Impressum

Gerhard Dallmann

Die Sommerkinder von Ralswiek

ISBN 978-3-86394-063-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1980 bei
Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst und Monika Franta

 

© 2011 EDITION digital®
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1. Kapitel

Ein herrlicher Sommertag, wie man ihn sich wünscht! Wolkenloser Himmel, strahlende Wärme, Windstille. Und die Luft vollgestopft mit dem Getriller der tausend Waldvögel. Aus den drei Schwarzpappeln vor dem Waldhaus woben sich süße Schwaden.

Harald Büchner, der Chef der vierköpfigen Forschungsgruppe, stieß entschlossen den Spaten in die Erde, wischte sich den Schweiß im Gesicht breit und sagte: "Kinder, ich mache jetzt Hitzeferien und empfehle euch das gleiche. Vorschlag: Am Abend die paar Stunden nachholen. Dann ist es kühler geworden. Einverstanden?"

Die Kollegen sahen ihn dankbar an, nickten, legten Kratzer und Schaber beiseite, und Hanno rief: "Man reiche mir ein Bier! Ein Königreich für ein Bier!"

Hanno, Volker und Gundula, die drei Studenten, hatten sich angeboten, bei den Ausgrabungen in Ralswiek zu helfen. Man war nämlich bei einfachen Erdarbeiten auf ein Wrack, auf die Reste eines alten Wikingerschiffes, gestoßen, das Hunderte von Jahren schon unter der Erde lag, im Moor versunken oder - wie es hieß - dort auf Land gezogen. Und weil man an dieser Stelle einen einst blühenden Handelshafen vermutete, mitten im Innersten der Insel Rügen, hatte man weitergeforscht, gesucht, gegraben und eines Tages deutliche Spuren einer ausgedehnten slawischen Siedlung gefunden. Nun waren die Forscher dabei, die Fundamente freizukratzen und den Fundort in allen Teilen säuberlich zu vermessen. Büchner legte von allem eine Skizze an.

Da wäre sicher jeder Spatenstich rasend interessant. Aber nicht bei solcher Affenhitze und wenn das Meer zum Baden einlud! Denn wenn die Sonne so heiß brannte, dass die gebeugten Rücken unter ihr zu schmoren begannen, so wie eben jetzt, dann sollte man doch lieber ... na ja!

Darum musste es auch ein schöner Tag werden, ein schöner, schöner Sommertag. Jeder Monat sollte mindestens vier Wochen Urlaub bringen. In der übrigen Zeit könnte man ja etwas tun. Ja, so etwas wäre Gold vom Himmel!

Büchner streckte seine Arme aus, weit aus, und stöhnte vor Wohlgefühl. - "Aaach!"

Kiefernduft, Vogelsang, Wärme, dazu der Geruch des nahen Wassers. Ein schöner Tag, an dem man nichts anderes tun konnte als baden, schwimmen, toben, ja sich austoben - auch wenn man, wie er, Ende Vierzig ist -, toben wie ein kleiner Junge. Büchner wusste eine hübsche Badestelle, wo er ganz für sich allein sein würde, dösen könnte, träumen, schlafen. Dahin wollte er.

Den Bademantel über die Schulter geworfen, in einem Beutel Schwimmhose und Sonnenkrem, machte er sich auf den Weg. Er hatte sich die leichten Schuhe angezogen, blauweiße Sportschuhe mit Kreppsohlen. Mit ihnen konnte er ganz gut seine Meilen laufen.

Der Weg führte dicht am Wasser entlang, rechts von Wald und Unterholz besäumt. Der Boden war tiefschwarz und moddrig feucht. Nun ja, hier gab es eben keinen gepflegten Strand wie in den großen Badeorten. Aber solchen suchte Büchner ja auch nicht. Er suchte das Romantische, und das fand er hier zwischen rauschenden Bäumen und plätscherndem Wasser am Bodden. Möwen kreischten, ein Bussard zog seine Kreise, Libellen standen mit flirrendem, knisterndem Propellerschlag dicht über den Schilfspitzen und sahen aus wie winzige Hubschrauber im Anflug. Ein rechter Sommertag, der die Luft flimmern ließ.

Darum schritt Büchner wohlgemut aus und pfiff sich ein lustiges Lied: "Wir sind nicht stolz, wir brauchen keine Pferde, die uns von dannen ziehn. Fa la la la I"

 

Nicht lange, dann gabelte sich der Weg. Rechts am Waldrand zog er sich als schmaler Pfad am steilen Ufer hinauf, links blieb er weiter am Schilfgürtel.

Büchner trat die Schuhe von den Füßen, steckte die Socken in die Hosentaschen und schlappte durch Wasser und Morast weiter. Er hatte ja ein Ziel. An der BadesteIle gab es einen schmalen Streifen von grobem, aber sauberem Sand, weich genug, um sich darauf auszustrecken, ohne sich die Knochen zu zerliegen. Büchner streifte das Hemd vom Leib, wechselte die Hosen und kremte sich ein. Die Sonne warf eine heiße Flut gegen die hoch ansteigende Küste. Kein Windhauch war hier zu spüren, und der Bodden glitzerte vor Freude über diesen herrlichen Tag.

