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Ulrich Völkel

Freitags beim Angeln

 

ISBN 978-3-95655-524-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1971 in Der Kinderbuchverlag Berlin (Band 81 der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Jeden Freitag nach der Schule stand Klaus am Fluss und angelte. Es machte ihm Spaß, dort zu stehen. Manchmal blickte er zum Schwimmer, der auf den Wellen ritt. Aber er sah nicht hin, um zu prüfen, ob ein Fisch gebissen hätte. Das fühlt ein richtiger Angler. Er sah hin aus Gewohnheit. Eben so.

Viele Fische gab es hier nicht. Die Strömung war zu stark. Doch von dieser Stelle aus ließ sich weit flussab und flussauf schauen. Die Brücke, die Häuser, die Ruine der alten Burg, das neue Hochhaus — all das konnte er von dieser Stelle aus sehen. Und die Stadt, die hochstieg zu beiden Seiten des Tales, blickte zum Fluss hinab, ihrem wettgereisten Freund, der unterwegs war zu noch größeren Weiten.

Wenn ich jetzt, dachte Klaus, wenn ich jetzt ein Rindenboot hätte, und es bliebe nirgendwo hängen, ob es bis Afrika schwämme?

Hier ließ sich träumen! Die alte Brücke verwandelte sich in die berühmte Towerbrücke von London. Die Häuser der Stadt wurden zu den Terrassen von Neapel, die alte Burg ein sagenumwobenes Schloss, das neue Hochhaus mit seinen zwölf Stockwerken ein stolzes Leningrader Gebäude. In diesen Vorstellungen lebte Klaus jeden Freitag nach der Schule.

Wenn er nach Hause kam, stellte er die Schultasche in die Ecke, nahm seine Angel hervor und den kleinen Eimer, sammelte hinter dem Haus Regenwürmer in eine Schachtel und lief hinunter zum Fluss.

Und während Klaus hier stand, vergaß er die zwei Stunden Mathematik, die Rechenaufgaben, die ihm viel zu schwer waren, das Gekicher der Mädchen, seine Hilflosigkeit beim Rechnen an der Tafel — seinen ganzen Kummer mit dieser Mathematik vergaß er und wurde wieder froh in den Träumen von der Welt.

Mit dem Strom, der zum Meer hin floss, trieben seine Gedanken fort. Manchmal biss ein Fisch an. Den zog er heraus und legte ihn zu den anderen, die schon im Eimer schwammen. Aber eigentlich ging er nicht an den Fluss, um zu angeln. Er angelte, um am Fluss zu sein.

Schularbeiten machte er abends. Seit Mutter diesen Kursus besuchte, hatte Klaus viel Zeit freitags, denn sie kam spät nach Hause. Vater aber war Kapitän auf einem 10 000-Tonnen-Frachter und befuhr die Meere der Welt.

2. Kapitel

Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, die an Klaus’ Angelplatz vorbeiführte, war eine Bushaltestelle. Alle zwanzig Minuten kam ein Ikarus, je nach der Tageszeit besetzt. Um diese Stunde war er ziemlich leer. Die Leute arbeiteten noch. Laut und lebendig wurde es erst, wenn die Menschen von der Arbeit kamen und noch letzte Einkäufe für das Wochenende erledigten.

Dann war die Stadt ganz anders als sonst. Klaus brauchte seine Fantasie nicht mehr, um aus ihr eine Weltstadt zu machen. Die Gehsteige erwiesen sich als zu schmal, die Straßen wurden zu eng. Die Stadt brodelte vor Geschäftigkeit.

Und dann, auch das beobachtete Klaus von seinem Platz her, veränderte sich der Fluss. Etwa in der Stunde, in der die Läden schlossen, beruhigte sich der Strom, als hätte er, aus dem engen Tal kommend, die Ebene erreicht. Behaglich floss er dahin, wurde dunkler und glänzender. Um diese Zeit kamen die jungen Mädchen aus den Häusern und schlenderten hinüber zum Park. So begann der milde Abend des Vorsommers.

Es ist komisch, dachte Klaus, auch mein Fluss ist wie die Stadt, immer anders und schön.

Drüben fuhr wieder der Bus ab. Ein junger Mann erreichte ihn nicht mehr, schaute auf die Uhr und steckte sich eine Zigarette an. Er blieb eine Weile stehen, dann kam er zu Klaus herüber.

Der Junge hatte ihn oft gesehen. Er wusste zwar den Namen nicht, aber er war einer seiner Freitagsbekannten. Der junge Mann stand immer um diese Zeit mit den wenigen Wartenden an der Haltestelle. Noch nie hatte er den Bus verpasst. Heute geschah das zum ersten Mal, und jetzt kam er zu Klaus herüber.

„Na", sagte der Mann, „du angelst wohl?"

„Hm", sagte Klaus. Was sollte er auch antworten? Er angelte, das sah man. „Haben Sie den Bus verpasst?"

„Hm", sagte der Mann und lachte.

„Warum lachen Sie?", fragte Klaus.

„Über uns", sagte der Mann. „Ich sehe, dass du angelst, und frage, was du tust. Du hast beobachtet, wie mir der Bus wegfuhr, und fragst mich danach. Wir sind zwei, was? Übrigens fuhr er siebenunddreißig Sekunden zu früh.“