Impressum

Kurt Redmer

Vergessen? Erinnern! Mahnende Geschichte

Dokumentation über Geschehnisse in Mecklenburg in der Zeit des Hitlerfaschismus und danach

ISBN 978-3-95655-520-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2009 im Verlag Nordwindpress.

Gestaltung des Titelbildes: Manfred Kubowsky.

 

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Zum Geleit

Liebe Leserinnen und Leser,

hiermit liegt eine neue Dokumentation des Historikers Dr. Kurt Redmer vor. Sie ist, wie so viele seiner Bücher, eine spannende Mischung aus erforschter Geschichte der Region und Zeitzeugenberichten. Mit Erstaunen stelle ich immer wieder fest, wie nahe „große Weltgeschichte” stattfand.

Der Leser ist angehalten, sich mit regionalgeschichtlichem Geschehen zu beschäftigen, die historischen Orte in der Nachbarschaft aufzusuchen und sein Wissen darüber weiterzugeben. Angesichts wachsender rechtsextremistischer Aktivitäten ist für uns die Kenntnis der NS-Geschichte in Deutschlands, insbesondere der Zeit des Zweiten Weltkrieges unverzichtbar, denn nur sie ermöglicht uns, die notwendigen Lehren zu ziehen.

Das werden auch kommende Generationen tun müssen, denn die Geschichte des Hitlerfaschismus ist eine Geschichte, die man nie vergessen darf. Da künftig immer weniger Überlebende diese Geschichte greifbar machen können, muss sie in dieser Weise dokumentiert werden. In diesem Sinne sind Dokumentationen deshalb nicht nur für die Gegenwart sondern besonders auch für die Zukunft politisch unverzichtbar.

Bitte unterstützen Sie die Verbreitung dieses Buches. Tun wir alles dafür, dass uns die Geschichte wie 1933 nicht wieder überrollt!

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/

Bund der Antifaschisten - Basisgruppe Schwerin

Dezember 2008

Michael Sträng

Vorsitzender

Vorwort

Die überwiegend gute Resonanz auf meine Dokumentation „Die letzten und die ersten Tage“ vom April 2007 ermutigte mich, an einer weiteren zu arbeiten, die hiermit vorliegt. Der Forderung Lenins entsprechend, dass die Wahrheit immer konkret ist, bleibe ich dabei, ohne Tabus zu schreiben.

Meine Annahme, dass ich damit nicht überall auf Verständnis stoße, hat sich bestätigt. Ich kenne natürlich das Argument aus der Zeit der DDR, wonach wir auf diese Weise dem politischen Gegner auf einem Tablett Munition gegen uns servieren. Ich will nicht leugnen, dass ich mich damals dieser Auffassung gebeugt habe, die aber der DDR nichts genützt hat. Ressentiments, wie sie gegenwärtig von einigen Medien der BRD gegen die Truppen der Roten Armee vorgetragen werden, lehne ich ab. Mir ist bewusst, welche Leistungen sie auch für mein persönlich friedliches Leben bis heute hin vollbrachten. Ihre Verfehlungen, die in der Vergewaltigung deutscher Frauen bestanden, will ich deshalb aber auch nicht unter den Teppich gekehrt wissen.

Es widerstrebt mir, wissentlich Geschichtsklitterung zu begehen, die vornehmlich immer dann vorliegt, wenn Fakten, die nicht in ein bestimmtes politisches Konzept passen, einfach weggelassen werden. Ein solches Herangehen macht unglaubwürdig. Vor allem auch dass sich bürgerlich-konservative Historiker und Rechtsextremisten teilweise auch solcher Methoden bedienen, kann mich davon auch nicht abhalten. Sie sind mir eher eine Bestätigung dafür. Obwohl ich mich im Vorwort der letzten Dokumentation deutlich zu ihrem politischen Sinn geäußert habe, hat es dazu doch Irritationen gegeben. Eine Verwandte meinte, dass ich es zu meiner Selbstbestätigung tue. Von anderen wurde vermutet, dass es mir darum ginge, in der Kriegszeit und danach vergewaltigten Frauen noch vorhandene Traumata verarbeiten zu helfen und ich damit auch Geld verdienen will. Enttraumatisierung ist vielleicht ein Nebeneffekt. Und bei den geringen Auflagen meiner Bücher habe ich persönlich mehr materielle Verluste als Einnahmen.