Harald Büchner wusste, dass es nicht ganz ungefährlich war, ausgerechnet hier zu liegen oder gar zu schlafen. Denn ab und zu bröckelte es aus den Wurzelpacken, die den Uferhang mühsam zusammenhielten. Wie leicht könnte sich ein Stein lösen, oder schlimmer, ein Teil des Steilufers wie eine Lawine ins Rutschen geraten! Die Erde lebte ja. Außerdem war hier die einzige Stelle, an der die flinken Uferschwalben ihre Höhlen bauten. Beim Einflug in die Schlupflöcher stießen sie den Sand ab, der dann nach unten rieselte.

Der ganze Hang sah gespenstisch aus. Stürme hatten an der Küste genagt und Erdreich abgerissen. Büsche und Bäume hatten da oben nicht mehr genügend Halt gefunden und waren irgendwann zu Tal gedonnert, um unten zu verdorren und zu verwittern. Und neue Stürme waren gekommen und hatten am Land gezaust. Nun warteten andere Bäume auf ihren Todessturz. Stürme sind hier entsetzlich grausam.

Heute aber blies kein Sturm. Heute hielten die dicken, stämmigen Wurzeln ihre Bäume fest, auch wenn sie aus der steilen Wand meterlang herausragten wie bleiche, tote Arme. Heute war Sommertag, Urlaubstag, auch für den Sturm.

Büchner ging bedächtig ans Wasser. Er ließ sich Zeit. Der Bodden war noch recht kalt, und er war kein junger Mann mehr. Die Fischerkinder, ja, die hätten ihn vielleicht ausgelacht, hätten ihn Zimperling oder Piesepampel genannt.

Was kümmerte ihn die Meinung der andern! Er ließ sich langsam abkühlen. Dann aber warf er sich doch mit kühnem Schwung nach vorn, dass das Wasser hell aufspritzte, und kraulte los, mal den Bauch, mal den Rücken dem Himmel zugekehrt. Büchner war ein guter Schwimmer. Das sah man.

Viele hundert Meter schwamm er hinaus, so weit, bis er das herrliche blaugraue Schloss von Ralswiek sehen konnte. War das ein Bauwerk! Märchenhaft. Mehrere Türmchen zierten das Dach, vorne die hochgemauerte Balustrade. Hei! Darin hätte er wohnen mögen, ganz für sich allein, mit fünfzig Zimmern und so! Und jede Nacht in einem andern Zimmer schlafen! Und in den tiefen, geheimnisvollen Kellergewölben volle Fässer mit altem, schwerem Wein! Junge, Junge!

Büchner prustete vor sich her, wie Schwimmer tun, wenn sie lang ausholen. Dann drehte er sich wie ein Delfin und schoss Purzelbäume, dass man glauben konnte, eine Seeschlange sei hinter ihm her. Schließlich aber ließ er sich treiben.

Auch das ist schön, sich treiben zu lassen, so schwerelos, dachte er. Und er genoss die Stunde.

Einmal sah er zurück. Zu Füßen des zerklüfteten Steilufers lag seine Kleidung wie ein bunter Klecks auf farblosem Grund. Doch - was war das! Seine Augen wurden festgehalten. Da bewegte sich etwas! In der Nähe seiner Sachen. Scharf blickte er zum Ufer und erkannte einen Menschen -  wahrscheinlich einen Jungen, der Größe nach zu urteilen. Vielleicht aus dem Dorf?

Was will der da! durchzuckte es ihn. Ob der sich an meinen Sachen vergreift? Büchner dachte an seine Uhr, an die Ausweise und anderes. Wenn der jetzt die Taschen durchstöbert und sich auf und davon macht! Der hat mich ganz bestimmt hier draußen rumpaddeln sehen und nur darauf gewartet, dass ich weit genug entfernt bin. Dann kann er mich ja beklauen, wie er will, und ich kann ihn nicht verfolgen. Verflixt' verflixt!

Schleunigst schwamm er aufs Land zu, den Unbekannten fest im Auge behaltend. Je näher er aber dem Ufer kam, desto mehr legte sich seine Erregung. Der Junge - jetzt erkannte er genau, dass es ein Junge war - ließ das Häufchen Klamotten unbeachtet. Anscheinend hatte er es gar nicht bemerkt, denn er kletterte, als fühlte er sich unbeobachtet, am Steilufer hoch. Büchner begann sich jetzt über den leichtfertigen Jungen zu ärgern. Das Klettern an Steilufern ist doch streng verboten! Das weiß jedes Kind! Das kann man überall lesen! Warum tut der Bengel das? Was sucht er da? Und dann so allein? Er klettert immer höher... So ein Lausebengel! Der gefährdet nicht nur den Hang, der gefährdet sich selbst. Das darf nicht sein!

Büchner überlegte: Soll er hinüberrufen? Nein, er wird ihn runterholen. Er wird ihn belehren. Vorknöpfen wird er ihn sich. Er darf sich nicht an Steilhängen herumtreiben. Der ist wohl toll!

Also beeilte er sich, an Land zu kommen.

