Impressum

Heiner Rank

Goldener Sonntag

Kriminalroman

ISBN 978-3-95655-402-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1993 im Verlag Schwarzkopf u. Schwarzkopf, Berlin (edition monade, DER KRIMIVERLAG, Reihe BERLIN CRIME).

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

Alle Geschehnisse und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder realen Ereignissen wären rein zufällig.

 

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Erster Teil

1. Kapitel

In seinem kleinen, eleganten Juweliergeschäft am Roseneck steht Herr Jonathan Braun hinter dem gläsernen Verkaufstisch und schaut hinaus auf die Straße, auf der ein böiger Wind eine Staubwolke von der nahe gelegenen Baustelle vorübertreibt.

Herr Braun trägt einen exquisit geschnittenen hellgrauen Anzug, und trotz seiner fünfundsiebzig Jahre hat er sich eine aufrechte und selbstbewusste Haltung bewahrt.

Die Rokokouhr unter dem Glassturz verkündet mit hellem Klang die erste Nachmittagsstunde. Herr Braun zieht eine goldene Sprungdeckeluhr aus der Westentasche, prüft mit einem kurzen Blick die Zeit und begibt sich nach vorn zur Ladentür, um das eiserne Rollgitter herunterzulassen.

In diesem Moment betreten zwei Männer in langen Mänteln und mit breitkrempigen Hüten das Geschäft. Die Hüte haben sie tief in die Stirn gezogen. Ihre unteren Gesichtshälften sind hinter schwarzen Tüchern verborgen.

„Überfall!“, sagt der Größere. Er stößt Herrn Braun den Lauf einer Pistole in die Rippen und drängt ihn zurück in das Innere des Ladens. Der Kleine verriegelt die Tür. Dann geht er schnell am Verkaufstisch vorbei nach hinten in das Büro, wo Fräulein Leisegang, die Geschäftshilfe des Herrn Braun, vor dem Spiegel steht und sich die Nase für die Mittagspause pudert.

Entsetzt lässt sie die Puderdose fallen und starrt mit offenem Mund und angstvoll geweiteten Augen auf die Waffe, die ihr der Gangster entgegenhält.

„Tresor auf!“

„Das  … das kann ich nicht. Die Schlüssel hat Herr Braun.“

„Bring den Alten rein!“

Der Größere treibt Herrn Braun vor sich her in das Büro.

„Schlüssel!“

Herr Braun zieht ein Schlüsselbund aus der Tasche, das mit einer Kette an der Schlaufe seiner Hose befestigt ist.

Der Kleine fetzt Herrn Braun das Schlüsselbund von der Schlaufe und wirft es zu Fräulein Leisegang hinüber. Fräulein Leisegang kann es in der Aufregung nicht fangen. Es fällt zu Boden. Sie hebt es auf und versucht mit zitternden Fingern, einen der Schlüssel in das Tresorschloss zu schieben. Es ist der falsche. Sie versucht einen zweiten, einen dritten.

Der Kleine verliert die Geduld. „Dämliche Kuh!“

Er reißt sie brutal zur Seite. Fräulein Leisegang strauchelt und stürzt schluchzend auf den Teppich

„So behandelt man keine Dame, Sie Flegel!“, sagt Herr Braun empört.

„Halt's Maul!“ Der Größere packt Herrn Braun im Genick und schlägt ihn hart mit dem Kopf gegen den Tresor. „Aufschließen! Tempo!“

Herr Braun wischt sich mit dem Handrücken das Blut ab, das aus einer Platzwunde an seiner Stirn sickert.

„Ich habe die Kombination für das Zahlenschloss nicht im Kopf. Ich muss sie aus dem Schreibtisch holen.“

„Jetzt reicht's!“ Der Kleinere richtet die Pistole mit dem langen Schalldämpfer auf Fräulein Leisegang. „In fünf Sekunden ist der Kasten auf. Wenn nicht, knall' ich das Weibsstück ab!“

Herr Braun schiebt einen Schlüssel ins Schloss, stellt die Kombination ein, dreht zweimal den Schlüssel herum. Die Tür des Tresors schwingt auf.

Die Gangster stürzen sich auf den Safe. Sie reißen die flachen Kästen heraus, in denen auf rotem Samt Gold und Edelsteine funkeln. Sie schütten den Inhalt der Kästen in eine geräumige Ledertasche, Rubine, Brillanten, Ringe, Armbänder, Halsketten, Broschen.

