Impressum

Heiner Rank

Der bengalische Tiger

ISBN 978-3-95655-368-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Verlag Das Neue Berlin in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen).

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

Da dies ein Roman ist, sind sämtliche Figuren und Ereignisse frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Begebenheiten könnte nur auf einem Zufall beruhen.

 

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1. Kapitel

Der Mann lag auf dem Rücken. In seine offenen Augen und die Wunde an der Stirn fiel der Herbstregen. Ein Blutrinnsal war über Schläfe und Wange in den weißen Hemdkragen gelaufen und hatte dort einen rostbraunen Fleck hinterlassen.

Erwin Sauerknecht starrte ungläubig auf seinen Fund. Dem Menschen war nicht mehr zu helfen, das erkannte er auf den ersten Blick. Im Krieg hatte er genug Tote gesehen, um zu wissen, wann einer den Löffel abgegeben hatte.

,Mitten in die DDR‘, dachte er, ,am helllichten Vormittag, und plötzlich liegt da ’ne Leiche. Das gibt’s doch gar nicht! - Was mach ick denn jetzt? - Polizei?‘

Bei dem Gedanken an die Polizei durchzuckte ihn Entsetzen. ,Ausgeschlossen! Die stellen doch gleich einen Haufen Fragen nach woher und wohin, und ick bin krankgeschrieben von wegen Grippe und müsste eigentlich im Bette liegen. Wär ick bloß nach dem Abladen rasch wieder abgehauen. Aber nee, ick dämlicher Hund muss erst noch hier auf‘m Müll rumkriechen. Weil meistens ist ja noch was Brauchbares zu finden. Wat die Leute heutzutage alles wegschmeißen, det geht auf keine Kuhhaut.

Und denn der Sitte, was unser ABV is! Der ist doch schon lange scharf drauf, einen von die Schweinekerle zu erwischen, die mit ihr Gerümpel den Wald versauen. Hat er mir neulich erst persönlich mitgeteilt. Der brummt mir glatt fünfhundert auf wegen Umwelt. Gepfefferte Preise haben die. Wenn ick so denke, der olle Millionär Wallach, der durfte noch für ’ne Mark auf‘m Bürgersteig Rad fahren, und die hat er ohne abzusteigen dem Schupo zugeschmissen. Mensch, det waren noch Zeiten! Und heute fünfhundert Märker. Und woher nehmen? Wenn meine Erna det erfährt, die macht mir fix und fertig. Ick hör sie schon fauchen: Bist du denn noch zu retten, du Hornochse? Ich in der Gewerkschaftsleitung, und der eigene Mann ein Simulant. Ich habe dir gewarnt, noch und noch, aber du wolltest ja nicht hören. Nun sieh mal zu, wie du klarkommst. Von mir jedenfalls gibt’s keinen Pfennig, die Strafe bezahlst du von deinem Taschengeld.

Und im Betrieb wär’s natürlich auch gleich ’rum. Die drehen dir mächtig ein Ding ’rein, Erwin, und det Krankengeld, det kannst du sowieso vergessen. Und dann die Familie! Mein lieber Mann, die lachen sich doch ’n Ast vor lauter Schadenfreude. Haben mir ja schon lange auf‘m Kieker, weil ick de Herrschaften nicht spendabel genug bin. Letztens erst, bei Ernas Geburtstag. Kommen scharenweise angelatscht und wollen sich uff meine Kosten volllaufen lassen bis über‘n Eichstrich. Aber nicht bei mir. Ich denk doch gar nicht dran, für die buckliche Verwandtschaft Orgien zu veranstalten mit meine schwer verdienten Kröten, da können sie sich det Maul zerreißen soviel sie wollen. Zwei Flaschen Bier pro Nase und drei Schnäpse, basta. Is auch viel gesünder.‘

Von den Birken rieselten gelbe Blätter. Die Luft war diesig, es roch nach Moder und Bauschutt. Die feuchte Kälte kroch Sauerknecht in die Hosenbeine. Trotz seiner langen Unterhosen begann im linken Knie der vertraute Rheumaschmerz zu bohren. Irgendetwas musste geschehen. Sauerknecht zwang sich, den Blick wieder auf den Toten zu richten.