Der Junge hatte ihn offenbar tatsächlich nicht bemerkt. Hand über Hand zog er sich weiter an dem sperrigen Wurzelwerk in die Höhe, brach hier und da einen Klumpen Erdreich aus seinem Halt, dass er zu Tal staubte, knackte vertrocknete Äste durch, glitt aus, rutschte zurück, suchte neuen Halt und kletterte zielstrebig weiter. Das beobachtete Harald Büchner und verhielt sich einen Augenblick ganz still. Dieser Junge schien von seinem Vorhaben so stark gepackt zu sein, dass er weder nach links noch nach rechts sah. So ein Bengel! An dem war irgendetwas faul.

Büchner war empört und nahm sich vor, sobald er hinter den Schilfgürtel gelangt wäre, einen Überraschungsangriff zu starten. Als er Boden unter den Füßen hatte, pirschte er sich, alles Plätschern vermeidend, an den Jungen heran, immer bedacht, nicht bemerkt zu werden. Lautlos durchbrach er das Schilf, ja, es gelang ihm sogar, in gebückter Haltung und in Sichtdeckung durch einen der gestürzten Baumriesen fast bis zu seinen Sachen vorzudringen. Immer näher, immer näher. Über sich hörte er schon den vor Anstrengung ächzenden Jungen, wenn er wieder einmal abgerutscht war und sich hocharbeiten musste. Da hielt Büchner still. Er beobachtete, wie waghalsig der Junge am Steilhang herumturnte, ein Bein auf einem wippenden Wurzelknollen, mit dem anderen nach festem Halt tappend, während er sich mit der Schulter gegen die Sandwand lehnte. Das war ein gefährliches Klettern. Warum tat der Junge das? Er schien sich ganz verbissen einem Ziel nähern zu wollen. Aber welchem?

Mit einem Mal wurde es Büchner klar: die Schlupflöcher der Schwalben. Zwar ist die Brutzeit längst vorüber, aber die Kleinen sind noch nicht flügge. Will er Vogelnester ausnehmen, der Schlingel, der Tierquäler?

Warte, dachte Büchner, dir werde ich dein Handwerk legen! Und zornig schrie er, die Hände um den Mund geformt, so laut er konnte: "Halt, Bengel, was machst du da!"

Und der Schall verhallte weit hinten im Wald.

Wie eine angeschossene Katze zuckte der Junge zusammen. Mit aufgerissenen Augen starrte er den Mann unter sich an. Was sollte er jetzt tun? In Windeseile schien der Junge seine Lage zu überschlagen. Nach oben konnte er nicht weg, denn eine dicke Grasnarbe hing wie eine wulstige Schneewächte über ihm - an ihr hätte er sich nicht halten können. Der Weg nach links oder rechts hätte auch nicht weitergeführt. Und wie lange der Wurzelknollen unter ihm noch halten würde, war ungewiss. Also - nach unten abrutschen lassen? Dem Mann entgegen? Dem Jungen stockte der Atem.

"Ich frage, was du da machst!", wiederholte Büchner mit scharfer Stimme.

Der Junge gab keine Antwort. Verstockt schwieg er. Dabei spürte er, wie ihm durch die anhaltende Grätschstellung die Beine zu zittern begannen. Er musste jetzt das Standbein wechseln, irgendwie. Darum, statt zu antworten, tastete er sich einen Absatz höher.

Die Schwalben, die ihren Feind erkannt hatten, stoben und schossen dicht an seinem Kopf vorbei, wilder als ein Bienenschwarm, als versuchten sie, ihn mit den Flügeln zu ohrfeigen. Sie schrien vor Aufregung und stießen Pfiffe aus, grell und hart: Der Feind ist da, stoßt ihn hinab! Verteidigt die Höhlen, verteidigt die Kinder, der Feind ist da I So schrien sie.

"Ich frage zum dritten und letzten Mal, was du da machst!", dröhnte es hinauf.

Und der Wald stieß das Echo zurück: "... du da machst ... da mach ... ma ..."

"Komm sofort herunter, sage ich dir!"

Der Junge suchte mit den Händen neuen Halt und wagte einen verzweifelten Zug nach oben. Über ihm, nur einige Handspannen entfernt, ragte die gelbbraune Wurzel einer sturmzerzausten Kiefer aus dem Erdreich, armstark. Statt eine Antwort zu geben, verschloss er sich in hartnäckiges Schweigen. Seine Absicht war auszubüxen. Der Mann da unten war ihm gefährlich. Wusste er doch selbst, dass er sich auf streng verbotenem Weg befand. Flucht blieb also der einzige Ausweg. Doch jedes Mal, wenn er nach der Kiefernwurzel fassen wollte, musste er eine halbe Drehung machen, und diese Drehung rückte ihn von der Steilwand ab. Dabei verlor er das Gleichgewicht, wurde unsicher und konnte nicht zupacken. Allmählich gab der Boden unter ihm nach.

"Ich zähle bis drei!", rief Büchner nach oben. Er stand wie eine Säule, die Hände in die Hüften gestemmt, die Augen starr auf den Jungen gerichtet, und behielt ihn im Visier wie ein Adler seine Beute.

Den Jungen würgte es in der Kehle. Er setzte zur Gegenwehr an! "Hau'n Sie ab, Mann, sonst spring ich Ihnen ins Genick!" Er brüllte das hinunter und machte sich damit selber Mut.

Büchner nahm das als eine leere Drohung: Der springt nicht! Also rief er zurück: "Eins! Uuund zwwwaaai! Uuund ..." Ehe das Drei ertönte, schrie der Junge: "Sie soll'n abhau'n, ich springe!"

