Impressum

Jan Eik

Shooting

Ein Fotografenkrimi

ISBN 978-3-95655-433-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2000 im Verlag avedition Ludwigsburg.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

© 2015 EDITION digital®
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1. Kapitel

Der Abend kroch kalt und regnerisch den Hügel hinauf. Zwischen den kahlen Bäumen hindurch schimmerten die Lichter der Stadt über dem Wasser. Von der Außenalster wehten feuchte Schleier in die Gasse und umgaben die Laternen mit einer milchigen Aura.

Ein bisschen ratlos stand Oliver John vor der imposanten weißen Stadtvilla. Mehr als dreimal zu klingeln schien ihm sinnlos. In keinem der drei Geschosse regte sich etwas. Oder knackte da eine Tür?

OJ, wie ihn seine Freunde und Bekannten nannten, seit ein gewisser amerikanischer Footballstar unter dem gleichen Monogramm weltberühmt und später weltberüchtigt geworden war, versuchte sein Ohr an die Profilglasscheibe der schweren Haustür zu legen, aber das nasse schmiedeeiserne Blätterwerk in echtem Jugendstil hinderte ihn daran. Oder vielmehr die Größe seines Kopfes. Dennoch war er sicher, ein Geräusch im Treppenhaus zu hören. Nachdrücklich presste er ein viertes Mal zwei Finger auf das mittlere der leuchtenden Schilder, das nur die Buchstaben dp trug. Dolf Parey. Das hatte in der Freien und Hansestadt gefälligst jeder Mensch zu wissen und zu entschlüsseln, den es anging. Der Mieter darüber hieß Standard Cosulting KG, und auch der Rechtsanwalt im Erdgeschoss führte seinen vollen Namen und Titel auf. Ein Dolf Parey hatte das nicht nötig.

Leichter Unmut stieg in OJ auf, als sich im Haus noch immer nichts rührte. Er hatte seine Zeit nicht in der Lotterie gewonnen. Mochte der gute Dolf ein noch so bekannter und erfolgreicher Fotograf sein, es gab Regeln der Höflichkeit, die auch in Hamburgs vornehmstem Wohnviertel galten. Immerhin hatte er sich nicht als Bittsteller oder als unangemeldeter Besucher auf den weiten und bei diesem Wetter höchst unangenehmen Weg von Berlin bis nach Pöseldorf gemacht. Dolf selber hatte ihn dringlich aufgefordert zu kommen. Dass ihm der Stau auf der regennassen Autobahn eine Verspätung um mehr als zwei Stunden eingebracht hatte, verfluchte OJ seit ebenso vielen Stunden. Auf der A 24 war ein Lastzug beim Überholen ins Schleudern geraten, hatte die Leitplanke durchbrochen, zwei Pkw zu Schrott zermahlen, einen Kleinbus gestreift und ein Chaos mit insgesamt vier Schwerverletzten hinterlassen. Das Unglücksgefährt war mit Schokoladenrohmasse beladen gewesen, wie OJ kurz vor Hamburg den ewig nachhinkenden Verkehrsfunkmeldungen entnahm.

Gegen derlei Schicksalsmächte kam nicht einmal ein Privatdetektiv im Dienst an. Jedenfalls fühlte sich OJ im Dienst, seit ihn Dolfs ein wenig konfuser Anruf am frühen Freitag nachmittag überrascht hatte. Wohin mochte der inzwischen gegangen sein? Wahrscheinlich gab es hier irgendwo in der Nobelgegend eine gemütliche Weinklause, wo er herumhockte und über den unzuverlässigen Berliner räsonierte. Dass der viel beschäftigte Starfotograf in seiner Dunkelkammer eigenhändig arbeitete, traute ihm OJ am wenigsten zu. Außerdem entwickelten Fotografen heutzutage ihre Fotos kaum noch selbst, und im Übrigen beschäftigte Dolf einen Assistenten. Er hatte schon in der Zeit ihrer eher zufälligen Wohngemeinschaft in Berlin keine Vorliebe für niedere Tätigkeiten an den Tag gelegt.

OJ wischte den Wasserschleier von den Brillengläsern und blickte ein vorletztes Mal zu der erleuchteten Fensterreihe im ersten Stock der stattlichen Villa auf. Bewegte sich da nicht der Vorhang? Die Fenster gehörten zu Dolfs Atelier; das wusste er mit Sicherheit. Er besaß ein optisches Gedächtnis, wie es sich für seine Profession gehörte, und er erinnerte sich sehr gut an seinen einzigen Besuch in Dolfs großzügig ausgestatteter Etage. Der lag schon etliche Jahre zurück, als OJ selber noch kein Bewohner, geschweige denn Besitzer einer beinahe ebenso prächtigen Villa im Berliner Grunewald gewesen war und ihn Dolfs Reichtum deshalb doppelt beeindruckt hatte.

OJ verspürte keinen Neid. Sie gehörten beide zur Generation der Erben, denen nach Berechnungen der Finanzfachleute Billionen ins Haus standen. OJ hatte seinen Anteil gänzlich unerwartet von seiner Tante Mechthild geerbt. Dolf hingegen hatte etwas vollbracht, das sehr viel seltener vorkam: Er war durch eigene, noch dazu kreative Arbeit reich geworden. Und berühmt. Zumindest in den einschlägigen Kreisen.