Mein Anliegen ist ein anderes: Als Zeitzeuge und Betroffener der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Deutschland - am Kriegsende war ich 13 Jahre alt - hat mich die Zeit und das Studium der Geschichte politisch denken gelehrt. Der von deutschem Boden ausgehende grausame Eroberungs- und Vernichtungskrieg nahm mir den Vater, viele Verwandte, die damalige Heimat Ostpreußen. Ich erlebte im Frühjahr und Sommer 1941 den Aufmarsch der deutschen Divisionen für den Fall „Barbarossa”, sah in den „Wochenschauen” des Landfilms die Verwüstungen und das Leid, das Soldaten der Wehrmacht den Völkern der Sowjetunion und anderen Ländern zufügten.

Ich fühle mich heute deshalb in der Verantwortung, den Schwur der deutschen Antifaschisten von 1945: „Nie wieder Faschismus und Krieg” mit den Mitteln der Regionalgeschichte zu unterstützen. Es soll deutlich werden, zu welchen Verbrechen Hitler und seine Helfer fähig waren. Es ergibt sich somit fast von selbst: Ich will damit auch vor den Parolen der heutigen Rechtsextremisten warnen, die die Lehren der Geschichte missachten und erneut Gefahren für unser Land und andere Völker heraufbeschwören.

Es bleibt dabei: Hitlerdeutschland war und ist primär verantwortlich für jeden Kriegstoten und Kriegsversehrten des Zweiten Weltkrieges sowie die Vernichtung von unvorstellbaren materiellen Werten. Auch heute zeigt es sich: Kriege bringen den Menschen nur unendliches Leid und Not. Gesellschaftlicher Fortschritt kann über sie nicht befördert werden.

In Beiträgen der Dokumentation werden auch Fragen zum Verhalten der Truppen der USA und Großbritanniens berührt. Zum Verständnis dafür sollte man wissen, dass die Briten bereits im Sommer 1944 die strategischen Leitlinien für ihre Nachkriegspolitik festlegten. Darin wurde erstmals der Vorschlag für einen Nordatlantikpakt gemacht. Das kommende Deutschland wurde zum unverzichtbaren Verbündeten gegen die Sowjetunion erklärt.

Es bleibt unverständlich, warum dann in den letzten Kriegsmonaten die westlichen Luftstreitkräfte in diesem großen Umfang zum Einsatz kamen. Zukünftige Verbündete behandelt man eigentlich anders. (Giordano, Ralph: Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg. Vollständige Taschenbuchausgabe Oktober 1991, Rasch und Röhringverlag, Hamburg, S. 340 f))

Die USA konzipierten ihre Nachkriegsstrategie im April 1945. In ihr wurde ein großer Krieg gegen die Sowjetunion in den nächsten 10 bis 15 Jahren vorausgesehen, auf den der Westen sich einstellen muss. Die Deutschen werden notwendig Verbündete sein. Im Nachkriegsdeutschland hätten sich die USA deshalb feste Positionen zu verschaffen. Es sind die Personen zu benennen, die perspektivisch in Deutschland amerikanische Interessen vertreten können. (Eichner, Klaus /Schramm, Gotthold (Hrsg.): Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945, edition ost 2007, S. 21 f)

Wir können davon ausgehen, dass das in diesem Buch beschriebene Aufklärungsunternehmen der US-Amerikaner vom 2. und 3. Mai 1945 in diesem Sinne schon bewusst oder intuitiv geführt wurde. Es ging darum, deutsche - eben künftige Verbündete - vor einer Gefangenschaft in einem als künftigen militärischen Gegner ausgemachten Land, der Sowjetunion, zu bewahren. Dieses Vorgehen kann dem „Kalten Krieg”, der nach bisherigen Erkenntnissen im Frühjahr 1946 begann, meines Erachtens bereits als ankündigendes „Wetterleuchten” zugeordnet werden. Der Systemwiderspruch zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus in Gestalt der Sowjetunion trat damit allmählich wieder in den Vordergrund.