Der Mann kam ihm bekannt vor. Doch so sehr er auch sein Gedächtnis strapazierte, er wusste einfach nicht, wo er ihn hinstecken sollte. Ende Fünfzig mochte er sein. Ein längliches, von Falten durchzogenes Gesicht, schweres Kinn, wasserblaue Augen. Schütteres, sauber gescheiteltes Haar, auf der Oberlippe ein Bärtchen. Der vom Regen durchweichte Kamelhaarmantel stammte offensichtlich aus einem Exquisitladen, ebenso die grauen Flanellhosen, aus denen elegante graue Halbschuhe mit dem Salamanderknopf hervorsahen. An seiner linken Hand blitzte ein haselnussgroßer Stein in einem schweren Goldring. Obwohl nass und tot, der Mann war noch immer eine noble Erscheinung.

,Bestimmt einer von die feinen Pinkel‘, dachte Sauerknecht neidvoll. ,Schicke Klamotten, schicke Wohnung, schicke Weiber. Und die Weiber brauchen den ganzen Tag nicht arbeiten, damit sie abends frisch sind. Und am Wochenende fährt er sie spazieren in sein schickes Auto, bloß so zum Spaß, nach die Kosten wird nicht gefragt. So’n Leben möchte ick auch mal führen.‘ Ihm fiel der dunkelgrüne Volvo ein, der am Rande des Wäldchens stand, etwa fünfzig Meter entfernt.

,Hab mir doch gleich gewundert, wem der Schlitten gehört. Vielleicht dem hier, möglich wär’s schon. Den haben sie in den Wald gelockt und ausgeraubt. Und wenn was fehlt und sie den Mörder nicht schnell genug finden, denn binden sie mir det Ding ans Bein.‘

Empörung wallte in ihm auf. ,Wie komm ick überhaupt dazu, für den Mist von andere Leute den Hintern hinzuhalten? Der da hat sein feines Leben gelebt, bestimmt besser wie ick. Jetzt musste auch mal an dir selber denken, Erwin. Hast schon viel zu lange hier rumgestanden, zum Glück ist noch keiner gekommen.‘

Er machte einige Schritte in Richtung auf seinen Fahrradanhänger und blieb wieder stehen. ,Wenn mir nun aber einer gesehen hat?‘, fragte er sich voller Unbehagen. ,Oder wenn sie meine Spuren finden, wat denn? Die sollen ja ausgesprochen gemeine Methoden haben, wissenschaftliche und so, von die ’n einfacher Mensch keinen blassen Schimmer hat. Die kriegen bestimmt 'raus, dass ick hier war. Und wenn ick’s denn nicht gemeldet hab, na Prost Mahlzeit, denn hauen sie mir erst recht in die Pfanne. Det haste nun von deine blöde Sparsamkeit. Hättste das Zeug nicht aus die Säcke gekippt, könnste jetzt einfach aufladen und dir ausn Staub machen. Aber wer soll det ahnen? Die schönen Säcke wegschmeißen!‘ Sauerknecht wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Verbittert und ratlos sah er auf die beiden Abfallhaufen, die er vor zehn Minuten unbekümmert in den Wald geschüttet hatte.

Ein blechernes Scheppern. Sauerknecht fuhr herum.

Hurtig hoppelte ein Radfahrer über die Wurzeln des Waldweges, kam direkt auf die Müllhalde zu.

Sauerknecht warf sich hinter einen Holunderbusch und spähte durch die Zweige. ,Knochenkarl! Der Knilch hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt steigt er auch noch ab. Wenn der mir hier sieht, bin ick geliefert.‘

Sauerknecht schob sich rückwärts tiefer in die nassen Brennnesseln.

