaus aufs Meer, er fuhr ihr zärtlich durchs Haar. Sie schmiegte sich dichter an ihn.

Scheinbar unvermittelt fragte Katja: «Was hältst du eigentlich von der Ehe?»

Überrascht sah er auf. «Wie kommst du auf diese Frage?», wollte er wissen.

«Weil es hier so schön ist.»

Frauenlogik, dachte er. Aber etwas warnte ihn, sich mit dieser Feststellung zufriedenzugeben. Er wich aus, indem er gegenfragte. «Meinst du unsere oder die Ehe überhaupt?»

Sie lächelte und schüttelte leicht den Kopf. Wenn Kurt von einer Frage verblüfft war, gab er es ungern zu. Er tat, als hätte er sich selbst schon ausführlich mit dem Problem beschäftigt und wolle nur wissen, in welche der vielen möglichen Richtungen das Gespräch laufen sollte. Katja ahnte nicht, dass Kurts Gegenfrage vor allem seine Überraschung verbarg, denn er argwöhnte, sie ziele auf etwas ganz anderes, seine innere Unruhe nämlich, die er hinter forscher Munterkeit verborgen hatte die ganze Zeit. Wusste sie etwas?

Ihr stand nicht der Sinn nach philosophischem Disput. Die Frage war ihrer Zufriedenheit entsprungen, dem sorglosen Sichtreibenlassen, der Stimmung des Augenblicks. Sie sah ihn an, lächelte noch immer, jetzt über seine deutliche Verunsicherung, und sagte: «Ach, Kurt!» Dann lehnte sie sich wieder zurück in den sonnenwarmen Sand der kleinen Mulde, in der sie saßen, schloss die Augen und wartete, dass er ihr wieder durchs Haar fahren möge oder sie streichelte. Oder sie küsste.

Kurts Gedanken kreisten noch immer um die Frage, auf die sie schon keine Antwort mehr haben wollte, jedenfalls keine von der Art, wie er sie suchte. Die Ehe war für ihn nicht irgendeine Institution mit Stempel und Unterschrift geheiligt, bis dass der Tod euch scheidet. Ehe hieß für ihn Verantwortung tragen für das Glück des anderen. Konnte er so antworten? Gewiss hätte sie ihn nur spöttisch angesehen. Es war von etwas anderem zu reden. Nach dem Urlaub, hielt er an seinem Entschluss fest, nach dem Urlaub werde ich es ihr sagen. Und er war sich bewusst, wie schwer es sein würde, nicht nur für sie, aber für sie besonders. «Ich liebe dich», sagte Kurt. Er war selbst überrascht, dass er es sagte.

Katja lag ganz ruhig, schien es, gegen den warmen Sand gelehnt. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Nur ein leises Zittern ihrer Mundwinkel verriet, dass sie die Worte gehört hatte. Kein freundlicher Spott mehr in ihren Zügen, sondern Erstaunen, das langsam tiefer Freude Platz machte, bis sie die Lider hob und ihn auf seltsam ernste Weise ansah. Wann hatte er diesen Satz das letzte Mal zu ihr gesagt? Sie fuhr ihm mit der rechten Hand über die Wange, die Finger glitten durch sein kurzes, kräftiges Haar. Er beugte sich zu ihr herüber, ihre Münder trafen sich. In seinen Armen legte sie den Kopf auf seine Schulter und presste ihr Gesicht gegen seinen Hals. Er spürte ihre Tränen und hielt Katja fest.

«Ja», sagte er leise, seine Stimme zitterte ein wenig, «ich liebe dich. Wir werden mit allen Problemen fertig werden. Mit allen.» Er gab den wiederholten Worten einen besonderen Nachdruck. Er wusste, wovon er sprach.

2. Kapitel

Kennengelernt hatten sich Kurt und Katja im August 1968. Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Die theoretischen und praktischen Prüfungen an der Offiziersschule der Volksmarine in Stralsund hatte er mit durchweg guten Noten bestanden. Die Pläne für die nächsten Monate und Jahre standen fest: Urlaub, Ernennung zum Offizier, Dienst als II. Wachoffizier an Bord eines Minenleg- und Räumschiffes. Es war auch schon entschieden, wohin er kommen würde — in die Flottille nach Peenow. Dort hatte er sein Bordpraktikum gemacht.