Obwohl seine Bilder als auffällige Doppelseiten die wichtigsten Journale der Republik und gelegentlich des Auslandes schmückten, kannte das große Publikum den Namen Dolf Parey kaum. Dolfs Fotos zeigten keine adligen Schönheiten oder pinkelnde Prügelprinzen, keine magersüchtigen Models und keine verhungernden Kinder, sie lieferten kein grausiges Anschauungsmaterial vom jeweiligen Kriegsgeschehen auf dem Balkan oder in Tschetschenien. Sie verrieten nicht einmal den Namen des Fotografen. Nur wer darauf achtete, entdeckte links oben die unauffälligen Logos der führenden Werbeagenturen, für die Dolf Parey arbeitete. Womöglich war von dort ein dringender Hilferuf an ihn ergangen. Aber Dolf hätte dann wenigstens eine Nachricht an der Haustür hinterlassen oder das Handy anrufen können.

Rechts, in Richtung auf die benachbarte, nicht weniger hochherrschaftliche Villa, erstreckte sich ein von gusseisernen Säulen flankierter Erker, der in Höhe von Dolfs Atelier in einem ausladenden Balkon endete. Dort hatten sie damals gesessen, anfangs noch umschwirrt von Dolfs eifrigem Famulus, und ein paar Flaschen Rotwein niedergemacht.

OJ zog das Handy aus der Innentasche und wählte Dolfs Nummer. Nach zwei Rufen meldete sich der Anrufbeantworter. Unzufrieden beschloss OJ, Dolf eine weitere Viertelstunde zuzugestehen und eine Runde ums Karree zu drehen. Der Nieselregen, der ihm die Brillengläser vernebelte, machte ihm wenig aus. Er befand sich schließlich in Hamburg. An einem Nobelladen für Fine Arts und einer Galerie vorbei erreichte er die Hauptstraße des Viertels. Ab und an rauschte ein Auto in Richtung Eppendorf. An der zweiten Ecke bog er wieder zum Alsterufer hin ab. Die Musikhochschule residierte in dieser noblen Gegend. An der Ecke gab es sogar ein kleines Theater.

In einem Fenster im Erdgeschoss glommen anheimelnd altmodische Lampen. Vielleicht saß Dolf dort und trank ein Viertel Rotwein.

Er saß nicht. OJ stolperte als der beinahe einzige Gast in das stilvolle Etablissement. Gegen die Qualität des Tees, den ihm der Wirt umständlich zelebrierte, war nichts einzuwenden, gegen die hanseatisch hochmütige Miene des Mannes schon eher. Wahrscheinlich wartete er auf die Theaterbesucher.

„Sie kennen doch sicher Dolf Parey, den Fotografen“, wandte sich OJ nach einiger Zeit an ihn. „Wohnt gleich um die Ecke. Verkehrt er hier gelegentlich?“

Der Mann stand hinter dem Tresen und polierte seine Gläser, als gäbe es keine Tätigkeit auf dieser Welt, die einen Menschen intensiver in Anspruch nehmen könne. „Hier verkehrt nur Prominenz“, sagte er herablassend, allerdings in einem eher rheinischen Idiom, doch es war klar, dass diese Definition profane Zufallsgäste wie einen mit Jeans und feuchter Lederjacke bekleideten Privatdetektiv samt seinen indiskreten Fragen für immer und ewig ausschloss. Sah er denn aus wie ein Bahnhofspenner? Oder gar wie ein sensationsgeiler Djornalist, wie dieser Beruf neuerdings ausgesprochen wurde, nur weil er sein Notizbuch hervorgezogen hatte, in dem noch nicht mehr stand als die Uhrzeit von Dolfs Anruf und der Buchstabe E. Er setzte ein Fragezeichen dahinter und bezahlte den Tee auf den Groschen genau. Plötzlich hatte er es eilig, zu Dolfs Edelatelier zurückzugelangen. Irgendetwas trieb ihn. Dolf war nie besonders zuverlässig gewesen, aber jemanden so wörtlich im Regen stehen zu lassen entsprach nicht seiner Art.

Er fand die Lage unverändert vor. Niemand reagierte auf sein Klingeln. Unruhig beäugte er noch einmal die erleuchteten Fenster und schritt bis zum Ende der Grundstücksfront. Merkwürdig. Es sah aus, als hätte jemand die Balkontür geöffnet.

Von den drei Möglichkeiten - weiter nutzlos herumzustehen und auf Dolf zu warten, sich nach dem Hinterlassen einer Botschaft davonzumachen oder endlich etwas Praktisches zu unternehmen - wählte er die seinem Gewerbe angemessene. Er zog die Lederhandschuhe an und schwang sich nach einem sichernden Rundblick über das schmiedeeiserne Zaungitter. Auf knirschendem Kies drang er bis an die Seitenfront der Nachbarvilla vor und blickte zum Balkon hinauf. Tatsächlich. Trotz der Märzkühle stand die Tür von Dolfs Arbeitsraum weit offen.