Knochenkarl hatte indessen den Fahrradanhänger entdeckt. Gemächlich trat er näher und taxierte ihn mit Kennerblicken. „Einwandfreier Hänger“, murmelte er. „Viel zu schade für‘n Schrott, oder? Aber dann müsste doch irgendwo der Besitzer rumkrebsen.“

Er sah sich um. Stille. Weit und breit keine Menschenseele. „Hallo! - Ist hier jemand? - Gottverdammich, da liegt ja einer.“

Sauerknecht kauerte in den Brennnesseln und spürte, wie sich seine Haare vor Entsetzen sträubten. ,Nischt wie weg!‘ war der einzige Gedanke, der ihn beherrschte. Ohne eine Sekunde die Folgen zu bedenken, robbte er hastig über einen Wall zerbrochener Dachziegel. Es begann zu knacken und zu rascheln, ein paar Ziegelstücke kollerten über den Schutthang. Knochenkarl blickte auf. ,Da war ja noch einer! Was ging denn hier eigentlich vor?‘

Undeutlich gewahrte er eine Gestalt, die sich in panischer Eile durch das Unterholz davonmachte.

„He! Warte mal!“, brüllte er. „Bleib stehen, du Lump!“

Er wollte hinterher, sein Fahrrad behinderte ihn. Das gute Stück einfach fallen zu lassen, ging ihm gegen den Strich. Er zögerte einige Sekunden, dann hatte er die Chance verpasst. Die Gestalt war im Dickicht verschwunden.

Achselzuckend lehnte er das Fahrrad auf die Stütze und ging hinüber, um dem Mann am Boden aufzuhelfen. Als er niederkniete und seine Hand berührte, erschrak er bis ins Mark.

,Kalt wie Eis! Und ich hätte fast versucht, den Mörder aufzuhalten. Gottverdammich!‘

Er sprang auf, griff sein Fahrrad und radelte los. Wenige Minuten später hatte er eine Telefonzelle erreicht, hob keuchend den Hörer ab und wählte Eins-Eins-Null.

2. Kapitel

Hauptmann Heym saß in seinem Arbeitszimmer und sah dem Regenwasser zu, das im letzten Licht des Tages an den Fensterscheiben hinunterrann. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein geöffnetes Notizbuch, daneben ein Kugelschreiber.

Gedämpfte Geräusche drangen ins Zimmer, ein fernes Summen und Brodeln. In dem großen Gebäude mit seinen vielen Räumen und Gängen fühlte sich Heym geborgen wie in einem Bienenkorb, angeregt von der geschäftigen Energie, ungestört, aber nicht einsam. Er erhob sich und trat ans Fenster. Zwischen dunklen, kiefernbewachsenen Höhenzügen lag die Bezirkshauptstadt. In den weiten Wasserflächen der Havel spiegelten sich die Lichter, und durch die Straßen floss ein endloser Autostrom, der einem Wanderzug leuchtender Käfer ähnelte.

Heym genoss den Ausblick auf die Stadt einige Minuten, dann wandte er sich ab, entzündete seine Pfeife und begann nachzudenken. Vor Kurzem war er vom Tatort zurückgekehrt. Unbelastet von den Zeugenaussagen und den Meinungen der Experten wollte er die ersten Eindrücke und Fragen notieren. Schon oft waren ihm diese Aufzeichnungen eine Hilfe gewesen, wenn er im Gewirr von Fakten und Kombinationen betriebsblind zu werden drohte; das naive, zuweilen aber erstaunlich treffsichere Gefühl für die psychologische Grundsituation eines Falles konnte damit lebendig bleiben. Gewiss, es war ein schwaches Flämmchen, man musste es sorgfältig hüten. Manchmal schon war es erloschen. Manchmal hatte es sich als Irrlicht erwiesen. Doch Heym gehörte nicht zu den Leuten, die eine Chance ungenutzt ließen.