Das Zimmer in der Schule teilte er mit Günter Möbius, Hannes Luck und Olaf Georgi. Es war Kurt zunächst nicht leichtgefallen, auf engstem Raum mit drei anderen Genossen zusammen zu leben. Nirgendwo gab es einen Platz, der nur einem gehörte. Selbst Briefe lesen und schreiben geschah vor den Augen der anderen. Stellte einer Musik an, mussten die anderen notgedrungen mithören. Nachts schnarchte Luck, Georgi wälzte sich von einer Seite auf die andere, und Möbius hielt oft eine Stunde nach der offiziellen Nachtruhe noch nicht den Mund. Der eine sah peinlich auf Ordnung, der andere musste ständig daran erinnert werden, seine Wäsche, Strümpfe oder Essenreste endlich wegzuräumen. Kurt hatte Schwierigkeiten, sich an dieses hautnahe Beisammensein zu gewöhnen, die Eigenheiten der anderen zu ertragen, sich einzuordnen. Er war das nicht gewohnt, Einzelkind, Zimmer für sich allein zu Hause. Er musste es erst lernen. Es gelang ihm. Allerdings förderte diese erzwungene Kollektivität seinen Hang, sich mit seinen Problemen noch mehr abzukapseln. Zwar lebte er mit seinen drei Genossen zusammen, doch die hatten oft das Gefühl, er wäre mehr Gast als Zimmergenosse. Wer ihn nicht genau kannte, konnte ihn für überheblich halten.Günter Möbius war ganz anders. Er brauchte den Trubel, weil er ständig etwas zu erzählen hatte, sich für alle Angelegenheiten seiner Genossen, selbst die persönlichsten, interessierte. Er nannte sich selber eine «Betriebsnudel», und manchmal ging er Kurt so auf die Nerven, dass der ihn anfauchte. Das half für zwei, drei Stunden. Aber ausgerechnet an Kurt Berger hängte sich Günter Möbius besonders, vielleicht weil ihn dessen Gelassenheit herausforderte, vielleicht weil er sich einer stärkeren Persönlichkeit gern unterordnete.

Hannes Luck war der längste von ihnen, fast einen Meter neunzig groß. Die Genossen im Wehrkreiskommando hatten ihm erklärt, dass man ihn mit dieser Größe bei der Volksmarine gar nicht nehme, weil er auf den Schiffen überall anstoßen würde. Sie redeten mit wichtigen und wichtig scheinenden Argumenten auf ihn ein, schließlich war ein Soll in allen Waffengattungen zu erfüllen. Er hörte zu, nickte, als ob er es einsähe, ließ sich die Entwicklungsmöglichkeiten als Offizier der Landstreitkräfte erklären und antwortete auf die Frage, ob ihm das einleuchte, bereitwillig mit ja, fügte jedoch mit gleichbleibender Gelassenheit hinzu: «Ich will zur Volksmarine.» Sie gaben schließlich auf. Der gelernte Motorenschlosser mit der Figur eines Preisboxers hatte es schwer in den theoretischen Fächern, weil ihm die Gewandtheit des Ausdrucks fehlte, obwohl er den Stoff durchaus begriff. Er bestaunte die Fähigkeit von Möbius, auf alle Fragen der Lehroffiziere eine Antwort zu geben, wenn es mitunter auch mehr Wortgeklingel als exakte Ausführung war. In den praktischen Fächern, besonders bei allem, was mit Schiffsmotoren, Aggregaten, Elektrotechnik und Bewaffnung zusammenhing, war er noch beschlagener als Kurt Berger. Und der war schon gut.

Schließlich Olaf Georgi. Er war verträglich, freundlich zu jedermann, zufrieden mit allem, regte sich über nichts auf, riss aber auch keine Bäume aus. In jeder freien Minute nahm er seine Gitarre zur Hand und unterhielt sich und die anderen mit Blues. Als ihm der Zugführer vorwarf, dass diese amerikanische Musik nicht in eine sozialistische Armee passe, spielte er unbekümmert Herbert-Roth-Melodien, bis er auf einem Kulturwettstreit mit dem Protestlied amerikanischer Neger den ersten Preis erhielt. Was er wollte, erreichte er auch. Jedoch nichts wollte er unbedingt.