Er stieß einen nicht allzu lauten Pfiff aus, der ihm im gleichen Augenblick unsinnig erschien. Die schrille Türglocke musste einen Toten aufwecken. Er hob ein Steinchen auf und warf es in Richtung der dunklen Türöffnung, und dann noch einen zweiten, etwas größeren Kiesel, der gut in der Hand lag und im Zimmer laut auf den Holzfußboden polterte.

Nichts geschah. Oder klappte da eine Tür?

Oliver John bewegte sich zum Zaun zurück und spähte auf die Straße. Ungefähr einhundert Meter entfernt bog eine schemenhafte Gestalt um die Ecke, die einen eckigen Gegenstand unter dem Arm trug. Die Person konnte ebenso gut aus Dolfs Haustür wie aus jedem der Häuser von hier bis zur Ecke gekommen sein.

OJ kehrte zu dem Platz unter dem Balkon zurück. Er maß den von schlanken Säulen getragenen Anbau mit dem fachmännischen Blick des ehemaligen Architekturstudenten. Die lästigen Festigkeitsberechnungen hatten entscheidend zum vorzeitigen Abbruch seiner baumeisterlichen Studien beigetragen. Dass diese gusseisernen Pfeiler die solide Statik der Hamburger Hochbahn aufwiesen, erkannte auch ein Laie. Oben im Balkongitter liefen sie wie bei einem Erbbegräbnis als geschuppte Metallzapfen aus.

Binnen zwei Minuten war OJ zurück, das Abschleppseil des Volvo in den Händen und schon dabei, eine wurfgerechte Schlinge zu knüpfen. Zuletzt hatte er sich als zwölfjähriger Cowboy mit mäßigem Erfolg im Lassowerfen geübt.

Der achte Versuch glückte. Das Seil hing an einem eisernen Zapfen und widerstand dem stärksten Zug. Er sah sich noch einmal um, bevor er sich an den Aufstieg machte. In Pöseldorf war um diese Zeit die Welt komplett in Ordnung.

Die Gusseisensäule erwies sich trotz aller Vorsprünge und Kannelierungen als glatt und tückisch, doch bot das Seil Halt und Sicherheit, bis er das Balkongitter erreichte und sich schnaufend darüberschwang.

Die nasse Seilschlinge saß unter dem gusseisernen Zapfen fest. Nur mit Mühe lockerte er die Schlinge, streifte sie über den Knauf und legte das Seil zusammen. Es gehörte weder zu seinen privaten Gewohnheiten noch zu seinen beruflichen Pflichten, sich auf diese Weise Einlass in fremde Häuser zu verschaffen, doch die vage Erinnerung an die gemeinsame Zeit in der fidelen Kreuzberger Wohngemeinschaft, wo Dolf einmal in angeheitertem Zustand über die Loggia der Nachbarwohnung heimgekehrt und im falschen Zimmer gelandet war, hatte seinen Entschluss erheblich erleichtert.

Du brauchst mich dringend, Dolf? Bitte sehr, hier bin ich!

Ein Auftritt nach OJs, aber auch nach Dolfs Geschmack. Das hoffte OJ jedenfalls.

Dennoch näherte er sich der offenen Tür, aus der ihm der leinene Vorhang entgegenwehte, vorsichtig. Nur ein wohlhabender Frischluftfanatiker hielt an einem so kühlen Abend das Fenster so lange geöffnet.

Er schob den Vorhang gänzlich zur Seite und verharrte auf der Schwelle. Der Raum war bis auf wenige Möbelstücke und Gegenstände, deren künstlerische Daseinsberechtigung man im Halbdunkel nur erahnte, anscheinend leer. Durch die halb offene Tür zum Nebenzimmer fiel ein heller Lichtstreifen quer über Teppich und Parkett.

OJ zögerte. Etwas an diesem schwach beleuchteten Stillleben befremdete ihn. Er räusperte sich laut, klopfte mit der behandschuhten Hand an die Balkontür und rief: „Dolf?“, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

Ein unbestimmtes Gefühl hinderte ihn, sich mit nassen Schuhen quer über das blanke Parkett und den hellen Teppich auf den Nebenraum, das eigentliche Atelier, zuzubewegen. Da lag etwas in der Luft. Schnuppernd identifizierte er den Grund seiner unguten Empfindungen. Es roch schwach nach verbranntem Schießpulver.

Der Geruch war ihm noch von den langen Saufabenden der heimatlichen Schützengilde in Westfalen her vertraut und von den Nächten, die er frierend mit seinem Vater auf dem Anstand verbracht hatte. Hier hatte jemand geschossen. Wahrscheinlich vor nicht allzu langer Zeit, und er hatte die Balkontür geöffnet, um den intensiven Geruch abziehen zu lassen.

OJs Jagdinstinkt erwachte. Trotz seiner selbst gewählten Profession war er alles andere als ein begeisterter Schütze oder Waffennarr und besaß nicht einmal eine Schreckschusspistole. Er legte das Seil aus der Hand, zog die Schuhe aus und schlich auf die offene Tür zu. Sein Fuß stieß gegen etwas Rundes, das über den Boden kullerte. Der weiße Kiesel, den er geworfen hatte. Er versenkte ihn in der Jackentasche.

Ein Windstoß fuhr durch die offene Balkontür und bewegte die Tür zum Atelier. Polternd fiel dort etwas um.