Herr Braun schiebt sich rückwärts in vorsichtigen kleinen Schritten auf den Durchgang zu, der in den Verkaufsraum führt. Die Gangster knien vor dem Tresor und raffen berauscht die Juwelen in ihre Ledertasche.

Der Größere blickt auf. „Der Alte ist weg!“, schreit er. „Verfluchter Idiot! Du solltest doch aufpassen!“

Der Kleine springt auf und stürzt aus dem Büro.

Über Dahlem und Wilmersdorf stehen dunkle Wolken. Ein Wintergewitter entlädt sich. In schrägen Streifen prasselt der Regen auf Asphalt und Fußgängerwege. Die Straßen sind wie leer gefegt.

Herr Braun läuft aus allen Kräften. Das Wasser spritzt ihm um die Beine. Er ist bis auf die Haut durchnässt.

Nur noch wenige Meter trennen ihn von der rettenden Ecke zur Teplitzer Straße.

Der kleine Gangster hat die Ladentür erreicht. Er sieht Herrn Braun laufen. Er hebt die Waffe. Die Pistole gibt zwei dumpfe Laute von sich.

Herr Braun stürzt vornüber auf das Pflaster und bleibt reglos liegen.

Ein viertüriger schwarzer Wagen löst sich aus einer Parklücke, rast mit aufgeblendeten Scheinwerfern über den Fußgängerweg, stoppt vor der Tür des Juweliergeschäfts. Der zweite Gangster erscheint auf der Straße, in der Hand die prall gefüllte Ledertasche. Er wirft sich in den Wagen. Sein Komplize folgt ihm.

Frau Leisegang steht in der Ladentür. Sie hat die Hände zum Gesicht gehoben und schreit mit schriller Stimme um Hilfe.

Ein Feuerblitz dringt aus dem Wagen.

Fräulein Leisegang spürt einen Schlag an der Schulter und taumelt zurück in den Verkaufsraum.

Der Motor heult auf, der Wagen beschleunigt. Er überschüttet Herrn Braun mit einem Wasserschwall und rast auf quietschenden Reifen davon.

2. Kapitel

Hauptkommissar Fennek ist ein Mann mit Grundsätzen. Er glaubt an eine höhere Gerechtigkeit. Er arbeitet präzis und zuverlässig. Niemand ist je auf den Gedanken gekommen, er habe seine bemerkenswerten Erfolge mit etwas anderem als absolut sauberen Methoden erreicht. Das hat ihm im Laufe seiner fünfunddreißig Dienstjahre bei der Kriminalpolizei viel Respekt eingebracht. Freunde hat er weniger. Seine Vorgesetzten halten ihn, gelinde gesagt, für unflexibel, insbesondere in Fällen, bei denen eine gewisse Rücksichtnahme auf übergeordnete Interessen geboten wäre. Das könnte einer der Gründe sein, warum Fennek noch immer auf die Beförderung zum Ersten Hauptkommissar wartet. Ihm selbst ist das schnuppe. Er denkt nicht einmal darüber nach. Wenn es ihm gelingt, einen Fall zu lösen und dem Recht Genüge zu tun, ist er mit sich und der Welt zufrieden.

Fennek gegenüber sitzt Kriminalassistent Bentheim, Robert mit Vornamen. Über den Schreibtisch hinweg betrachtet er seinen Chef, der damit beschäftigt ist, das Vernehmungsprotokoll Udo Patschke durchzusehen.

Fennek ist zweiundsechzig, wirkt aber auf irritierende Weise zeitlos, könnte genauso gut vierzig sein. Auch sonst ist er ein geradezu auffällig durchschnittlicher Typ, zeigt weder im Aussehen noch in der Haltung irgendwelche von der Norm abweichenden Besonderheiten. Seine Kleidung ist korrekt, praktisch und nichtssagend. Ohne ihm unrecht zu tun, könnte man Fennek farblos nennen. Selbst nach zweijähriger Zusammenarbeit hat Bentheim Mühe, sich das Gesicht seines Chefs vorzustellen. Unverwechselbar macht ihn nur sein Charakter: aufrecht, unerschütterlich, bescheiden.