So unterschiedlich diese vier jungen Offiziersschüler auch waren, sie wurden bald unzertrennlich und hießen allgemein nur das Kleeblatt. Wahrscheinlich wären sie, sich ähnlicher, nicht so gut miteinander ausgekommen. In den vier Jahren, die sie gemeinsam die Offiziersschule besuchten und auf engstem Raum miteinander leben mussten, lernten sie, das eigene Feld zu behaupten und das des anderen zu respektieren. Nur Möbius überschritt die unsichtbaren Grenzen manchmal, weil er seine eigenen nicht genau zu bestimmen vermochte.

Wenn sie ausgingen, Landgang, wie das bei ihnen hieß, verließen sie stets gemeinsam das Objekt. Der Abend hatte dann einen festen Rhythmus: Essen im Ratskeller, Kino, Trocadero-Bar. Na perwoje, na wtaroje, na tretje. Der Vorschlag dazu kam meistens von Günter Möbius, der fragte, ob es nicht endlich an der Zeit sei, sich den Mädchen von Stralsund und den Urlauberinnen aus Sachsen zu zeigen, ehe Beschwerden in der Schule einträfen.

Die drei anderen hörten schon gar nicht mehr hin, wenn er dermaßen geschwollen redete. Möbius war der kleinste von ihnen. Vielleicht wollte er die fehlenden Zentimeter durch sein Mundwerk ersetzen.

Luck und Georgi waren einverstanden, Kurt nickte ebenfalls. Der Landgang wurde genehmigt.

«Hoffentlich bekommen wir auch Platz in der Bar», gab Luck zu bedenken. «Wir haben Hochsaison. Massen von Urlaubern.»

«Das macht Günter klar!», entschied Kurt.

«Aye, aye, Sir», schnarrte der im Zitzewitz-Ton. Er wusste, dass er Renate, der Kellnerin, nur einen Zettel hinzulegen brauchte: «Kleeblatt kommt nach dem Kino», dann war ein Tisch für sie reserviert. Allerdings bestand die Wirkung der Nachricht nicht darin, dass sie von Möbius stammte, sondern dass Renate wusste, Kurt Berger würde dabei sein. Sie war zwar verheiratet, aber den sah sie gern.

Der Tisch war reserviert. Weit genug von der Kapelle entfernt, über deren Verstärkeranlage auch das leiseste Piano wie ein Aufschrei eines gemarterten Instruments klang. Und dicht genug an der Bar, damit man sehen konnte, wann dort vier Hocker frei wurden.

Günter Möbius, der mit Beginn der ersten Takte einer neuen Tanzrunde aufgesprungen war, um rechtzeitig bei einem Mädchen zu sein, kam gleich darauf mit schiefem Grinsen zurück.

«Korb?», fragte Kurt.

«Die scheint Kleingeld zu brauchen.» Möbius war in seiner Eitelkeit verletzt. «Oder sie kann nicht tanzen. Dann soll sie zu Hause bleiben und Strümpfe stopfen.»

Kurt lachte. «Muss denn jedes Mädchen mit jedem tanzen?»

«Bin ich jeder?», fragte Günter herausfordernd. «Versuch du es doch bei ihr!»

«Wo sitzt sie denn?»

«Hinter der Säule. Aber etwas Besonderes ist sie nicht. Kaum Haare. Und keinen Meter sechzig. Na sdarowje!» Günter Möbius hob herausfordernd sein Glas. «Auf deinen Erfolg!»

«Muss ich denn mit ihr tanzen? Außerdem, für diese Runde hat sie schon abgesagt. Ich gehe nachher hin, wenn du solchen Wert darauf legst.»

«Alte Schule, gentlemanlike. Kann man nix machen, Kaiserliche Hoheit.» Wieder dieser alberne Ton.

Kurt ging nicht darauf ein. «Es gehört sich einfach nicht, eine Dame aufzufordern, wenn sie gerade einen anderen abgelehnt hat.»

«Eine Dame!» Günter lachte. «Eine Dame hat eine Frisur. Die hinter der Säule geht kurzgeschoren.»