Mit zwei lautlosen Sätzen war OJ neben der Tür. Aus dem großen Raum, der sich über die halbe Etage erstreckte, drang der aufdringliche Geruch noch stärker, und als OJ um die Ecke in den von indirektem Licht hell durchfluteten Raum spähte, erkannte er den Grund. Jemand hatte die kurzläufige Jagdflinte abgefeuert, die bei seinem vorangegangenen Besuch in Mannshöhe an der Wand gehangen hatte und von der Dolf eine launige Anekdote zu berichten wusste. Die Waffe musste das Geräusch verursacht haben. Sie lag dem Jemand zu Füßen, der auf dem Sofa saß, den Kopf weit hintenüber, eine blutige Masse dort, wo einmal sein Gesicht gewesen war.

OJ zog die Luft scharf durch die Zähne. So hatte er sich das Wiedersehen mit Dolf Parey nicht vorgestellt.

2. Kapitel

OJ hatte sich nie Illusionen über seinen Beruf hingegeben. Begonnen hatte er als Student mit Kleinstaufträgen für ein renommiertes Berliner Detektivbüro: Solvenzüberprüfungen und die üblichen Beobachtungen von Ehepartnern, das tägliche Brot für den selbst ernannten deutschen Detektiv, wenn er nicht sein Leben mit dem Fangen von Ladendieben in Kaufhäusern und Supermärkten verbringen wollte. Geheimnisvolle Fälle und attraktive Delikte, an denen die amerikanischen Kollegen im Fernsehen ihren Geist und ihren Hang zur Action übten, blieben in Deutschland der Polizei vorbehalten. Und Tötungsdelikte allemal.

Genau genommen handelte es sich um einen einzigen Toten, den OJ bisher in seiner Laufbahn leibhaftig erblickt hatte. Der Mann, ein nicht unbedeutender Architekt und dreifacher Mörder, hatte die Waffe gegen sich selbst gerichtet, als er sich von OJ überführt sah. Ein Erfolg, auf den OJ nicht besonders stolz war. Auch was er hier vor sich sah, verriet alle äußerlichen Anzeichen einer sorgfältig inszenierten Selbsttötung. Obwohl das zerfetzte Gesicht des Toten kaum eine eindeutige Identifizierung zuließ, zweifelte OJ nicht daran, dass es sich um den Mann handelte, mit dem er vor wenigen Stunden telefoniert hatte. Dolf Parey, mit einer bequemen Hose, einem am Kragen offenstehenden, ehemals sandfarbenen Hemd und einer Wildlederweste bekleidet, saß mit herabhängenden Armen auf dem blutbesudelten Sofa, den Kopf von der Wirkung des Schusses zurückgeworfen, die nackten Füße in verkrampfter Haltung auf dem flauschigen Teppich. Wenn es sich wirklich um einen Selbstmord handelte, dann hatte Dolf den Abzug der Waffe mit dem Zeh betätigt.

Vorsichtig näherte OJ sich der Leiche, bemüht, keine Spuren zu erzeugen oder zu verwischen. Der Schuss hatte eine entsetzliche Wunde hinterlassen. An den schwärzlichen Wundrändern war das Blut bereits erstarrt. Es musste sich um groben Schrot handeln, mit dem Dolfs Leben ein Ende bereitet worden war.

OJ zog den Handschuh aus, legte die Hand widerstrebend an Dolfs Halsschlagader und spürte eine gewisse Kälte, die von der feuchten Haut ausging. Der Schuss war nicht erst in den letzten Minuten gefallen, aber lange konnte Dolf noch nicht tot sein.

Wenn es ein Selbstmord war - was mochte ihn dazu getrieben haben? Auf ganz ähnliche Weise hatte sich vor vierzig Jahre ein gewisser Hemingway aus dieser Welt davongemacht. Nur hatte der nicht vorher einen dreihundert Kilometer entfernt von ihm lebenden und ihm nicht einmal besonders nahestehenden Freund alarmiert. Wie ein letzter Wille hatte der Anruf keineswegs geklungen.

OJ sah sich um. Auf dem Computerbildschirm zwischen den Fenstern pulsierten geometrische Muster. Auf der Glasplatte des niedrigen Tisches lagen Zeitschriften und Fotos verstreut, im Aschenbecher eine halb gerauchte Zigarette und etwas Asche, ein überdimensionierter Kaffeetopf stand daneben. OJ beugte sich darüber. Das Gefäß enthielt einen Rest der schwarzen Flüssigkeit, die Dolf bevorzugt hatte, wenn er nicht Wein trank.

Nirgendwo lag ein Abschiedsbrief. Ein langer Text wäre nicht Dolfs Sache gewesen. Sein Metier war die Fotografie. Was sich nicht mit Fotos ausdrücken ließ, besaß für ihn kaum Bedeutung. Insofern passte die blutrünstige Abgangsinszenierung zu ihm. Allerdings würden die Fotos davon nur in einer Polizeiakte verstauben, statt von den CD-ROMs der Bildagenturen heruntergeladen und in aller Welt verbreitet zu werden.