Etwas Unfassliches hatte sich ereignet: Der bekannte und weithin berühmte Schauspieler Manfred Löffler, dreiundsechzig Jahre alt, Träger von Kunstpreisen und staatlichen Auszeichnungen, seit Jahrzehnten mit großem Erfolg am Theater, bei Film, Funk und Fernsehen tätig, war auf schändliche Weise mit einem Kistenbrett erschlagen worden, in dem rostige Nägel steckten. Obendrein noch auf einer illegalen Müllkippe. Nein, das war nicht nur schändlich, das war makaber. Ein solches Schicksal blieb unter zivilisierten Verhältnissen selbst einem herrenlosen Hund erspart. Und ein Mann wie Manfred Löffler sollte doch, wenn er schon überhaupt ein gewaltsames Ende nehmen musste, einen Tod in Würde finden. Als Herzog Alba zum Beispiel, auf offener Bühne von einem geistesgestörten Rivalen erdolcht, am Steuer einer Limousine nach einer rauschenden Premierenfeier oder vergiftet von einer überaus schönen, zu rasender Eifersucht entflammten Frau ...

Mit einem Kopfschütteln versagte sich Heym das Vergnügen, seiner Fantasie noch länger freien Spielraum zu lassen, und kehrte zum Ernst des Dienstes zurück. Er nahm am Schreibtisch Platz, schaltete die Tischlampe ein, zog den Notizblock heran und schrieb auf das weiße, noch unberührte Blatt:

Punkt eins. Manfred Löffler war bei seiner Auffindung durch den Bürger Karl Fröhlich seit etwa zehn Stunden tot. Was hatte Löffler veranlasst, in einer stockdunklen Regennacht diesen Müllplatz aufzusuchen?

Punkt zwei. Entsprang die Tat einer zufälligen Begegnung zwischen Täter und Opfer? Wenn man die Tatzeit, den Tatort und das Wetter bedenkt, erscheint das wenig wahrscheinlich. Punkt drei. War die Tat geplant? Dem steht entgegen, dass der Täter ein Werkzeug benutzte, das ihm allem Anschein nach am Tatort zufällig in die Hände geriet.

Punkt vier. Besteht eine nähere Beziehung zwischen Täter und Opfer? Haben sie sich gemeinsam zum Tatort begeben? Oder wusste der Täter, dass er Löffler dort antreffen würde?

Punkt fünf. Der Volvo parkte knapp fünfzig Meter vom Tatort entfernt und war nicht abgeschlossen. Hatte Löffler demnach die Absicht, sich nur auf kurze Zeit zu entfernen?

Punkt sechs. Dem Toten fehlen Uhr und Brieftasche. Vorhanden waren ein Brillantring, eine goldene Halskette mit Amulett, ein goldenes Feuerzeug, Kleingeld und Autoschlüssel. Im Volvo lagen weitere Wertgegenstände, unter anderem ein Fotoapparat, ein Fernglas, ein Kassettenrekorder. Darf man unter diesen Umständen Raubmord als Tatmotiv ausschließen?

Punkt sieben. Hatte es der Täter nur auf die Brieftasche abgesehen? Befand sich darin etwas für ihn Wertvolles oder Belastendes? Wenn ja, warum hat er es nicht herausgenommen und die Brieftasche zurückgesteckt?

Punkt acht. Wozu brauchte er die Uhr?

Punkt neun. War es zu einem Streit gekommen? Hatte der Täter diesen Tatbestand vertuschen wollen, indem er Brieftasche und Uhr mitnahm, um einen Raubüberfall vorzutäuschen?

Punkt zehn. Hat der Besitzer des Fahrradanhängers Brieftasche und Uhr gestohlen? Wurde er beim Diebstahl durch den Zeugen Fröhlich gestört?

Punkt elf. Falls er Brieftasche und Uhr nicht gestohlen hat, weshalb ist er geflüchtet? Fürchtete er Komplikationen, weil er den Toten kannte? Oder wollte er ihn abtransportieren? War er nach der Tat in Panik davongelaufen und später zurückgekehrt, um den Leichnam zu verstecken? Hätte sich der Volvo dafür nicht besser geeignet als ein Fahrradanhänger? Kann der Täter nicht Auto fahren?