Bentheim bewundert seinen Chef, mehr noch, er hat ihn gern. Dennoch beschleicht ihn manchmal die dunkle Ahnung, ein solches Maß an Sittenstrenge und Bescheidenheit grenze in einer Zeit des moralischen Niedergangs an Selbstüberschätzung oder Größenwahn.

Fennek sieht von seinen Papieren auf. „Wo ist Hausinger?“

Bentheim hebt die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Sie haben beide das Protokoll unterzeichnet.“

„Ja. Und danach ist er verschwunden.“

„Wohin?“

„Er lässt sich nur selten dazu herab, mich in seine Pläne einzuweihen.“

„Ihr Ton gefällt mir nicht, Bentheim. Hausinger ist unser Kollege, vergessen Sie das nicht.“

„Ich hab' ihn mir nicht ausgesucht.“

„Im öffentlichen Dienst kann man sich die Mitarbeiter nicht aussuchen. Man muss sehen, dass man aus ihnen das Beste macht.“

Bentheim seufzt. Er weiß, es ist sinnlos, das Thema fortzusetzen. Aber zu oft schon hat er seinen Ärger unterdrückt. Diesmal wird er nicht mehr schweigen.

„Es muss endlich mal gesagt werden“, beginnt er und nimmt sich vor, auf alle diplomatischen Schnörkel zu verzichten.

„Hausinger ist ein aufgeblasener Affe. Er macht überall nur Schwierigkeiten. Ein Wichtigtuer, der alles versaut, was er in die Finger kriegt. Und obendrein ist er ein Intrigant. Sie haben ihn doch längst durchschaut, oder nicht?“

Fennek verzieht keine Miene.

„Nicht jeder ist so begabt wie Sie, verehrter Bentheim“, sagt er freundlich.

„Es geht nicht um mich“, knurrt Bentheim. „Hausinger verdirbt das Arbeitsklima. Und die anderen müssen seine Fehler ausbaden. Die Kollegen von der Sitte wussten schon, warum sie ihn weggelobt haben.“

„Wenn das die Meinung des gesamten Referats ist - was ich bezweifle - dann bringen Sie es vor die Gewerkschaft.“

„Das haben wir versucht. Aber er erscheint ja nicht einmal. Er grinst nur arrogant und verlässt sich auf seine hochgestellten Gönner.“

„So? Wer sollte denn das sein?“

„Zunächst mal Nothnagel. Der tut das wie üblich in vorauseilendem Gehorsam. Vielleicht hat er einen zarten Wink bekommen.“

„Sie meinen Kriminalpolizeidirektor Nothnagel? Das ist Unfug. Johannes Nothnagel ist nicht besonders couragiert, aber durchaus integer. Ich kenne ihn seit fünfzehn Jahren. Und warum sollte er ausgerechnet Hausinger protegieren?“

„Sie müssten mal einen Blick in die Klatschjoumale werfen, dann wüssten Sie's auch.“

„Reden Sie nicht in Rätseln.“

„Hausinger hat sich die Tochter des Herrn Innensenator geangelt“, erklärt Bentheim. „Zieht mit ihr durch alle Edelkneipen der Stadt und spielt den Kavalier der alten Schule. Romantisches Augenverdrehen, Rosen, Küsschen, die Braut auf Händen tragen. Veranstaltet eine Show mit dieser altbackenen Schrippe, dass es zum Himmel stinkt.“

Fennek runzelt die Brauen. „Altbacken?“

„Sie ist fast fünfzehn Jahre älter und einen Kopf größer als er. Sieht aus wie eine krebskranke Ziege.“

„Die inneren Werte eines Menschen lassen sich an seinem Äußeren nicht ablesen.“

„Innere Werte? Dass ich nicht lache! Die hat schon ein halbes Dutzend Skandale auf dem Buckel. Hausinger ist nur aus reiner Karrieresucht hinter ihr her. Wenn es anders ist, will ich einen Eimer Jauche saufen.“

„Ich mag Ihr frivoles Gerede nicht, Bentheim. Lassen Sie mich mit dieser Sache in Ruhe.“

„Sehen Sie denn nicht, dass es Hausinger auf Ihren Stuhl abgesehen hat? Dass er drauf und dran ist, Sie zu kippen?“

„Nun muss ich aber lachen. Hausinger als Leiter der Mordkommission, das wäre ja absurd. Im Übrigen mache ich meine Arbeit, niemand kann mir auch nur das Geringste vorwerfen.“