War er neugierig geworden, oder wollte er Möbius nur ärgern? Kurt ging jedenfalls, als die Kapelle zur neuen Runde aufspielte, zu dem Mädchen. Sie war nicht zu verfehlen mit ihrem sportlichen Haarschnitt. Er verbeugte sich vor ihr. «Darf ich bitten?»

Sie blickte ihn erstaunt an. Es war selten, dass sie so höflich zum Tanz gebeten wurde. Sie nickte, stand auf und ging ihm voraus zur Tanzfläche. Sie hatte dunkelgrüne Augen. Das war das erste, was Kurt an diesem Mädchen auffiel.

Sie drehte sich um, lächelte ihm zu und fing an, sich nach dem Rhythmus der Melodie locker und geschmeidig zu bewegen. Es war ein Foxtrott. Er hätte sie eigentlich in die Arme nehmen müssen. Aber sie hatte wohl nie eine Tanzschule besucht.

Das Mädchen mit den grünen Augen war tatsächlich kaum größer als einen Meter sechzig. Ihr dunkelblondes Haar umrahmte ein ovales Gesicht, die Augen waren von dünnen gezupften Brauen überwölbt. Sie trug ein altrosa Hängerkleid aus Jersey, fast knöchellang, das die Bewegungen ihres schlanken Körpers mehr betonte als verbarg. Um den Hals hatte sie ein langes, fliederfarbenes Tuch gebunden. Die Hände waren schmal und feingliedrig mit kurzen gepflegten Nägeln, opal lackiert, während die Zehennägel, Strümpfe trug sie nicht, in einem dunklen Rot glänzten. Rosenblätterzehen, erinnerte er sich eines Gedichtes. Das Mädchen gefiel ihm.

«Sie sollen vorhin einen Korb vergeben haben.»

Sie hob die Brauen. «So, sagt man das? Ich hatte keine Lust zum Tanzen. Aber diese Runde wollte ich. Es hätte jeder kommen können. Beruhigt Sie das?»

Er ging auf den Ton ein. «Ungemein! Es ist übrigens mein erster Tanz heute Abend.»

«Ich fühle mich hochgeehrt.» Sie machte einen Knicks während des Tanzes und blickte ihn spöttisch an.

Gescheite Mädchen mochte Kurt. Die Schwierigkeit bestand nur darin, das Thema zu wechseln, wenn sie einem gefielen und man später etwas anderes wollte als nur reden.

Der Sänger der Band, der nach jedem dritten Tanz die Paare mit witzig sein sollenden Kommentaren von der «Nahkampfdiele» schickte, kreierte den Spruch: «Die Damen führen die Herren an die Bar, die Herren bezahlen in bar dafür.»

Kurt sah das Mädchen an. «Hätten Sie Lust?»

Sie nickte, machte aber zur Bedingung, dass sie ihr Getränk selber bezahlen durfte. Kurt konnte einen freien Hocker erobern, stellte sich neben das Mädchen und winkte der Barfrau. «Helga, zwei Wodka-Juice, bitte!»

«Sofort, Kurt», antwortete sie und mixte die Getränke, obwohl andere Gäste vor ihm bestellt hatten. Sie war nicht kleinlich beim Einfüllen.

Er hob dem Mädchen an seiner Seite das Glas entgegen. «Also, ich bin Kurt.»

«Sie trinken mit Katja.»

Die Musik setzte wieder ein. «Tanzen wir?» Katja glitt vom Barhocker, zog Kurt hinterher und bewegte sich bereits im Takt, da hatten sie die Tanzfläche noch gar nicht erreicht. Es war ein Tango. Er legte den Arm um sie. Katja ließ sich führen. Er spürte ihren Körper. Sie wich nicht aus.

In der Pause tranken sie ihre Gläser leer. Dann tanzten sie wieder und achteten kaum noch auf die Umwelt.

«Ich sage nur schnell den anderen Bescheid. Darf ich mit an Ihren Tisch kommen?»

Kurts Freunde blickten ihn erwartungsvoll an. Günter Möbius fragte: «Seid ihr schon verlobt?» Es sollte wie ein Scherz klingen, aber der säuerliche Ton war nicht zu überhören.