"Uuund - drrraaail" Büchner hatte gezählt. Hatte bis drei gezählt. Und was nun? Was wird nun folgen?

Der Junge, von jäher Angst gepackt, hatte die gelbbraune Wurzel doch noch zu fassen gekriegt, rackelte daran, prüfte, zog sich an ihr höher. Nein, sie bog sich nicht, sie gab nicht nach, sie wird ihn halten. Er wusste, wenn er sich an ihr weiter hochzieht und wenn er es schafft, sich auf sie zu stellen, dann erreicht er den Ast, der dort oben überragt - und dann ist er weg. Wenn er das schafft! Und er zwang sich unbändige Kräfte auf.

Im gleichen Augenblick begann Büchner seinen Aufstieg.

Der Junge schrie ihm entgegen: "Das ist verboten, am Steilhang klettern, Mann! Wissen Sie das nicht?"

Aber Büchner stieg Meter um Meter höher.

Da versuchte der Junge den ersten Klimmzug mit Aufschwung. Er kam aber nicht an der Wand vorbei. Die Lücke zwischen ihr und der Wurzel war einfach nicht groß genug. Von Angst gedrängt riss er sich zusammen: Ich muss, ich muss es versuchen! Aber seine angespannten Kräfte ließen merklich nach.

Und Büchner stieg immer höher.

Der Junge spürte, wie der Boden unter seinem Fuß zerrieselte. Gleich wird er an der Wurzel hängen bleiben wie ein Stück Wäsche an der Leine. Was soll er nur tun?

Unter sich hörte er bereits die stoßenden Atemzüge des Verfolgers: "Ich hol dich da runter, warte, Bürschlein!"

"Und ich springe Ihnen auf den Dötzl Hau'n Sie ab, Sie ... Sie ...! Was woll'n Sie eigentlich? Ich hab Ihnen doch nichts getan!" Er war halb am Heulen; aber eine naturgegebene Widerspenstigkeit verleitete ihn, frech zu drohen: "Ich schmeiße mit Klamotten! Mich kriegen Sie nicht!"

Büchner erkannte seine Lage. Er war dem Jungen gegenüber im Nachteil. Der könnte, wenn er wollte, ihn mit Steinen totschmeißen. Denn an Steinen fehlte es nicht - Feuersteine, harte Kiesel, faustgroß und noch größer, klemmten im Steilhang.

Er hielt es fürs klügste einzulenken und rief hinauf: "Wenn du vernünftig bist, Bengel, tue ich dir nichts und lass dich laufen. Aber erst kommst du runter, und zwar sofort! Du stürzt sonst ab!"

"Passen Sie auf, dass Sie nicht abstürzen, Mann! Hau'n Sie ab, sonst ... sonst baller ich mit Klamotten!"

Er kratzte wahrhaftig einen Stein frei, größer als ein Gänseei. Dann schrie er: "Jetzt zähle ich bis drei. Aaainsl Uuund zwwwaaail Uuund ...."

Er hielt den Stein genau über Büchners Kopf, leicht zwischen den Fingern, an pendelndem Arm. Er brauchte nur die Finger zu lösen, dann ...

Blitzschnell duckte sich Büchner zur Seite, machte ein, zwei Sätze aufwärts und war dem Jungen nun kaum mehr drei Armeslängen fern.

"Komm runter, Menschenskind! Du bist verrückt! Wenn du noch höher willst ... ich sage dir, es geschieht dir nichts."

Der Junge, als hätte er nicht gehört, wog den Stein in seiner Hand: "Uuund '" gleich kommt drei! Hau'n Sie ab! Ich habe Klamotten, Sie!"

Büchner sah, wie der Junge auf ihn zielte, mitten ins Gesicht, ausholte und ...

Er duckte sich wie ein Panther, der zum Sprung ansetzt. Er hörte, wie der Stein über seinem Kopf wegpfiff und irgendwo gegen die Wand schlug. Wie ein Katapult schnellte er sich jetzt hoch, und wenn auch die Hände mehrmals ins Leere griffen, so gelang es ihm doch, einen Fuß des Jungen zu fassen. Mit eisernem Griff presste er den Daumen gegen den Knöchel, dass der Junge vor Schmerz aufschrie. Der stieß den Fuß in die Luft, schüttelte und stieß und schüttelte, aber Büchner hielt erbarmungslos fest, als hätte er sich eingeschraubt.

"Jetzt habe ich dich, mein Bürschlein - und jetzt ab mit dir!" Er zog ihn langsam zu sich heran. Aber der Junge klammerte sich verzweifelt an die dicke Wurzel. Doch da rutschte unter seinem Bein der Sand endgültig weg. Sein Fuß hatte keinen Halt mehr. Jetzt hing er in der Luft. Und Büchner spannte seine Finger um das Fußgelenk, als wollte er es für die Ewigkeit halten.

Wild schrie der Junge auf, denn langsam gaben nun die Hände nach. Nur noch ein paar Sekunden würde er sich halten können, dann würde er abstürzen, zwanzig, dreißig Meter den steilen Hang hinab.

Da geschah's! Voller Verzweiflung stieß er sich mit dem freien Fuß von der Wand ab, drehte sich in der Luft und stürzte kopfüber auf den fremden Mann.