Durch die mit Jugendstilmotiven geschmückten Oberlichter der Dielentür schimmerte Licht. OJ zog den Handschuh an und wollte die Tür gerade am Klinkenknauf öffnen, als auf einem rustikalen dänischen Holzmöbel die Telefon- und Faxanlage melodisch zu dudeln begann. Zweimal, dreimal. Dann antwortete das Gerät mit Dolfs markanter Stimme. Eine Frau mit deutlich süddeutschem Tonfall bat ihn inständig, sich endlich zu melden. Er wisse doch, dass es auf beinahe jede Minute ankomme!

Der letzte Satz klang wie eine nachdrückliche Forderung.

OJ trat näher. Ob noch mehr Gespräche aufgezeichnet waren? Vielleicht ließ sich die Uhrzeit erkennen, nach der Dolf nicht mehr abgenommen hatte.

Das geht dich einen feuchten Kehricht an, ermahnte OJ sich verdrießlich. Du bist hier kein Ermittler. Im Gegenteil. Man wird dir viele Fragen stellen. Viel zu viele. Und auf die meisten wirst du keine ausreichende Antwort wissen. Es würde kein erfreuliches Gespräch mit den Beamten werden, wenn man ihn hier antraf. Besser, er verschwand so schnell wie möglich. Der Polizei würde ein aus Berlin angereister Freund, der keinen Einlass in das Atelier fand, plausibler erscheinen als ein vorsätzlicher Eindringling, der die Leiche zufällig entdeckt haben wollte.

Die geräumige Diele mit den drei Bauhaus-Freischwingern um einen Bistrotisch sah genauso aus, wie OJ sie in Erinnerung hatte. Den Platz zwischen den Türen nahmen Poster aus Dolfs Produktion ein. Ein in die Weiten der australischen Wüste blickendes Känguru fiel besonders auf. Ein typisches Parey-Motiv, einfach, einprägsam und vieldeutig.

An dem ausladenden Garderobenständer hingen nur ein Schal und eine einsame Schiffermütze. In der Ecke lehnte ein weiteres maritimes Gerät, ein halbmannshoher Anker, wie ihn manche Leute im Vorgarten drapierten. OJ fehlte der Hang zu derlei romantisierendem Zierrat. Er hängte sich ja auch keine verschlissene Bremsbacke seines Volvo an die Wand.

Von der Diele gingen die ehemalige Küche und das Bad ab, dazu zwei weitere Räume. Der größere enthielt, den vielfach unterteilten Schränken nach zu urteilen, Dolfs Archiv. Der kleinere glich einer Rumpelkammer. OJ erkannte Stapel von Büchern und Journalen und eine Liege mit Bettzeug. Er zog es vor, kein zusätzliches Licht einzuschalten, und klinkte an der mit weiß lackierten Stahlplatten beschlagenen Etagentür. Hatte Dolf sich vor Einbrechern gefürchtet? Zwei zusätzliche Sicherheitsschlösser deuteten darauf hin. Das Schlüsselbund steckte. Dennoch war die Tür unverschlossen. Sie besaß außen stilvolle Glaseinsätze und eine schlanke Messingklinke.

OJ horchte in das dunkle Treppenhaus. Nichts regte sich. Zögernd tappte er die teppichbelegte Treppe hinunter. Die Fliesen im Parterre strahlten Eiseskälte aus. Durch die Oberlichter der geschnitzten Haustür fiel Laternenschein. Er fand die Klinke. Einen Augenblick widerstand die Tür, dann ließ sie sich öffnen. OJ suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie sich offenhalten ließ. Der Kiesel in der Tasche schien ideal dafür. Sanft stieß die Tür gegen den Stein. Zufrieden machte sich OJ auf die Socken nach oben. Wer wollte beweisen, dass er die Tür von innen geöffnet hatte.

Der Tote bot den gleichen scheußlichen Anblick wie zuvor.

OJ verspürte wenig Lust, sich als Gerichtsmediziner zu versuchen. Er fragte sich nur, was hier in den zwei Stunden vorgefallen war, die Dolf auf ihn gewartet hatte. Was hatte den Fotografen überhaupt veranlasst, ausgerechnet ihn anzurufen? Seit sie sich vor einigen Jahren zufällig wiederbegegnet waren und OJ den alten WG-Kumpel bald darauf besucht hatte, war ihr Kontakt so lose geblieben wie in dem Jahrzehnt zuvor. Dolf war ein Hansdampf in allen Gassen, überall und nirgends zwischen Miami und Neuseeland, dem hohen Norden und Südafrika zu Hause, wenn es der Job erforderte, und mit Freunden und Bekannten in der ganzen Welt. Irgendwann hatte OJ ihn über seine Erbschaft und seine veränderten Wohn- und Berufsverhältnisse informiert und nach Berlin eingeladen. Dolf hatte sich nie gemeldet. Bis zu jenem überraschenden Anruf am heutigen Nachmittag.

Er wandte den Blick von dem Toten ab und versuchte, sich genau zu erinnern, was Dolf gesagt hatte ...

Ich habe einen delikaten Auftrag für dich. So etwas Ähnliches jedenfalls.

OJ verspürte keine Lust, alles stehen- und liegen zu lassen und nach Hamburg zu fahren. Du beauftragst besser eine Hamburger Detektei. Das wird entschieden billiger, hatte er gesagt.