„Ein Vorwand lässt sich immer finden. Erinnern Sie sich an den Fall Grünbauer. Fest steht jedenfalls, Hausinger wühlt gegen Sie, vergiftet die Atmosphäre mit niederträchtigen Andeutungen. Er sitzt ja bereits auf Nothnagels Schoß, und der hört ihm andächtig zu.“

„Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Gerechtigkeit entscheidet“, sagt Fennek. „Jeder bekommt am Ende das, was er verdient, wenn es auch manchmal etwas länger dauert. Diese Überzeugung kann mir niemand ausreden.“

„Ich kann Ihren Optimismus nicht teilen.“

„Es erfüllt sich immer das, woran man wirklich glaubt.“

„Möge Ihr Glaube Sie nie im Stich lassen.“

„Was soll das alles, Bentheim? Ich habe noch drei Jahre bis zur Pension. Falls irgendetwas an Ihren Behauptungen stimmt, solange wird Nothnagel wohl noch warten können. Ich vertraue auf die Menschenkenntnis und das gerechte Urteil meiner Vorgesetzten.“

„Vertrauen ist gut. Dennoch sollte man einen gut gemeinten Hinweis nicht verachten.“

„In Ordnung. Ich danke Ihnen dafür. Und nun wollen wir auf den eigentlichen Zweck unseres Gesprächs zurückkommen. Udo Patschke wird entlassen.“

„Wie bitte’“

„Wir lassen ihn laufen.“

„Ja, aber, er hat doch seine Beteiligung so gut wie zugegeben. Außerdem haben wir den Zeugen, den Patschke beim Abstellen des Fluchtwagens angefahren hat. Damit kriegen wir jederzeit einen Haftbefehl.“

„Sicher kriegen wir einen Haftbefehl. Aber was nutzt es?“

„Patschke ist mehrfach vorbestraft. Bewaffnete Raubüberfälle. Spezialisiert auf das Fahren des Fluchtwagens.“

„Er wird bei seiner Behauptung bleiben, er habe den Wagen mit steckendem Schlüssel am Straßenrand gefunden. Können Sie ihm etwas beweisen, ohne dass wir seine Komplizen haben?“

„Der Überfall hat riesige Schlagzeilen gemacht. Geschäftsinhaber erschossen, Mitarbeiterin lebensgefährlich verletzt. Schmuck und Juwelen im Wert von einer Million geraubt. Die Presse reißt uns in Stücke, wenn sie rausfindet, dass wir einen der Täter gefasst haben und ihn dann wieder laufen ließen.“

„Sie muss es ja nicht herausfinden“, meint Fennek. „Wenn doch, kann ich's nicht ändern. Solange Patschke in der Zelle sitzt, kommen wir nicht weiter.“

„Gut, lassen wir ihn raus. Glauben Sie, er wird so dämlich sein und uns zu seinen Mittätern führen?“

„Ich hoffe es. Unsere Observanten lassen sich abschütteln. Er wird untertauchen. In seine Wohnung kann er nicht, dort ist ein Streifenwagen postiert. Aber er braucht Geld und ein Dach über dem Kopf. Was wird er also tun?“

„Er wird seine Komplizen um Hilfe bitten.“

„Und werden sie ihm helfen?“

„Seinen Anteil können sie ihm schlecht verweigern, zumindest nicht einen Vorschuss darauf.“

„Oh doch, sie können, mein Lieber. Sie werden ihm keinen Pfennig geben und jeden Kontakt mit ihm peinlich vermeiden.“

„Warum sollten sie?“

„Weil ich sie kenne. Ich habe schon seit Längerem gewisse Informationen, dass die Werlowiak-Brüder zusammen mit Patschke eine größere Sache vorbereiten. Leider war Genaueres nicht zu erfahren. Aber jetzt werde ich ihnen den Tipp zuspielen, dass Patschke sie verpfiffen hat.“

„Wie machen Sie das bloß?“ Bentheim schüttelt bewundernd den Kopf. „Normalerweise kommt man an die Szene gar nicht mehr ran. Die kennen doch jeden von uns.“

„Als alter Hase hat man seine Beziehungen. Auf ganz privater Ebene. Aber man gibt sie niemals preis, unter keinen Umständen. Das wäre tödlich für die Beteiligten.“

„Gut, nehmen wir also einmal an, Patschke sitzt auf dem Trockenen. Damit sind wir auch noch nicht weiter.“