Den Beitrag zu dem Gefecht zwischen Truppen der Waffen-SS und Panzern der Roten Armee vom 2. Mai 1945 bei Parchim nahm ich in der Hoffnung auf, dass sich dazu noch Zeitzeugen melden könnten. Wenn es dieses Gefecht wirklich unter Beobachtung von US-SPW-Besatzungen gegeben hat, wäre das auch ein Verhalten, das bereits der Nachkriegsstrategie der USA entsprach.

Es war mir ein besonderes Anliegen, in diesem Buch wieder Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Nur wenn ihre Erlebnisse und Aussagen in geschichtlichen Verallgemeinerungen Eingang finden, kann sie letztlich auch nur fundiert sein. Bei den Erinnerungen und Zeitzeugenberichten habe ich weitgehend auf Kommentare verzichtet. Ich setze auf den kompetenten Leser, der die beschriebenen Ereignisse auch aus dem Kontext dieses Buches heraus richtig interpretieren und einordnen wird. Ich kann allerdings nicht völlig ausschließen, dass in den abgedruckten Beiträgen, wenn auch in sehr geringem Maße, Schutzbehauptungen enthalten sind.

Allen Zeitzeugen, den Mitarbeitern der Schweriner Volkszeitung, deren Bericht aufgenommen wurde sowie der Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Wöbbelin, Frau Ramsenthaler und den Mitarbeitern der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommerns in Schwerin, die das Vorhaben unterstützten, sei hiermit recht herzlich gedankt.

An Hinweisen zu weiteren Dokumentationen und Kritiken an diesem Buch bin ich interessiert.

Dr. Kurt Redmer

1. Die Verfolgung der jüdischen Mitbürger und Ereignisse in den letzten Kriegstagen in Crivitz

Zeitzeugenbericht von Dr. Fritz Rohde, Crivitz

 

Im Juli 1929 in der Goethestraße gegenüber dem Rathaus in Crivitz geboren, empfinde ich es als Bürger und Sohn dieser Stadt als Verpflichtung, über Daten und Ereignisse, die für unsere Stadt wichtig waren und über die Erfahrungen meines Lebens in dieser Stadt zu berichten und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Sicher haben die Menschen in Europa das Kriegsende 1945 auf unterschiedliche Weise erlebt, als Befreiung zumeist, als Erlösung und Rettung. Wir alle wissen, dass in der Biografie des Einzelnen die Erfahrungen schweren persönlichen Leids in Verbindung mit diesem Datum im Vordergrund stehen. Leid, das nun auch mit voller Wucht auf uns zurückgeschlagen hatte: Gefangenschaft, Verfolgung und Verlust der Heimat, das schreckliche Schicksal vieler Frauen, die grauenvollen Vergewaltigungen von Mädchen, Frauen und Greisinnen auch in unserer Stadt, Fakten, die totgeschwiegen wurden und zu Zeiten der DDR Tabuthemen waren.

Doch wir können Leid nicht relativieren, nicht das eine gegen das andere aufrechnen oder sogar abrechnen, wir dürfen nicht Erlebtes und Erkanntes verdrängen oder Spuren verwischen, Ursache und Folgen müssen unterschieden werden und die Auswirkungen immer als Folge des Krieges, der von deutschem Boden ausgegangen war, erkannt werden.