Dolf hatte gelacht. Mach dir darum keine Sorgen. Ich brauche jemand, der mein Vertrauen besitzt.

Okay. Und worum geht es?

Das erkläre ich dir vor Ort.

Ein Stichwort könntest du mir ruhig geben, hatte OJ unzufrieden gesagt. Muss ich irgendwas Spezielles einpacken?

Nein, nein. Eher was mitnehmen.

Und dann, ehe das Gespräch ganz plötzlich zu Ende gewesen war, hatte Dolf ziemlich leise und beinahe unverständlich hinzugefügt: Handelt sich nur um ’ne kleine Erpressung ...

Es hatte eher wie ein Scherz geklungen. War die erpresste Summe so gewaltig oder das, was irgendjemand gegen Dolf in der Hand hatte, so vernichtend, dass der es vorgezogen hatte, sich zu erschießen? Mit einer Antiquität, die seit Jahren zwischen allerlei Kunst und seltsamem Hausrat an der Wand hing. Geladen?

OJ wandte sich um und betrachtete die Waffe genauer. Eine alte Jagdflinte mit zwei nebeneinanderliegenden kurzen Läufen und ziselierten Beschlägen. Ein sogenannter Zwilling, die Läufe so dick, als habe man damit einen Räuber auf der Operettenbühne ausrüsten wollen. Er verstand nicht genug von Waffen. Immerhin kannte er den Unterschied zwischen dem glatten Lauf einer Flinte und einer Büchse mit gezogenem Lauf. Sein jagdbesessener Vater hatte ihm beigebracht, dass man auf Hasen mit einem anderen Rohr und anderer Munition als auf Rehe schoss. Und mit einem Reh hatte die alte Feuerwaffe zu tun, wie OJ sich dunkel erinnerte. Dolf hatte eine Anekdote dazu erzählt, deren Einzelheiten ihm jetzt nicht einfallen wollten.

Er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste das Seil ins Auto zurückbringen und so schnell wie möglich die Polizei verständigen. Und sich bis zu deren Eintreffen eine einigermaßen glaubwürdige Version für seine Anwesenheit im Atelier einfallen lassen. Wie war er hereingekommen? Weshalb sollte die Tür offengestanden haben?

Gut, Dolf hatte ihn hierherbestellt; der Anruf ließ sich zur Not nachweisen. Ihre alte Bekanntschaft und Freundschaft auch, wenn man davon absah, dass Dolf, der damals noch Rudi hieß, in der WG wahrscheinlich ebenso wenig korrekt gemeldet gewesen war wie er selber. Für Dolf hatte es sich nur um ein Intermezzo gehandelt, eine günstige Gelegenheit, tief in die Berliner Szene einzutauchen, um endlich mit einem Fundus von Hunderten von Bildern den Markt und die Hauptstadt der Fotografen zu erobern: Hamburg. Überrascht hatten OJ und die restlichen WG-Genossen damals festgestellt, dass Dolf verheiratet war, nicht einmal unglücklich, wie es schien, und eine Tochter besaß, die bereits zur Schule ging. Dörte und Rica waren eines Tages mit größter Selbstverständlichkeit in der WG aufgetaucht, um den Papa abzuholen, eine sehr ansehnliche blonde Frau und ein etwas nerviges Kind, das am liebsten durch alle Räume tobte, nur gelegentlich von Dörte mit einem schwachen „Ach, Riekchen“ ermahnt.

Riekchen musste inzwischen über zwanzig sein, und OJs Fantasie reichte aus, sich vorzustellen, was für ein aufreizend unbekümmertes Girlie aus ihr geworden sein mochte. Er wusste nicht einmal, ob Dolf noch mit Dörte verheiratet war. Auch bei ihrem letzten Treffen war Dolf persönlichen Fragen mit großmäuligen Berichten aus dem internationalen Fotografenalltag ausgewichen, hatte seinen Assistenten, einen jungen Burschen mit runder Brille und pechschwarzem Pferdeschwanz, gescheucht, Fotos vom letzten Australienshooting und Zeitschriftenbelege herbeizuschaffen, Kuchen vom Bäcker zu holen und Kaffee zu kochen.

Bevorzugst du jetzt männliche Dienstboten, hatte OJ den Hausherrn gefrotzelt. Dolf hatte abgewinkt und gewartet, bis der Junge verschwunden war. Ein begnadeter Fotograf! Aber man darf es ihm um Gottes willen nicht sagen. OJ erinnerte sich an Dolfs Worte. Und er hatte sich gewundert, dass der so begnadete junge Mensch ohne zu murren die Arbeiten einer Haushälterin oder braven Ehefrau erledigte.

Indessen war er, immer noch auf Socken und mit den Schuhen in der Hand, in das Balkonzimmer zurückgekehrt. Am Eckfenster neben der Balkontür schob er die Vorhänge ein wenig auseinander. Der Regen war stärker geworden und schlug Blasen in den Pfützen.

Und noch etwas hatte sich vor dem Haus verändert. Hinter seinem Volvo parkte ein dunkelroter Audi. Die Nummer vermochte OJ nicht zu erkennen. Aber während er den Wagen beobachtete, glühte hinter der Windschutzscheibe für einen Augenblick ein Lichtpunkt auf. Jemand saß am Lenkrad und rauchte.