„Etwas Geduld muss man schon haben.“

„Und wenn er klammheimlich verschwindet? Zum Beispiel nach Südamerika? Wollen Sie diese Verantwortung übernehmen?“

„Ganz ohne Risiko läuft gar nichts. Aber ich glaube nicht, dass er verschwindet. Er hat kein Geld, er wird auf seinen Anteil warten, und das kann dauern. Sie wissen doch, wie das ist. Wenn die Hehler wittern, dass jemand unter Druck steht, drücken sie die Preise.“

„Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Dass Patschke die Nerven verliert und uns zu seinen Komplizen führt? Oder dass die ihn abknallen, weil sie ihn für einen Verräter halten?“

„Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf. Ich weiß schon, was ich tue. Als erstes geben Sie noch heute eine vollständige Liste der gestohlenen Schmuckgegenstände an die Presse, wenn möglich mit Abbildungen aus der Kartei des Juweliers. Lassen Sie durchblicken, dass wir bereits eine Spur haben. Aber keine Einzelheiten, nichts Konkretes. Zum zweiten bereiten Sie Patschkes Überwachung vor, setzen Sie dabei auch den Kollegen Hausinger ein.“

„Ausgerechnet den?“

„Jawohl, ausgerechnet den. Geben Sie sich ein bisschen Mühe, mit ihm auszukommen. Über das Verhalten bei der Überwachung werde ich mit den Kollegen noch selbst sprechen. Heute Punkt siebzehn Uhr befördern Sie Patschke an die Luft.“

„Wollen Sie ihn selbst überhaupt nicht vernehmen?“

„Nein. Er soll den Eindruck haben, dass wir ihn für ein Würstchen halten. Meinetwegen soll er sogar glauben, dass wir ihm den Unsinn mit dem gefundenen Wagen abkaufen. Und wenn er sich darüber wundert, umso besser.“

Fennek schaut auf die Uhr: Schon gleich wieder Zeit zum Mittagessen. Er klappt die Akte Patschke zu und reicht sie Bentheim über den Schreibtisch.

„So, das wär's. Schicken Sie mir die Dohle rein.“

Bentheim erhebt sich und verlässt das Zimmer.

Einen Augenblick später tritt Erika Dohle durch die Tür. Sie ist eine rundliche Person Mitte der Vierzig mit kurzem, blond gefärbtem Haar und einer Brille, die sie am Samtband trägt.

Fennek fragt sich immer wieder, warum Frauen, die zur Fülle neigen, mit Vorliebe knallrote Kostüme tragen, obwohl er weiß, dass er diesem Geheimnis wohl nie auf die Spur kommen wird.

Frau Dohle bleibt nach wenigen Schritten stehen, die Hände hinter dem Rücken, und schaut ihren Chef fragend an.

Fennek nickt ihr freundlich zu. „Ich möchte den Kollegen Hausinger sprechen. Sie wissen doch vermutlich, wo er sich befindet.“

Frau Dohle schluckt, einen alarmierten Ausdruck in den runden Augen. „Nein, ich ... ich hatte angenommen ... ich dachte, er hätte sich bei Ihnen ...“ Sie bricht ab und beginnt hastig an der Unterlippe zu nagen.

„Schon gut“, sagt Fennek und winkt beruhigend ab. „Wenn er auftaucht, soll er sich bei mir melden. Ich bin in den nächsten zwanzig Minuten in der Kantine.“

„Selbstverständlich, natürlich. Ich werd's ihm sofort sagen. Wünschen Sie sonst noch etwas, Herr Hauptkommissar. Vielleicht einen Kaffee?“

„Nein, danke, vorerst nicht.“

Rückwärtsgehend greift Frau Dohle nach der Klinke und verschwindet lautlos.

Fennek schüttelt den Kopf. Er ärgert sich, teils über die lächerliche Empfindlichkeit seiner Sekretärin, teils über sich selbst. Es ist ihm sattsam bekannt, dass sie jede Kleinigkeit, die in irgendeiner Weise seine Unzufriedenheit erregen könnte, für ihr persönliches Versagen hält. Das wird zuweilen lästig, denn man muss stets daran denken, ihr nicht auf die Schleppe zu treten.