"Was woll'n Sie von mir, ich hab Ihnen nichts getan!", schrie er auf, und damit trudelte er schon über ihn hinweg und schleuderte mehrmals gegen die Wand, einen Haufen Geröll mit sich reißend.

Büchner hatte, als sich der Junge auf ihn warf, sofort nach festem Halt gesucht. Nur eine fingerdicke Wurzel war ihm in den Griff gekommen. Doch der Stoß war zu gewaltig, der schräge Boden gab nach, die Wurzel zerriss, und Büchner sauste in die Tiefe, dem Jungen nach, schrammte sich hier und da und schlug auf dem Uferkies auf. Eine Salve von Steinen schoss hinter ihnen abwärts. Wehe, wenn einer der Steine trifft!

Der Junge hatte sich vor dem Aufschlag wie ein Igel zusammengerollt und war, als er die Lawine auf sich zukommen sah, mit ein paar kräftigen Sprüngen zur Seite gehetzt. Da schlug er noch mal lang hin und blieb benommen liegen.

Büchner aber wurde getroffen. Dicht am Ohr vorbei traf ein Stein das Schlüsselbein, ein anderer prallte gegen den Oberschenkel, dass er wie ein Taschenmesser zusammenklappte und sich für einen Augenblick vor Schmerz auf dem Boden krümmte. Es tat schrecklich weh.

Dann drehte er sich nach dem Jungen um. Der aber sprang auf und fegte, haste was kannste, durch knackendes Schilf davon, als wäre eine Meute bissiger Hunde hinter ihm her.

Büchner ließ ihn laufen. Die Schulter schmerzte rasend, und er befürchtete einen Bruch. Ihm war, als hätte ihn jemand mit der Keule geschlagen. Am Bein blieb der Schmerz im Muskel stecken. Da war also nichts gebrochen. Oh, das wäre schlimm! Er versuchte das Bein langsam zu strecken und zu beugen, zu drehen - und wenn es auch fürchterlich brannte, es funktionierte doch. Auch der Arm gehorchte. Ein Glück!

Aber der Junge? Ob der sich nichts getan hat? Entweder muss der so elastisch gewesen sein, dass er keinen Schaden nehmen konnte, oder er muss sich jeden Schmerz tapfer verbissen haben. Nun war er weg. Entwischt. Sicher stammte er hier aus dem Dorf und kannte alle Schliche.

Sollte er, Doktor Harald Humpelmaxe, ihn verfolgen? Um sich nochmals eine Nase drehen zu lassen? Nein!

Er strich sich über die schmerzenden Stellen und war zornig, fuchsteufelswild ... Dabei ging ihm der Junge nicht aus dem Sinn. Warum, so dachte er, habe ich das eigentlich gemacht, das alles? Hinterrücks habe ich mich an ihn herangeschlichen. Warum? Jungens machen doch immer mal Dummheiten. Dafür sind sie Jungens. Wenn auch das Ausnehmen von Vogelnestern mehr ist als eine Dummheit. Erst habe ich ihn erschreckt, dann habe ich ihn verfolgt, zuletzt habe ich ihm weh getan. Ich hätte von vornherein verhandeln sollen. Ich Idiot, Ich - ich allein habe die Schuld an diesem Quatsch! Dieser schöne Sommertag! Einen kaputten Arm, einen verbeulten Oberschenkel und ein blödes Gefühl im Leibe. Das habe ich nun davon!

Wie alt mag er gewesen sein? Zwölf? Dreizehn? Der Stimme nach nicht älter. Aber Mut hat er bewiesen, das muss ich ihm zugestehen. Der Junge ist nicht von Pappe. Sich einfach auf einen erwachsenen Mann stürzen! Das war stark! Trotzdem, ich erwische ihn! Ich bleibe ja noch in dieser Gegend. Ich werde ihn mir vorknöpfen, ohne Pardon!

Nur langsam wich seine Erregung, Was hatte er sich von diesem Tag erhofft! Wie frohgemut war er vorhin losgezogen! Und nun saß er hier und massierte seine Knochen. Wozu das alles ? Wozu!

Da segelte über seinem Haupt eine weiße Wolke vor die Sonne. Die flitzenden Schwalben hörten auf zu schreien, schnappten wieder nach Mücken und stießen, als wäre nichts gewesen, pfeilgeschwind in die Höhlen, ihre Jungen zu füttern. Da wechselte Büchner die Hosen, breitete seinen Bademantel aus und legte sich hin. Wenn er schon nicht herumtoben könnte, wollte er sich wenigstens bräunen lassen und ein bisschen zu dösen versuchen.

2. Kapitel

Doch zum Dösen fand er keine Ruhe. Er.musste an die Arbeit denken und daran, dass sie heute noch so viel schaffen wollten. Aber er? Mit schmerzenden Knochen? Er wird seinen Leuten berichten müssen - alles, haarklein. Und wie er sich dumm benommen hatte. Und sie werden ihn heimlich auslachen - ihn, ihren Chef.

So zankte er mit sich selbst herum, als er von links her ein Geräusch vernahm, ein Stampfen und Brechen. Es knackte im Röhricht, als wenn sich ein Nashorn durchs Gesträuch wühlt. Nanu? Ein Pferdekopf? Wahrhaftig, ein ganzes Pferd! Und sogar mit einem Reiter. Sonderbar! Hier ein Reiter?