Kurt strahlte. «Ihr habt ja keine Ahnung, Jungs! Schafft ihr es, ohne mich in die Dienststelle zu kommen?» Man sah ihm an, dass er sich mit dem Mädchen nicht über die Einsteinsche Relativitätstheorie unterhalten hatte. Er verabschiedete sich von seinen Freunden, ging hinüber zu Katjas Tisch, die ihm ihre Freundin Elke vorstellte. Die sagte: «Schneller Erfolg, was?»

Katja erwiderte statt seiner: «Ich habe es ihm so leicht gemacht wie gerade noch anständig. Zufrieden?»

3. Kapitel

Katja lag in Elkes Zimmer auf der Couch, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Sie hatte gehört, wie die Freundin aufgestanden und ins Bad gegangen war. Jetzt rumorte sie in der Küche. Katja hatte nicht den Eindruck, dass Elke sich besonders vorsah. Wahrscheinlich rückte sie nur deshalb mit den Stühlen und stellte das Geschirr so laut auf den Tisch, um Katja zu wecken. Wie spät war es eigentlich? Wahrscheinlich schon zehn. Müde war sie nicht mehr, obwohl sie erst frühmorgens ins Bett gekommen war. Elke hatte die kleine Lampe angeknipst, auf die Uhr geschaut und mit dem Kopf geschüttelt wie eine Mutter, die es aufgegeben hat, der vergnügungssüchtigen Tochter Vorwürfe zu machen. Katja hatte es übersehen und gleich begonnen zu erzählen. Doch Elke war nicht bereit gewesen zuzuhören. «Behalte deine Amouren für dich. Ich will schlafen!» Sie hatte das Licht gelöscht und sich auf die Seite gedreht.

Eifersüchtige Gans, dachte Katja, mehr erheitert als verärgert. Sie kannte Elke. Die tat gern, als sei sie für die Erziehung ihrer Freundin verantwortlich. Außerdem war sie gar nicht in der Stimmung gewesen, beleidigt zu reagieren.

Der Wasserkessel pfiff in der Küche. Katja hielt die Augen noch immer geschlossen. Elkes Weckversuche belustigten sie. Doch ihre Gedanken fanden den Weg schnell wieder zurück. Sie dachte an Kurt.

Er war an ihren Tisch gekommen, hatte sich verbeugt und sie zum Tanzen aufgefordert. Eigentlich nichts Besonderes. Aufgefallen war ihr nur, dass sein «Darf ich bitten?» weniger selbstverständlich klang als das «Tanzen wir?» der anderen. Oder hatte es nur die sympathische Stimme gemacht? Er tanzte gut, führte geschickt und ließ seine Hand unaufdringlich auf ihrem Rücken liegen, als er sie in die Arme nahm. Das gefiel ihr.

Es machte Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er fing nicht mit den Allerweltsworten an — «Das erste Mal hier?» oder ähnlich einfallslosem Gerede. Und als er das mit dem Korb sagte, klang es auch mehr wie Übereinstimmung mit ihr gegen jenen, der beleidigt war, weil sie nicht mit ihm getanzt hatte. Er war reichlich einen Kopf größer als sie. Sein glattes, festes Haar war akkurat gescheitelt, Kinn und Wangen gut rasiert. Die vollen Lippen, die leicht gebogene Nase, braune Augen, dichte Brauen darüber.

Er gefiel ihr. Sie ging mit ihm an die Bar, und sie lud ihn an ihren Tisch ein, wo Elke saß. Die konnte sich eine spitze Bemerkung natürlich nicht verkneifen. Er war höflich genug, hin und wieder auch ihre Freundin zum Tanz zu bitten. Elke sagte zwar: «Sie müssen sich nicht die Mühe machen mit mir!» Aber sie lehnte auch nicht ab.

Ganz selbstverständlich waren sie zum vertrauten Du übergewechselt. So artig lag seine Hand nicht mehr auf ihrem Rücken, wenn sie tanzten, doch er wurde nicht zudringlich. Ihr fiel nicht auf, dass er immer seltener mit Elke tanzte und dass auch sie die Freundin am Tisch zu vergessen begann. Als sie wieder einmal zu ihrem Platz zurückkamen, war Elke gegangen, ohne sich zu verabschieden.