Während es am 8. Mai 1945 in London und Moskau, in New York, Warschau und Paris Jubel und Tränen der Freude gab, war es in den deutschen Städten und Dörfern still, sehr still. Die Befreiung vom Nationalsozialismus begriff man nicht so schnell nach 12 Jahren Betrug und Selbstbetrug. Erst allmählich erwachten die Deutschen aus ihrem Albtraum, begann das Umdenken.

Ich war fünfzehn bei meiner Einberufung im März 1945 und habe heute noch meinen Wehrpass mit dem Kindergesicht auf dem Passbild. Unerlaubt hatte ich mich von der Truppe entfernt, wie das damals hieß, d. h. ich konnte trotz größter Anstrengungen den Anschluss nicht erreichen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und ich war einem der berüchtigten Greiferkommandos wieder in die Fänge geraten, war diesen Kettenhunden der Feldgendarmerie im letzten Moment, Gott sei Dank, mit dem Mut der Verzweiflung wieder entkommen und bin dann in dem heillosen Durcheinander, im allgemeinen Chaos, untergetaucht.

Ich habe das Ende des Krieges wirklich als Befreiung und mit großer Erleichterung empfunden, wie viele andere Menschen auch, die dieses grauenhaften Krieges leid waren, zutiefst leid waren.

Viele unschuldige Jungen meines Alters sind in diesen Tagen kurz vor Kriegsende als letztes Aufgebot noch in die Schlacht um Berlin sinnlos in den Tod getrieben worden, während dieses paranoide Ungeheuer zur gleichen Zeit in seinem Keller tief unter der zerschossenen Reichskanzlei Hochzeit machte. Als nun 56-Jähriger heiratete er seine langjährige Geliebte Eva Braun, deren Existenz vor dem eigenen Volk absolut geheim gehalten wurde. Tausende dieser Kinder, die Hitler befreien und diesen Verbrechern noch eine Galgenfrist verschaffen sollten, sind in der Schlacht um Berlin ums Leben gekommen und liegen heute auf dem großen Soldatenfriedhof bei Halbe südlich von Berlin und auf anderen Friedhöfen in der Umgebung Berlins.

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Der Wehrpass von Fritz Rohde (Dr. Fritz Rohde, Crivitz)

„Silbervögel” brachten tausendfachen Tod

Im Jahr zuvor, 1944, war ich am Palmsonntag konfirmiert worden. Als wir nach unserer Einsegnung gemessenen Schrittes in feierlich geordnetem Zug aus der Kirche traten, begleitete uns Orgelspiel. Wir traten aus dem Halbdunkel in einen sehr hellen Sonntag. Im flirrenden Sonnenschein nahmen wir ein schaurig schönes Bild wahr: Am strahlend blauen Himmel zogen sehr hoch über uns Hunderte silbrig glänzender Bombenflugzeuge hinweg, spielend, fast tänzerisch umkreist von kleinen Jagdflugzeugen. Während die großen Bombenflugzeuge, ganz langsam und schwer, in geordneten Formationen wie Zugvögel ihre Bahn zogen, kreuzten sie, Todesengeln gleich, in großer Höhe unseren feierlichen Zug und dazu spielte die Orgel! So irrwitzig schön dieses Bild auch war, so makaber war es auch: War es doch der tausendfache Tod, der da ruhig und ungestört über uns hinweg zog. Der Krieg, dieser verdammte Krieg, kehrte mit tödlicher Bombenfracht dieser schönen Silbervögel an den Ort seines Ursprungs zurück.

Ein anderes Erlebnis ist ebenfalls unauslöschlich in meiner Erinnerung geblieben.