Mühsam richtete er sich auf. Das Pferd warf erschrocken den Kopf hoch und schnaubte. Es blieb stehen, spitzte die Ohren und machte große Augen. Der Reiter, ein Mädchen, schien nicht weniger verwundert, hier einen Menschen zu finden. Es zog die Zügel an, beugte sich vor und klopfte beruhigend den Hals des Tieres: "Still, Atlanta! Ist ja gut, sei ruhig, sei brav!" Und zu Büchner: "Entschuldigen Sie, wir wollten nicht stören."

"Da ist nichts zu entschuldigen, Fräulein. Sie stören nicht, ich liege hier bloß so - bloß so. Übrigens, wenn Sie weiter reiten wollen, da hinten ist der Weg zu Ende. Da kommen Sie nicht voran."

"Wir brauchen keinen Weg. Atlanta geht durch dick und dünn."

Das Mädchen sah vom Pferd auf Büchner herab, ein bisschen forschend, ein bisschen fragend, ein bisschen verwundert, weil er so sonderbar auf dem Boden kauerte.

Schließlich fragte sie: "Liegen Sie schon lange hier?"

"Ich? Wieso? Lange? Warum?"

"Ich frage nur so, bloß so." Aber sie sah ihn weiter durchdringend an.

"Na bitte, was fragen Sie!" Büchner zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Na und? Doch bei dieser Bewegung verzerrte sich sein Gesicht, denn der Schmerz schoss ihm wie verrückt in die Schulter. Rasch drückte er mit der Hand darauf, als könnte das helfen.

"Ich will's nur wissen, weil ..." Sie sah ihn unentwegt an, immer so von oben herab, unterbrach sich und fragte: "Tut Ihnen was weh?"

"Nein - ja - nein - ach was!" Was sollte er mit der kleinen Dame darüber sprechen ...

"Ich dachte, weil Sie so daliegen und sich die Schulter halten."

"Das ist nicht schlimm, kleines Fräulein, wirklich nicht. Danke für die Fürsorge. Aber machen Sie sich keine Gedanken!"

Das Mädchen schien beruhigt. Es fragte: "War eben ein Junge hier? So einer mit kurzen, blonden Haaren?"

"Ja", bestätigte Büchner und zog in Erinnerung an ihn ein Gesicht wie ein Igel, der Essig trinkt. "So einer war hier, einer mit struppigkurzen, blonden Haaren. Wieso?"

"Der ist" - das Mädchen zeigte über die Schulter nach hinten -, "der ist da eben an mir vorbeigeprescht wie ein Verrückter. Wie ein Verrückter!", betonte sie noch einmal.

"So so, wie ein Verrückter.

"Ja, als wäre jemand hinter ihm her, Polizei oder so."

"Kannten Sie den Bengel, den verflixten?"

"Sie können ruhig du zu mir sagen. Ich bin erst dreizehn. Nee, ich kannte ihn nicht. Ich bin ja erst drei Tage hier. Sie müssen nämlich wissen, ich wohne hier gar nicht."

"Sie sind - äh, du bist hier zu Besuch? Schulferien, was?"

"Ja, bei meinem Onkel. Ich soll hier die Atlanta ausreiten. Was war denn mit dem Jungen?"

Büchner blickte mit schiefer Wendung seines Kopfes zu den Schwalbenlöchern hoch. Dann schnitt er mit kurzer Handbewegung die Frage ab: "Dummerjungenstreich."

Er wollte sich erheben. Ihm gefiel das nicht, so von oben herab, und dann noch von einem halben Kind, angeredet zu werden. Das gab ihm das Gefühl, als sei er selber ein kleiner Junge.

Leicht aber fiel ihm das Aufstehen nicht. Sein Bein hatte doch einen mächtigen Schlag bekommen und tat beim Auftreten entsetzlich weh.

Die Reiterin musste das bemerkt haben. Sie stieg aus dem Sattel, ließ sich zu Boden gleiten, fasste den Zügel kurz am Halfter und legte ihren Kopf zart gegen den Hals des Tieres. "Als er an mir vorbeihetzte", so erzählte sie ungeniert dem fremden Mann, "schrie er mich nämlich an: 'Geh nicht weiter, du! Dahinten ist ein Verrückter!' Und dann war er weg! Weg - verschwunden."

"So ..."

"Sind Sie ein Verrückter? Sie sind doch kein Verrückter!"

Büchner lächelte: "Das weiß ich nicht. Das müssen andere entscheiden. Es kommt ganz drauf an, wem du mehr glaubst, dem Jungen oder dem Eindruck, den du von mir hast."

"Eher schien mir der Junge verrückt zu sein. Wie der davon raste! Als ob ein Hornissenschwarm hinter ihm her wäre. Was war denn?"

"Verlangst du die ganze Geschichte von mir? Ich denke, du wolltest reiten?" Büchner wies den von zerspellten Bäumen zugesperrten Uferweg entlang.

"Ist die Geschichte spannend?" Das Mädchen wurde lebhaft. "Ich will nämlich was erleben. Ferien sind ja ganz schön, aber wenn nichts passiert, sind sie langweilig. Ich möchte so gern etwas Spannendes erleben."