Andererseits lohnt sich der Aufwand. Erika ist eine Perle, selbstlos, einsatzbereit, nach Überstunden geradezu gierend. Seit ihr Mann bei einer Urlaubsreise nach Bangkok auf rätselhafte Weise verloren ging, ist das Kommissariat ihre Familie, ihr Heim und ihr Herd.

Fennek öffnet eine Schublade, steckt das Heftchen mit den Essenmarken in die Brusttasche und verlässt durch die Tür zum Flur das Büro.

3. Kapitel

Die Abendsonne blitzt durch die Baumkronen, erzeugt ein sanftes grünes Licht und funkelt in den Wassertropfen. In der Ferne grummelt noch das Gewitter. Fennek gleitet über den Fahrradweg, auf dem Gepäckträger einen Weidenkorb voll blühender Begonien. Es ist eine stille Gegend. In vornehmer Distanz zur Straße, geschützt von Kameras und hohen Zäunen, ruhen Villen in üppigen Gärten. Limousinen summen über den feuchten Asphalt, und hin und wieder trippelt eine ältere Dame hinter ihrem adligen Hündchen durch die Parkanlagen.

Vor dem Friedhofsportal der Sankt-Pankratius-Gemeinde steigt Fennek ab, schiebt sein Rad in den Fahrradständer und schließt es an. Er nimmt den Korb mit den Begonien vom Gepäckträger und wandert gemächlich durch die gepflegten Grabreihen. Sein Blick schweift über die Namen und die frommen Sprüche; er kann sie fast schon auswendig, so oft ist er in den vergangenen drei Jahren hier entlanggegangen. Ganz am Ende des Weges macht er halt, stellt den Korb auf eine Bank und betrachtet den Stein aus poliertem rotem Marmor, auf dem in goldenen Lettern der Name Anna-Luise Fennek steht.

In unseren Herzen wirst Du weiterleben.

Fennek seufzt. Er holt hinter dem Grabstein eine Schaufel und eine Harke hervor, streift die Gartenhandschuhe über und beginnt mit der Arbeit. Die unansehnlich gewordenen Stiefmütterchen nimmt er aus der Erde, setzt an ihre Stelle die Knollenbegonien, sammelt Blätter und Pflanzenreste in den Korb und macht sich auf den Weg zum Abfallbehälter.

Um diese Abendstunde herrscht auf dem Friedhof tiefe Ruhe. Dennoch schaut sich Fennek noch einmal prüfend um, als er ein monumentales, von Efeu überwachsenes Erbbegräbnis erreicht, um das sich offenbar schon seit Langem niemand mehr kümmert. Nichts. Weit und breit keine Menschenseele. Nur zwei schwarz-braune Amseln huschen raschelnd durch die Büsche, auf der Suche nach Regenwürmern.

Fennek verschwindet hinter der hohen Sandsteinfassade. Mit geübtem Griff hebt er eine bemooste Platte zur Seite und zieht aus einem Spalt im Mauersockel ein etwa zehn Zentimeter langes Metallröhrchen hervor, das er sofort in die Brusttasche steckt.

Kurz darauf steht er wieder als harmloser Friedhofsbesucher am Grabe seiner Frau, begießt die frisch gepflanzten Blumen, harkt den Weg, verstaut die Werkzeuge hinter dem Grabstein. Dann betrachtet er noch einige Minuten zufrieden sein Werk, bevor er sich zurückbegibt zum Haupteingang, das Fahrrad von der Kette löst und summend davonradelt.

Zwanzig Minuten später hat er sein Häuschen erreicht. Es ist ein schmalbrüstiger Abschnitt in einer lang gestreckten Gebäudezeile, bestehend aus drei kleinen Zimmern, Küche und Bad im Erd- und Obergeschoss, in einer der typischen Bauhaussiedlungen, wie sie in den zwanziger Jahren im Berliner Westen errichtet wurden. Vor zwölf Jahren hatten die Fenneks es von den Eltern seiner Frau geerbt, und Fennek, der die meiste Zeit seines Lebens in einer lichtarmen Stadtwohnung in Kreuzberg zugebracht hat, empfindet es noch immer als ein Geschenk des Himmels.