OJ presste seine Schuhe an die Brust und überlegte. Dank seiner Voreiligkeit stand die Haustür offen. Weshalb hatte er nicht gleich Schuhe und Seil mitgenommen und die Tür erst dann arretiert, um zehn Minuten später fast reinen Gewissens im Haus aufzutauchen, den Toten zu finden und selbstverständlich sofort die Polizei anzurufen. Sich jetzt noch auf die unglaubwürdige Erklärung seiner Anwesenheit einzulassen - dazu war es zu spät. Der unerwartete Beobachter komplizierte die ohnehin unerfreuliche Situation. Solange der vor der Haustür parkte, blieb nur der Rückweg per Seil. Eine Variante, die ihm nicht gefiel.

Im Atelier dudelte das Telefon seine stumpfsinnige Melodie. OJ schlich zurück, die Schuhe noch immer in der Hand, und blieb im Türrahmen stehen. „Ich komme jetzt rauf“, sagte eine gepresste männliche Stimme. „Aber denke daran: Ich bin nicht alleine.“

Es knackte. Der Anrufbeantworter schwieg.

Normalerweise mangelte es OJ nicht an Kaltblütigkeit. Diesmal schien ihm die Situation gründlich verfahren. Weshalb kündigte sich der Audifahrer so martialisch an? War er der Erpresser, vor dem sich Dolf so sehr gefürchtet hatte?

Im Grunde spielte das angesichts seiner eigenen Situation kaum eine Rolle. Er befand sich ohne ausreichende Erklärung in der Wohnung eines Toten. Sollte er den Erpresser erwarten und sich später mit der Polizei in eine fruchtlose Diskussion einlassen? Er konnte nichts beweisen.

Jetzt war alles egal. Er huschte zurück ins Nebenzimmer. Das Seil lag neben der Balkontür. Mit einem langen Schritt stand er draußen. Die Nässe drang sofort durch die Socken. Die Schuhe hielt er wie ein Depp in der Hand.

Behutsam zog er die Tür fest hinter sich zu. Erst dann schlüpfte er in seine Schuhe und bewegte sich geduckt zum hinteren Balkongitter.

Die Eisenzapfen erwiesen sich nicht alle als gleichermaßen stabil. Der Abstieg gestaltete sich ohnehin schwieriger. Er musste das Seil doppelt nehmen, sich daran herunterlassen und mit der Schlinge in der Hand den Absprung wagen. In Fernsehkrimis klappte so etwas reibungslos. Er kam bei seinem Fall aus anderthalb Meter Höhe unglücklich auf einem Stein auf. Das nasse Seil peitschte ihm über den Schädel. Das Geräusch ging im Rauschen des Regens unter, der in kürzester Zeit auch die Fußspuren beseitigen würde.

Er rollte das Seil ein und schlich zum Zaun. Der rote Audi trug ein Kennzeichen aus Bielefeld und stand nur ein paar Meter entfernt. Ob jemand darin saß, war nicht zu erkennen.

Vorsichtig veränderte OJ seinen Standplatz. Im Fond des Wagens bewegte sich etwas, tauchte schemenhaft auf und verschwand wieder.

OJ zog es vor, nicht über den Zaun zu steigen. Wenn der zweite Mann in dem Audi in den Rückspiegel blickte, würde der ihn bemerken.

Er wartete lange und gewöhnte sich allmählich an das schlechte Licht. Er war jetzt sicher, dass der Mann auf dem Hintersitz liegen musste. Und wenn der etwas beobachtete, dann sicherlich die Haustür oder die Atelierfenster.

Er hängte das Seil an den Zaun und stieg hinüber. Wenn es ihm gelang, unbemerkt um die rückwärtige Ecke zu verschwinden, konnte er das Straßengeviert umrunden und von vorne an seinen Volvo gelangen.

Im Rückfenster des Audi wurde ein zuckender Schatten mit langen Ohren sichtbar; dumpfes Hundebellen drang aus dem Wagen. Niemand beruhigte das Tier.

OJ blickte nach oben. Hinter Dolfs Fenstern rührte sich nichts. Er nahm das Seil und ging dicht am Zaun entlang zu seinem Volvo. Als er den Kofferraum öffnete, winselte der Hund hinter ihm im Audi.

Der Kiesel klemmte noch im Türspalt der Haustür. OJ nahm ihn auf und horchte in das dunkle Treppenhaus. Stille. Er wartete noch einige Zeit, ehe er Stufe für Stufe die teppichbelegte Treppe emporstieg. Oben angekommen, legte er sein Ohr an Dolfs Tür. Nichts. Dann gedämpfte Schritte und leises Rascheln. Er drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür mit Schwung.

Der Mann, der mit Papieren in der Hand in der Ateliertür stand, fuhr herum. OJ fiel sofort auf, dass er dünne hellgraue Stoffhandschuhe trug.

„Guten Abend“, sagte OJ höflich.