"Na gut, ich werde dir erzählen. Aber dazu muss ich mich erst wieder hinsetzen. Mir fällt das Stehen doch ein bisschen schwer nach diesem ..."

"Warten Sie, ich binde Atlanta erst an." Sie führte das Tier an den gestürzten Baumriesen und schlang die Zügel um einen hochgerichteten, toten Ast. Dann streckte sie Büchner die Hand hin und sagte:: "Tach! Ich bin Evelyn Vornagel. Aus Forsterode."

"Prima, Evelyn. Und ich bin Harald Büchner. Ich bin auch nicht von hier."

"Komisch, nicht?"

Er griff die schmale Hand und drückte sie behutsam. "Ja, komisch."

"Kennen Sie Forsterode? Da ist auch ein Schloss, wie dieses hier, nur größer. Und schöner."

"Und wo liegt Forsterode?"

"Na - so bei Dresden."

"Aha. Dieses Schloss ist aber auch schön."

"Das schon. Aber unseres hat noch mehr Türme."

"So ..."

"Da ist ein richtiges Gestüt. Ich habe da Reiten gelernt."

"Und nun reitest du hier das Gestüt aus - oder wie sagt man? Ich bin kein Reiter."

"Ach, die haben hier ja nur die Atlanta. Die beiden andern - na ja, die werden gebraucht, Wagen ziehen und so."

"Gehören alle Pferde deinem Onkel?"

"Onkel Wilhelm? Aber nein! Die gehören der LPG."

"Aha ..."

"Eigentlich bin ich gar nicht aus Forsterode. Eigentlich stamme ich aus dieser Gegend. Aber weil mein Pappi nach Forsterode gerufen wurde, als Gartenmeister, sind wir da hingezogen. Vor drei Jahren."

"Aha ..."

"Und jetzt bin ich bei meinem Onkel hier."

"Dein Onkel wohnt hier?"

"Der ist auch Gartenmeister, genau wie mein Pappi, nur hier auf dem Schloss. Komisch, nicht?"

"Ja, komisch."

"Und Sie?"

"Ich?" fragte Büchner. "Ich, ja ich habe auch mit Erde zu tun, bloß anders. Ich leite hier die Ausgrabungen bei den Wikingerschiffen und Siedlungen."

"Au", klatschte Evelyn in die Hände, "das ist spannend! Darf ich Sie mal besuchen und zusehen?"

Evelyn war begeistert.

"Gerne", erwiderte Büchner. "Nur - willst du mich nicht erst wieder gesund werden lassen?" Er tippte auf sein geschwollenes Bein. "Dies Ding hier hat nämlich ganz schön was abgekriegt."

"Ach so - ja."

"Nun, nun, das geht wieder vorüber."

"Sie wollten mir doch erzählen. Was war denn?"

Büchner ließ sich wie ein alter Mann auf den Bademantel nieder. Mit einem auffordernden Blick zu Evelyn schlug er mit der Rechten neben sich auf den Boden: "Du musst dich auch setzen."

Evelyn setzte sich und hockte, während Büchner erzählte, mit angezogenen Beinen auf dem Kies. Ihre abgewetzte Hose hielt ein breiter, lederner Gürtel an den schmalen Hüften zusammen. Darüber flatterte eine am Hals weitgeöffnete kurzärmlige Bluse, rotkariert. Ihre Arme um die Beine geschlagen und mit schräg geneigtem Kopf auf die Erde starrend, achtete sie auf jedes Wort des Erzählers. Manchmal nickte sie, energisch zustimmend, manchmal aber schüttelte sie den Kopf, als wollte sie sagen: Das hätte ich nicht getan. Dann flog ihr langes, im Pferdeschwanz zusammengeknüttetes Haar von einer Schulter zur andern.

Doch als Harald Büchner abschließend sagte: "Und ich hätte ihn mir so gern vorgeknöpft", ereiferte sie sich: "Dann werden wir ihn suchen. Wir sind doch jetzt zwei!"

"Nein, nein."

"Doch, doch! Was meinen Sie, ob wir ihn finden werden?"

"Aber Evelyn, ich habe andres zu tun, als kleine Jungen zu suchen. Wirklich."

"Oooch, schade! Ich dachte, ich könnte was erleben."

 "Das kann ich verstehen, nur ..."

"Haben Sie die Spuren gesichert?"

"Spuren? Wieso? Was für Spuren?"

"Wenn wir ihn verfolgen wollen, müssen wir doch seine Spuren haben."

Sie sprang auf und spürte wie ein Jagdhund über den Boden. Plötzlich rief sie: "Hier! Sehen Sie diese Sohle? Hier auch, und hier. Ganz deutlich. Das ist nicht Ihr Schuh!"

Büchner reckte sich und spielte den Interessierten: "Tatsächlich, das ist eine einwandfreie Spur. Nun ist uns der Verbrecher sicher." Innerlich über diesen Unsinn lächelnd, setzte er hinzu: "Merk sie dir, Evelyn, damit er uns nicht mehr entwischt."

Evelyn nahm einen Halm, maß mit ihm die Länge, steckte ihn in die Tasche und frohlockte: "Festgehalten, aufgeschrieben. Sehen Sie, so macht man das."