Fennek betritt die Küche, setzt die Kaffeemaschine in Gang, dann nimmt er die Post aus dem Briefkasten. Das meiste ist bunt gedrucktes auf teurem Papier, er wirft es ungelesen in den Papierkorb. Den Luftpostbrief mit den exotischen Marken legt er zur Seite. Der kommt aus Kalifornien von seiner Tochter. Sie hat einen amerikanischen Soldaten geheiratet, die beiden Enkelkinder sind schon drüben geboren. Später wird er den Brief lesen, nach dem Abendessen, in aller Ruhe und bei einer guten Zigarre. Jetzt öffnet er erst einmal die Terrassentür, die in den winzigen Garten führt, und lässt die frische, nach feuchter Erde duftende Luft ins Wohnzimmer.

Fennek setzt sich an den Küchentisch, schenkt Kaffee ein, fügt reichlich Zucker und Sahne hinzu. Neben der Tasse liegt das graue Aluminiumröhrchen. Er schraubt die Kappe ab, holt einen gerollten Papierstreifen heraus, stülpt die Brille auf die Nase und beginnt zu lesen.

Schon bald umspielt ein leichtes Lächeln seine Lippen, mehrmals nickt er mit dem Kopf. Seine Vermutung hat sich bestätigt, die Mörder des Juweliers Braun sind noch in der Stadt. Offensichtlich vertrauen sie darauf, dass Patschke den Mund hält. Doch ihr Vertrauen wird einen Stoß bekommen, wenn sie erfahren, dass er bereits wenige Stunden nach seiner Festnahme wieder auf freiem Fuß ist. Dass er sich der Überwachung so leicht entziehen kann, werden sie für einen mit der Polizei verabredeten Trick halten.

Das Klügste, was sie nach ihrer Logik tun könnten, wäre also erst einmal abzuwarten, wenn möglich in eine für Patschke unauffindbare Behausung zu wechseln und jede Berührung mit ihm zu vermeiden. Patschke wird über dieses Verhalten ärgerlich sein, zumal er Hilfe braucht und sich keiner Schuld bewusst ist. Es wird zu Spannungen kommen.

Fennek trinkt seinen Kaffee und lehnt sich nachdenklich zurück. Ja, und dann könnte sein Plan aufgehen, sofern keine Fehler passieren und die Vertrauensperson die richtigen Informationen mit der nötigen Geschicklichkeit an die richtigen Leute bringt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm seine inoffiziellen Verbindungen, die aus den frühen Jahren seiner Assistentenzeit im Sittendezernat stammen, zum Erfolg verhelfen. Dabei bestätigt sich die Erfahrung, dass nichts ausdauernder und gefährlicher ist als die Rache einer Frau, der man die Liebe ihres Lebens zerstört hat.

Fennek erhebt sich und geht in die Küche. Das Aluminiumröhrchen drückt er zusammen und wirft es in den Mülleimer. Den Papierstreifen hält er an die Zündflamme der Gastherme, lässt ihn verbrennen und spült die schwarzflockigen Reste mit einem scharfen Wasserstrahl in den Abfluss.

Aus dem Wohnzimmer erklingen sieben helle Schläge. Fennek begibt sich in den Wintergarten, greift im Vorübergehen nach der Fernbedienung der Stereoanlage und schaltet sie ein, um die Nachrichten zu hören. Es ist noch etwas Zeit, denn er hat die Angewohnheit, seine Uhren drei Minuten vorgehen zu lassen. Als er mit dem Kaffeegeschirr in die Küche zurückkehrt, ertönt das Erkennungssignal von BBC. Er bevorzugt diesen Sender, wenn es sich um Informationen handelt. Überhaupt liebt er das Radiohören mehr als das Fernsehen. Man kann nebenbei noch etwas tun, außerdem sind die Hörfunkprogramme vielfältiger und meistens nicht so oberflächlich wie das Fernsehen mit seinen endlosen Serien, geistlosen Shows oder, was er am meisten verabscheut, dem Geschwätz von sogenannten prominenten Expertenrunden.

Während der Nachrichten spült Fennek das bisschen Geschirr, räumt seine Einkäufe in den Kühlschrank und putzt den Herd, obwohl es eigentlich gar nichts zu putzen gibt, denn er kocht, wenn überhaupt, nur am Wochenende.

Dann hat er immer noch etwas Zeit. Das Monatstreffen des Radfahrervereins Radelritter, bei dem die diesjährige Wanderfahrt nach Rügen besprochen werden soll, beginnt erst um zwanzig Uhr. Also nimmt er die Zeitung zur Hand und beginnt, sie durchzublättern. Viel Lust dazu hat er nicht. Die Politik dreht sich im Kreise, Gescheites kommt nicht dabei heraus, und die Kommentare macht er sich selbst. Skandale öden ihn an, und es werden immer mehr. Am liebsten ist ihm noch die Kulturbeilage, doch die gibt es nur einmal wöchentlich, und das Wort Beilage kennzeichnet ihre Bedeutung. Aber dann findet er doch etwas, das ihn interessiert.