Sie blieben, bis die Bar geschlossen wurde. Er brachte sie nach Hause. Es war sonst nicht ihre Art, sich gleich beim ersten Mal küssen zu lassen. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten ungestüm. Ohne sagen zu können, woher sie die Gewissheit nahm, war sie überzeugt, er würde nicht mehr von ihr fordern, als sie zu geben bereit war. Sie wusste allerdings nicht, ob sie es ihm verwehren würde. War er nur zu schüchtern, oder wollte er selber, dass sie sich erst besser kennenlernten? Gelegenheit wäre da gewesen. Der Park, durch den sie gingen, hätte sie vor fremden Augen verborgen.

Kurt war nicht der erste Mann, den Katja näher kennenlernte. Wenn ihr nach Liebe war und ein Bursche gefiel ihr, spielte sie nicht die keusche Jungfrau. Dass sie Kurt gefiel, dass er sie gern berührte, dass sie seine Sinne erregte, bewies er ihr auf vielfältige Weise. Aber seine Hände fassten nicht grob zu, er sagte ihren Namen auf andere Art als die Männer, die sie vor ihm gehabt hatte. War es das, weshalb sie die Augen geschlossen hielt, obwohl Elke in der Küche mit dem Frühstück fast fertig war? Schön musste es sein, an seiner Seite aufzuwachen. Katja atmete tief.

«Frühstück!», rief Elke. Es klang eigentlich gar nicht so unwillig, wie es das Klappern hatte vermuten lassen.

Langsam schlug Katja die Augen auf. Elke stand in der Tür und beobachtete, wie sich die Freundin reckte. «Kurze Nacht gewesen, was? Du hast den Kerl ja noch in den Augen.» Dann trat sie schnell an die Couch, riss mit einem Ruck die Bettdecke beiseite und tat überrascht. «Ich hätte wetten können, dass du ihn mitgebracht hast, so unruhig, wie du geschlafen hast. Los, raus aus den Federn! Der Kaffee steht bereits auf dem Tisch.»

Katja reckte sich noch einmal herzhaft, schüttelte den Kopf, dass die kurzen Haare flogen, stieß einen Laut der Zufriedenheit aus und war mit einem Sprung auf den Beinen. Dann setzte sie sich wieder auf die Liege und fragte reumütig: «Bist du böse?»

«Habt ihr überhaupt gemerkt, dass ich gegangen bin?» Elke wollte der nächtlichen Zurechtweisung nachträglich die Schärfe nehmen, ohne zu verhehlen, dass sie Katjas Verhalten missbilligte. Sie war überzeugt, dass die Freundin ziemlich leichtsinnig Männerbekanntschaften schloss.

Katja wollte schon übermütig antworten, dass sie Elke nur bemerkt hätten, solange sie da war, verkniff sich aber das Widerwort, weil die Freundin es sicherlich ernster genommen hätte, als es gemeint war. Außerdem beschäftigten sich ihre Gedanken erneut mehr mit Kurt als mit Elkes Frage, sodass sie gar nicht genau verstand, wovon die Freundin inzwischen sprach. War da von Trampen und Saßnitz die Rede?

«Hörst du mir überhaupt zu?», fragte Elke.

«Saßnitz? Dann sind wir doch nicht vor Mitternacht zurück?»

Elke hob beide Hände, als wollte sie jemand anflehen, Katja den Verstand zurückzugeben. «Hast du denn wegen des Burschen alles vergessen? Ausgemacht war, dass wir heute nach Saßnitz zu Gudrun fahren. Und weil es schon viel zu spät ist für den Zug, schlage ich vor, dass wir trampen, um wenigstens mittags dort zu sein. Ich habe sie bereits angerufen.»

Gudrun wohnte in Saßnitz. Sie studierte ebenfalls Chemie in Halle, wenngleich ohne großen Ehrgeiz. Eigentlich hatte sie Kinderärztin werden wollen. Ihr Vater war Arzt, ihr Großvater war es auch gewesen. In dem Jahr aber, als sie sich zum Studium bewarb, gab es bedeutend mehr Bewerber als Studienplätze. Gudrun wurde abgelehnt und bewarb sich bei der Pharmakologie. Aber auf den Gedanken waren schon andere vor ihr gekommen. Ein bisschen ratlos, was sie sonst studieren könnte, sagte sie ohne Begeisterung zu, als ihr der Klassenlehrer empfahl, Chemikerin zu werden. Das sei doch auch etwas sehr Schönes, und vor allem hätte die Chemie eine ungeahnte Perspektive in der DDR. Sie wurde ohne Weiteres immatrikuliert.