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Aus der Liste der einzuberufenen Crivitzer (Dr. Fritz Rohde, Crivitz)

Ein Urlauber von der Ostfront erzählt

Ich gehörte zu den sogenannten Fahrschülern, die täglich mit dem Zug nach Schwerin zur Schule fuhren. Es muss Ende 1942 gewesen sein. Wir hatten zu der Zeit Nachmittagsunterricht und fuhren abends wieder heim. Es wurde um diese Zeit schon dunkel. Im Abteil saß auch ein Soldat, der von Russland aus auf Heimaturlaub nach Crivitz kam. Wie sich herausstellte, war der Heimaturlaub eine Auszeichnung für besondere „Tapferkeit”. Er erzählte uns Jungen von seinen Einsätzen im Hinterland der Ostfront. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit, aber sonst ohne jegliche Hemmungen, berichtete er von den Massenerschießungen in Polen und Russland, wie diese Menschen zusammengetrieben worden wären, wie man sie gezwungen hätte, zuvor ihre eigenen Massengräber auszuheben, wie die Frauen sie in ihrer Verzweiflung angefleht hätten, ihre Kinder zu schonen, ja, dass sie ihre Röcke gehoben, sich ihnen, den Soldaten - und er lachte dabei widerlich - angeboten hätten, um ihre Kinder zu retten. Schließlich hätten sie ihnen verraten, dass sie in ihren Häusern Gold und Schmuck versteckt hätten. Drauf wäre man tatsächlich mit den Opfern in die Häuser zurückgegangen, hätte sich die armseligen Schätze aushändigen lassen, um die Menschen dann trotzdem umzubringen. Als Beweis zeigte er uns grinsend seine Hand. Ich habe dieses nahezu obszöne, abstoßende Bild nie vergessen, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Die Hand dieses Mannes in deutscher Soldatenuniform, eine Männerhand mit einem goldenen Damenarmband und an den Fingern schmale Damenringe, darunter ein zierlicher goldener Ring mit einem kleinen roten Stein.

Wir fragen uns heute immer wieder, wie konnte es nur dazu kommen? Wie konnte es nur zu diesen ungeheuerlichen Verbrechen kommen? Und dabei haben auch bei uns, in unserer Stadt, jüdische Mitbürger mit uns zusammengelebt, seit Jahrhunderten! 1986 habe ich in der berühmten Ausstellung über jüdisches Leben in Deutschland im Walter-Gropius-Bau in Berlin auf einer großen Karte Deutschlands den Namen unserer Stadt mit der Angabe der Jahreszahl 1574 als Hinweis auf die Existenz jüdischer Mitbürger gesehen. Und auch nach anderen Quellen lassen sich ihre Stammbäume hier bis in das 16. Jahrhundert verfolgen.

Heute gibt es kaum noch Zeugnisse jüdischer Kultur, Spuren jüdischen Lebens in unserer Stadt. So glaubt man jedenfalls auf den ersten Blick, kein Hinweis, keine Erinnerungstafel, kein Denkmalschutz. Ältere sagen: Da ungefähr. Dieses Ungefähr, das Vielleicht, die Vermutung schlechthin sind kennzeichnend für unser Wissen, wenn von diesen Menschen die Rede ist. Mit der Vernichtung der mecklenburgischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten wurde zugleich auch ihre Geschichte beendet und zerstört, so scheint es. Oft heißt es: „Wir hatten hier doch kaum Juden in Crivitz.” Und dennoch sind die Spuren zu finden. Man muss nur geduldig genug suchen.

Im Jahre 1757 zählte die jüdische Gemeinde immerhin 114 Mitglieder, eine recht hohe Anzahl, wenn man weiß, dass die Stadt zu der Zeit zwischen 1 000 und 2 000 Einwohner hatte.

Eine hervorragende Persönlichkeit jüdischer Herkunft in der Kommunalpolitik der 1920er und 30er Jahre war der Bürgermeister Herz, von dem vielfältige Initiativen zum Wohle der Stadt Crivitz ausgingen. Ihm ist unter manch anderem die Promenade um den See zu verdanken. Auch die Herzallee, beginnend mit der großen Familienbank und später fälschlicherweise „Liebesallee” genannt, ist ihm zuzuschreiben. Unter vielen Dokumenten aus dieser Zeit ist noch seine Unterschrift zu finden. Und nicht zuletzt auch unter meiner Geburtsurkunde. Zu nennen wäre noch die erneuerte Straßenpflasterung mit so genannten quadratischen Teersteinen und vor allem der Bau der Badeanstalt.