Unter der Rubrik VIP’s und Society wird mitgeteilt, Innensenator Keil stehe wieder einmal im Begriff, seine Tochter Carmen-Lolita, die ihn durch ihren extravaganten Lebenswandel schon des Öfteren in das Licht der Öffentlichkeit gerückt habe, unter die Haube zu bringen.

Doch lieber diese Öffentlichkeit als gar keine, so der Kommentar, da ja wohl sonst die Leistungen des Herrn Innensenators schwerlich Aufsehen erregen könnten. Der glückliche Bräutigam sei ein junger Beamter, originellerweise aus dem Zuständigkeitsbereich des Senators. Selbst für den naivsten Zeitgenossen erhebe sich die Frage, welche Reize hinter dem Entschluss des Bewerbers stünden: die Reize der fulminanten Lolly oder die Reize einer vielleicht nicht minder fulminanten Karriere.

In dieser Art geht es über zwei Spalten weiter. Fennek überfliegt die Zeilen und wirft dann die Zeitung mit einem unguten Gefühl zur Seite. Eigentlich wollte er noch eine Kleinigkeit essen, aber der Appetit ist ihm vergangen. Er holt seine abgeschabte Aktentasche aus dem Schrank im Flur, steckt die Radwanderkarten Nördliches Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hinein, nimmt den dunkelblauen Anorak und stülpt den grauen Filzhut auf den Kopf. Sorgfältig verschließt er hinter sich die Wintergartentür, geht die paar Schritte bis zum Geräteschuppen, in dem sich zur Not eine Zwergziege unterbringen ließe, zieht sein Fahrrad heraus, schließt die Gartentür zu und schwingt sich in den Sattel.

Durch den schmalen Weg zwischen den Gärten erreicht er die Straße und wendet sich in Richtung Stadt. Die Vereinskneipe liegt in Wilmersdorf. Schon nach einigen Hundert Metern kommt ihm eine Altberliner Melodie in den Sinn. Leise beginnt er zu pfeifen. Die angenehm milde Luft, die rhythmischen Bewegungen und die Aussicht auf das Zusammensein mit den Sportkameraden, mit denen er nicht nur die Freude am Radwandern, sondern auch die Gesinnung teilt, haben seine Laune sichtlich verbessert.

4. Kapitel

Trotz der frühen Vormittagsstunde herrscht brütende Hitze im Büro. Die Fenster sind fest geschlossen. Der Straßenlärm und die Abgase, die vom Stau an der Kreuzung aufsteigen, sind noch schlimmer als die Hitze.

Der Hauptkommissar sitzt in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch. Er ist stinkwütend, aber er beherrscht sich. Nur die zusammengepressten Lippen zeigen seine Gemütsbewegung an.

Patschke ist tot. Überfahren in der vergangenen Nacht, als er aus einer Telefonzelle kam. Einziger Zeuge ist Oberkommissar Hausinger, und das auch nur deshalb, weil er seine Kompetenzen überschritten hat. Ob ein Zusammenhang besteht zwischen Hausingers eigenwilligem Verhalten und Patschkes Tod, ist schwer zu sagen, Fennek hält es für denkbar.

Hausinger allerdings ist sich keiner Schuld bewusst. Zumindest versucht er, diesen Eindruck hervorzurufen. In steifer Haltung, das Kinn angezogen, einen trotzig abweisenden Blick in den leicht hervorquellenden, wasserblauen Augen, die Hände in den Taschen seiner senfgelben Schickimicki-Hose, lehnt er an einem Aktenschrank.

Er schwitzt. Das rosenholzfarbene Seidenjackett hat feuchte Flecke. Hin und wieder zieht er ein schneeweißes Taschentuch hervor und betupft sich die Stirn unter dem rötlichen Bürstenschnitt.

Fennek bricht das Schweigen, das dick im Raum lastet.

„Also noch mal von vorn. Wann ist es passiert?“

„Gegen ein Uhr dreißig“, sagt Hausinger widerwillig.