Punkt zwölf. Existiert außer dem Täter und dem Besitzer des Fahrradanhängers noch ein dritter Unbekannter, der sich an dem Toten zu schaffen machte?

Heym legte den Kugelschreiber zur Seite, stützte das Kinn in die Hand und kehrte in Gedanken zum Punkt eins seiner Notizen zurück.

Was macht ein Mensch auf einem Müllplatz? Er wirft etwas weg. Warum in einer dunklen Regennacht? Weil er unbemerkt bleiben will? Oder sucht er etwas, was ein anderer weggeworfen hat? Dazu wäre Licht nötig gewesen, zum Beispiel eine Taschenlampe.

Es klopfte an die Tür. Bevor Heym antworten konnte, trat Unterleutnant Kabel, ein pausbäckiger junger Mann, geräuschvoll ins Zimmer. Kabel besaß die Figur eines Ringerchampions, ein sonniges Gemüt und einen vor nichts zurückschreckenden Forschergeist. Erst kürzlich hatte Heym mit einiger Verwirrung zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich dieser Forschergeist bis auf den Inhalt seiner Butterbrotbüchse erstreckte. Die Lösung des Rätsels fand sich in Kabels unstillbarem Appetit, eine weitere seiner hervorstechenden Eigenschaften. Drei Portionen Kantinenessen verputzte er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Kabel schüttelte energisch die Wassertropfen von seinem dunkelbraunen Anorak, breitete ihn auf dem Heizkörper unter dem Fensterbrett aus, nahm die feuchte Baskenmütze ab und hängte sie liebevoll auf das Heizungsventil. Dann öffnete er einen schwarzen, mit Zahlenschlössern versehenen Aktenkoffer, zog zwei Hefter heraus und legte sie vor Heym auf den Schreibtisch.

„Spurensicherung und Obduktionsbericht. Erste Ergebnisse, noch nichts Endgültiges.“

Er ließ sich in seinen Bürostuhl fallen, riss die Schreibtischtür auf und legte andächtig ein großes, in Seidenpapier gehülltes Päckchen auf die Tischplatte.

„Nun, was steht in den Berichten?“, fragte Heym.

„Wollen Sie nicht selbst lesen, Genosse Hauptmann?“

„Ich höre es lieber von Ihnen. Sie haben doch schon reingeschaut - oder etwa nicht?“

„Doch, doch. Klar.“

„Dann fangen Sie mit dem Obduktionsbericht an.“

Kabel räusperte sich und schob mit einem wehmütigen Blick das Päckchen außer Reichweite, dem ein lieblicher Kuchenduft entströmte.

„Manfred Löffler, Beruf Schauspieler, geboren am fünfzehnten April neunzehnhunderteinundzwanzig. Er wurde am Dienstag, dem zwanzigsten November, zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr - also gestern Abend - durch einen heftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand an der linken Schädelhälfte verletzt. Vermutlich war er sofort bewusstlos. Der Tod trat erst fünf Stunden später ein, heute gegen ein Uhr morgens, mit großer Wahrscheinlichkeit infolge eines epiduralen Hämatoms, einer Blutstauung zwischen Schädeldecke und Gehirn.

Das Tatwerkzeug ist ein altes Kistenbrett mit rostigen Nägeln, an dem Spuren vom Blut des Toten nachgewiesen wurden. Mehrere Bretter der gleichen Art fanden sich am Tatort. Toxische Mittel oder Alkohol konnten im Körper des Toten bisher nicht gefunden werden. Die Analyse des Mageninhalts wird endgültigen Aufschluss geben.

Der Gesundheitszustand Löfflers war seinem Alter entsprechend gut. Nach der Krankenkartei und der Aussage seines Arztes, Professor Kranemichel, neigte Löffler zu erhöhtem Blutdruck, einer Überempfindlichkeit des Magens, die im Wesentlichen durch psychische Einflüsse bedingt war, und zu gelegentlichen rheumatischen Beschwerden.“

Kabel lehnte sich befriedigt zurück.