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Die Parchimer Straße in Crivitz um 1900 (Chronik der Stadt Crivitz)

Bei den Großeltern in Berlin gesehen und gehört

In Berlin, bei den Großeltern, hörte ich dann häufig von den Verfolgungen, denen die jüdischen Mitbürgerinnen und Bürger ausgesetzt waren. Ein befreundetes Arztehepaar, Dr. Bujakowski, genannt „Buja”, war nach Schanghai ausgereist, weil es dort die geringsten Schwierigkeiten bei der Einreise gab. Plötzlich waren auch Roths nicht mehr da. Die Mienen der Großeltern wurden immer bedenklicher und sorgenvoller. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich leise, dass es in Oranienburg ein Lager gäbe, ein Konzentrationslager, in dem sehr schnell unliebsame Personen, Menschen, die sich gegen die Nazis gewandt hätten, verschwinden würden.

Eines Tages fuhren meine Großeltern mit mir zu Verwandten nach Spandau bei Berlin, mit der S-Bahn über Bahnhof Friedrichstraße, Bahnhof Zoo. Zwischen Bahnhof Zoo und der S-Bahn-Station Savignyplatz sah ich plötzlich aus dem Fenster im Vorbeifahren eine große rauchgeschwärzte Ruine, die drei rußgeschwärzten, eingestürzten Kuppeln der Synagoge in der Fasanenstraße, mitten im Herzen der großen Stadt. Als ich nun diese große Brandruine sah - Berlin war zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht zerstört - rief ich spontan laut und entsetzt, wie Kinder es an sich haben: „Was ist denn da passiert?” Die Gesichter der Großeltern versteinerten sich angstvoll, sie sahen starr geradeaus, und die Großmutter zog mich hastig vom Fenster weg. Als wir in Spandau ausgestiegen waren, hörte ich meinen Großvater noch sagen: „Dieses Unrecht, das wir den Juden zufügen, wird sich bitter rächen. Dieses Feuer wird auf uns zurückkommen!” Wie wahr, wie wahr! Tausendfach und aber tausendfach hat sich diese Vorhersage bewahrheitet.

Die Verfolgung der jüdischen Mitbürger in Crivitz

Auch in unserer Stadt wurden die großen Schaufenster des Kaufhauses Jakobson-Löwenstein in der sogenannten Reichskristallnacht zerschlagen. SA-Posten vor dem Kaufhaus forderten, nicht beim Juden zu kaufen. Käufer wurden fotografiert und Verkäuferinnen bedrängt, nicht für einen Juden zu arbeiten. Als man merkte, dass die Käufer wegen der Posten vor dem Kaufhaus nun von hinten über den Bach in das Kaufhaus kamen, stellte man auch dort Posten auf. Aber es gab auch Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Mut und Zivilcourage, die sich empörten gegen diese Gesetzlosigkeit, gegen die Amoral, gegen den Terror des Mobs der Straße gegenüber diesen beiden wehr- und hilflosen, entrechteten Menschen, wie Hugo und Ida Löwenstein es nun geworden waren. Frau Grete Mierendorf, geb. Klüssendorf, war eine solche Mitbürgerin. Sie protestierte gegen diesen Terror und nun gerade ging sie trotz der drohenden Haltung der SA-Posten in das Kaufhaus unter dem Vorwand, irgendetwas, irgendeine Kleinigkeit, Strümpfe oder ähnliches, zu kaufen.

Hugo Löwenstein war wegen seiner Kulanz gegenüber der Kundschaft bekannt. Kunden, die mitunter kein Geld hatten, sagte er dann: „Betohl man, wenn du kannst!” In der Weihnachtzeit bekam die Kundschaft vom Lande stets eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen.

Ida und Hugo Löwenstein selbst gingen einem grauenhaften Schicksal entgegen, während ihren drei Söhnen noch die Auswanderung gelang.