„Wer sind Sie?“, fragte der andere scharf. Er war einen Kopf kleiner als OJ, ein kerzengerade aufgerichteter Herr mit imposantem Schädel und schlohweißer Haarmähne über einer auffallend großen Titanbrille, die speziell für ihn angefertigt schien. Er mochte Ende Fünfzig sein, vielleicht auch jünger oder älter, auf jeden Fall gut gepflegt und trotz der frühen Jahreszeit kräftig gebräunt bis in die letzte Gesichtsfalte. Er trug keinen Mantel über seinem eleganten hellgrauen Anzug, auf dem einzelne Regentropfen ihre Spuren hinterlassen hatten. Statt einer Krawatte zierte ein zartblaues Tuch seinen Hals.

„Ich bin ein Freund von Dolf“, sagte OJ harmlos und mit dem notwendigen Befremden. „Er erwartet mich.“

„So? Er erwartet Sie?“ Der kaum mittelgroße, doch gewiss nicht unbedeutende Mann fixierte ihn durch seine Panoramagläser.

Ja.“ Etwas hat sich verändert in der Diele, dachte OJ irritiert. Er trat auf die Ateliertür zu, aber der Mann versperrte ihm den Weg und schloss die Tür.

„Vielleicht sollten wir ein paar Worte miteinander reden“, schlug der Weißhaarige vor. Dem Ton nach war das ein Befehl. Er wies auf die Sitzgruppe. „Nehmen Sie bitte Platz. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

OJ lächelte liebenswürdig. „Ich wusste gar nicht, dass Dolf neuerdings einen Butler beschäftigt. Wird der Job gut bezahlt?“

Dem Weißhäuptigen fehlte der Sinn für Ironie. Nach dem, was er da drinnen im Atelier vorgefunden hatte, wunderte es OJ nicht. Die Miene des Mannes versteinerte zu tausend Fältchen.

„Dolf wollte mich dringend sprechen“, fuhr OJ fort. „Ich hatte eine ziemlich weite Anreise.“

„Aus Berlin?“, fragte Häuptling Silberlocke.

„Jedenfalls nicht aus Bielefeld“, konterte OJ gelassen.

Der Fremde reckte sein ausdrucksvolles Haupt höher, als könne er dadurch OJs Körperhöhe erreichen. „Hat Dolf Sie beauftragt, die Angelegenheit für ihn abzuwickeln?“, erkundigte er sich inquisitorisch.

Der Mann sah nicht aus wie ein gefährlicher Erpresser, aber für einen, der eine Viertelstunde zuvor eine übel zugerichtete Leiche entdeckt hatte, benahm er sich ausgesprochen kaltblütig.

„So ähnlich“, sagte OJ. „Aber dazu müsste ich erst einmal wissen, mit wem ich es zu tun habe.“

Der andere schwieg abwartend.

„Mein Name ist Oliver John. Dolf und ich kennen uns seit gut zwanzig Jahren.“

So leicht war der Weißhaarige nicht zu beeindrucken. Er schien gewohnt, den Ton anzugeben. „Ich kenne ihn länger“, sagte er knapp. „Und wahrscheinlich besser als jeder andere.“

Wen kennt man schon gut genug, dachte OJ. Auch er hatte geglaubt, Dolfs Charakter einschätzen zu können. An Suizid hätte er dabei zuletzt gedacht. Doch gemessen an dem, was in den letzten Stunden passiert war, kannte er sich ja selbst kaum wieder. Und wer war der Mann, dem er so selbstlos den Leichenfund zugeschoben hatte? Ein Galerist? Der Chef einer Werbeagentur? Sein Gehabe erinnerte eher an einen Schauspieler für gehobene Nebenrollen. Nur hätte der sich kaum geziert, seinen Namen zu nennen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu bluffen. „Nehmen Sie ruhig an, Dolf hat mich mit der Abwicklung der leidigen Angelegenheit beauftragt. Vielleicht erzählen Sie mal, wie Sie sich die Sache vorstellen.“

Es war der falsche Ton, das spürte er. Ärgerlich fuhr der Mann ihn an: „Da gibt es nichts zu erzählen.“

„Gar nichts?“, fragte OJ scheinbar gelassen, in Wahrheit fast am Ende seines Lateins. „Es geht doch wohl um einen größeren Betrag. Oder irre ich mich?“

Der Mann bleckte die erstaunlich weißen Zähnen und funkelte ihn an. Er wollte offensichtlich nicht reden.

Das ließ sich ändern. Energisch ging OJ auf ihn zu, drängte ihn zur Seite und öffnete die Tür zum Atelier. „Ich muss erst einmal mit Dolf ..." Er verstummte effektvoll.

Der Weißhäuptige ließ ihn den Anblick in Ruhe genießen. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte er trocken. „Dolf besaß schon immer einen fatalen Hang zum Theatralischen.“

Als sich OJ umdrehte, fiel ihm auf, dass der Computer gerade wieder auf den Bildschirmschoner umschaltete.

3. Kapitel

Die nächste Viertelstunde glich eher einer Farce in beckettscher Manier als ein der Situation und dem Toten angemessenes Requiem. Sie belauerten sich gegenseitig. Der Weißhaarige hatte sich ganz unauffällig der Papiere in seinen Händen und anschließend noch beiläufiger seiner grauen Handschuhe entledigt, sich jedoch noch immer nicht vorgestellt, bis OJ ihm seine Karte förmlich aufdrängte. Der andere warf keinen Blick darauf, brachte aber immerhin ein bissiges „Loos!“ hervor.