Schon während des ersten Semesters hatte sich Gudrun mit Elke und Katja befreundet. Das heißt, eigentlich war es so, dass sie sich zu Katja und Katja sich zu ihr hingezogen fühlte. Die ruhige, freundliche, mitunter etwas hausbackene Gudrun war eine zuverlässige Freundin und wirkte ausgleichend auf die gegensätzlichen Temperamente von Katja und Elke. Waren sie zu dritt, fiel das weniger auf. Fehlte sie aber, herrschte zwischen den beiden anderen mitunter eine besondere Spannung, ja Gereiztheit. Auf die Dauer wären sie nicht miteinander ausgekommen. Sie brauchten Gudrun als Katalysator.

In jedem Sommer hatten sie sich für zwei, drei Wochen in Saßnitz getroffen. Die Stadt selber verlor zusehends an Reiz, weil die einst romantisch wirkenden Häuser der Altstadt allmählich verfielen, die entstehenden Neubauviertel aber so unpersönlich in die Landschaft gesetzt wurden, dass sie ihres ganz eigenen Gesichtes verlustig ging. Doch die Umgebung war unvergleichlich schön. Die Kreidefelsen fielen, von hohen Buchenwäldern bestanden, steil ab zum Meer.

Dr. Hillert, Gudruns Vater, ein begeisterter Freizeitbotaniker, ließ es sich nicht nehmen, die «Damen» wenigstens einmal zum Herthasee hinaufzuführen, wobei er es vermied, die üblichen Wanderpfade zu benutzen. Seine Begeisterung wirkte ansteckend, sodass man die Strapazen des Aufstieges fast vergaß.

Katja fuhr gern zu Gudrun. Sie fühlte sich im Haus des Arztes sehr wohl. Und Elke freute sich jedes Jahr ganz besonders, Ferien bei Gudrun zu machen. Zwar erinnerte sie die Herzlichkeit, die in der Familie Hillert herrschte, schmerzlich an den Mangel an Liebe, den sie selbst zu Haus erfahren hatte, doch es zog sie fast magisch an, den Aufenthalt zu genießen. Sonst war sie meist kühl und spitzzüngig, rechthaberisch sogar. In Saßnitz verwandelte sie sich zum Erstaunen ihrer Freundinnen in ein sanftes Wesen. Geduldig konnte sie Dr. Hillert zuhören, lächelte scheinbar grundlos, wenn sie glaubte, nicht beobachtet zu werden, und nachts, aber das sah wirklich niemand, weinte sie manchmal still in ihr Kissen. Sie gestand sich nicht ein, warum sie so fühlte.

«Muss es denn unbedingt heute sein?», fragte Katja, noch immer auf der Couch sitzend.

«Besser heute als morgen, bevor du dich ins Unglück stürzt. Wenn ich die Sache richtig sehe, hat der Grund, weshalb du nicht nach Saßnitz willst, eine blaue Uniform an. Wir essen jetzt», erklärte Elke entschieden, «dann geht es los.»

Katja zögerte. Natürlich wollte auch sie nach Saßnitz. Aber sie hatte Kurt versprochen, heute Abend mit ihm auszugehen. «Stell dir vor, er kommt an die Mole, und ich bin nicht da!»

«Ja, und?», fragte Elke ungerührt. «Dann geht er in die Bar und angelt sich eine andere. Lehre du mich die Kerle kennen! Und die Seemollis besonders. Das sind doch die Kings in dieser Stadt. Und wenn», wehrte sie einen Einwand Katjas ab, «wenn er anders ist, wird er dich suchen und irgendwo finden. Oder hast du — ja, ich sehe, du hast gesagt, bei wem du wohnst, und ihm die Telefonnummer gegeben.» Elke schüttelte missbilligend den Kopf.

«Die Telefonnummer nicht», sagte Katja kleinlaut. «Das habe ich vergessen.»

Heilige Einfalt, dachte Elke. «Hast du eigentlich noch mehr Wodka-Juice getrunken als die fünf am Tisch?»