Büchner tat so, als wenn er mitspielte: "Und wenn du ihn gefunden hast, dann bring ihn zu mir. Ich will mit ihm reden. Fraktur!"

"Was?"

"Fraktur. So von wegen und so."

"Ja, Fraktur, das ist richtig."

"Jetzt aber, kleine Evelyn, muss ich langsam an den Aufbruch denken. Mit meinem Bein kann ich nicht so fix laufen." "Ich gebe Ihnen Atlanta. Können Sie reiten?"

Büchner schüttelte den Kopf: "Reiten?"

"Sie müssen nur oben bleiben und sich immer gut festhalten. Dann ist das nicht schwer. Kommen Sie, ich helfe Ihnen." Büchner, belustigt über dieses Angebot, willigte ein. Er schlug vor, den gefallenen Baum als Trittbrett zu nehmen, raffte seine Sachen zusammen und kletterte auf das Pferd. Das stand ganz still und hielt die Ohren hoch. Der Reiter aber schluckte tapfer seine Schmerzen hinunter.

Evelyn sah das, und er tat ihr leid. Fürsorglich fasste sie den Halfter und leitete Atlanta.

Büchner erinnerte sich an das Lied von vorhin, das er gesungen hatte:

"Wir sind nicht stolz, wir brauchen keine Pferde,
die uns von dannen ziehn. Fa la la la!"

Dieser sonderbaren Lage zum Trotz sang er jetzt einen neuen Vers:

"Wir trocknen uns, wohl unter grünen Bäumen
den Schweiß vom Angesicht. Fa la la laI"

Evelyn sah zu ihm auf. "Ist das Lied zu Ende?"
Ohne Antwort zu geben, sang er weiter:

"Wir reisen fort von einer Stadt zur andern,

solang es Gott gefällt. Fa la la la!"

So wanderten sie einige Zeit. Evelyn schritt neben dem Tier her und plauderte. Sie plauderte pausenlos, wie Mädchen in ihrem Alter plaudern, ohne Punkt, Strich und Komma. Das Schilf wogte, von kleinen WeIlchen bewegt, sanft hin und her, und aus dem Wald quoll der Duft blühender Sträucher und atmender Erde. Atlanta schien Gefallen an diesem Spaziergang zu haben. Sie schlug mit dem Schweif, tänzelte mit der Hinterhand, und plötzlich, als wollte sie Tote wecken, schrie sie auf, wieherte ein langes Pferdewiehern, dass es nur so durch den Wald drang und Schwärme schlafender Vögel aufscheuchte. Ein Eichelhäher strich von seinem Ast, krächzte und spielte sich als Wächter des Waldes auf. Büchner zuckte zusammen. Beinahe wäre er aus dem Sattel gefallen, so sehr hatte das Tier ihn erschreckt.

Doch im gleichen Moment knackte es im Unterholz. Hinter wucherndem Buschwerk sprang ein Junge hoch und preschte davon.

"Da, der Junge!", schrie Evelyn erregt. "Das ist er. Soll ich ihm nach?"

Büchner sah den Jungen wie gescheuchtes Wild zwischen den Bäumen verschwinden. Noch einmal tauchte er kurz beim Überqueren des Pfades auf, dann verlor er ihn aus dem Auge.

"Lass ihn laufen, Evelyn I" sagte Büchner und versuchte das Mädchen zu beruhigen. Sein plötzliches Erscheinen und seine Flucht hatten sie ganz wribblig gemacht. "Wir werden ihn gewiss wiedererkennen."

"Ich auch! Worauf Sie sich verlassen können!"

Sie sprang in den Busch und fand die Stelle, wo der Junge gelauert hatte.

Einen Augenblick sah sie sich dort um, als suchte sie etwas Bestimmtes. Dann rief sie: "Ich habe Spuren!" - und winkte triumphierend mit einigen blaugrünen Blättchen Bonbonpapier. "Und hier, hier sind auch die Fußabdrücke! Ganz deutlich."

Mit geröteten Wangen kehrte sie zurück.

"Nun wirst du doch was Spannendes erleben, nicht wahr?", sagte Büchner und fand echtes Gefallen an ihrer Begeisterung.

Evelyn zappelte vor Ungeduld: "Die Bonbonpapiere habe ich eingesteckt, zu dem Halm von vorhin, wissen Sie?"

"Corpus delicti", sagte Büchner.

Als rechts die Holzbrücke zum Bootssteg sichtbar wurde, bat Büchner zu halten. "Ich werde jetzt absteigen und den Weg allein zu gehen versuchen."

"Kommt nicht in Frage", entschied Evelyn. "Atlanta trägt Sie bis nach Hause."

"Aber was sollen meine Kollegen von mir denken, Evelyn, wenn sie mich hier auf einer Krankensänfte sehen."

"Sagen Sie einfach, ein Krokodil hätte Sie gebissen - oder so. Nein, man soll nicht lügen", verbesserte sie sich. "Am besten, Sie sagen, Evelyn Vornagel hat Sie vorm Verhungern gerettet." Sie lachte hell auf.

"Ja, wahrhaftig, das kommt der Wahrheit bedeutend näher. Wenn Evelyn Vornagel nicht gekommen wäre, dann hätte der arme Harald Büchner bis zur nächsten Eiszeit dort hinten sitzen müssen."

Also gab er nach.