„Ist das alles?“, fragte Heym.

„Bis jetzt ja.“

„Gibt es neue Erkenntnisse bei den Trassologen?“

„Nicht viel. Durch den nächtlichen Dauerregen waren die zur Tatzeit entstandenen Schuhspuren nicht mehr auszuwerten. Gesichert wurden frische Reifenspuren des Fahrradanhängers im Verein mit den Abdrücken von Gummistiefeln, Größe zweiundvierzig, Sohlenprofil stark abgenutzt. Vorausgesetzt, Fröhlich sagt die Wahrheit, müssten sie von dem Besitzer des Fahrradanhängers stammen.“

„Haben Sie etwa Zweifel an der Aussage des Zeugen Fröhlich?“

Kabel zuckte die Achseln. „Nun ja, der Mann macht allgemein einen recht glaubwürdigen Eindruck. Guter Leumund, keine Vorstrafen, tüchtiger Arbeiter. Er hat ohne Verzug die Volkspolizei informiert, das bestätigt die Aussage eines Zeugen, der ihm kurz zuvor am Rande des Wäldchens begegnet ist.“

„Dann verstehe ich nicht Ihre Bemerkung, ‚vorausgesetzt, Fröhlich sagt die Wahrheit‘.“

„Das bezieht sich nur auf seine Behauptung, er habe eine männliche Person davonlaufen sehen. Eine Beschreibung kann er aber nicht geben, weiß weder etwas über die Kleidung noch etwas über Größe oder Alter. Dennoch besteht er darauf, es wäre ein Mann gewesen, ,er habe das im Gefühl.‘ Hinzu kommt, dass die Fährtenhunde die Spur dieser Person nicht aufnehmen konnten.“

„Das mag an den besonderen Umständen liegen: Regenwetter, zu viele Spuren anderer Personen rings um den Tatort, eventuell auch streunende Hunde, Katzen, Wildtiere. Aber davon abgesehen, welchen Grund sollte der Zeuge Fröhlich haben, eine flüchtige männliche Person zu erfinden?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht Wichtigtuerei. Er hat bei seiner Aussage immer wieder davon geredet, er wäre um ein Haar mit dem ,Mörder‘ zusammengetroffen. Ich hatte den Eindruck, er wollte damit hervorheben, in welcher entsetzlichen Gefahr er geschwebt hat.“

Heym nickte. „Wurde sonst noch etwas gefunden?“

„Verwaschene Abdrücke von Lkw-Niederdruckreifen, Fabrikat Pneumant. Sie gehören zur Serienausrüstung des IFA W 50 für Armee- und Baufahrzeuge. Der Tote lag etwa fünf Meter von diesen Abdrücken entfernt. Nach Meinung der Trassologen können sie zur Tatzeit entstanden sein. Weitere Spuren oder Beweismittel, die auf einen unmittelbaren Tatzusammenhang hindeuten, ließen sich nicht feststellen.“

„Auch keine abgebrannten Streichhölzer oder eine Taschenlampe?“

„Nein. Wie kommen Sie darauf?“

„War nur so eine Idee von mir. Was ist mit dem Fahrradanhänger?“

„Der Hänger ist zehn bis zwölf Jahre alt, kein Eigenbau. Er wurde schon mehrmals mit grüner Ölfarbe gestrichen. Am hölzernen Ladekasten befinden sich zahlreiche Spuren von Latex, Leim- und Ölfarbe, außerdem Reste von Bauschutt, Gartenerde, Kaninchenmist und Laub. Die Kugelkupplung ist gleichmäßig mit Rost bedeckt, der Hänger wurde also schon längere Zeit nicht mehr von einem Fahrrad gezogen, sondern mit der Hand bewegt. An der Zugstange konnten Fingerspuren beider Hände gesichert werden, die für eine Identifizierung ausreichen. Im Ladekasten lagen zwei leere, mit Flicken versehene Jutesäcke, aus denen vermutlich die beiden Abfallhaufen neben dem Hänger stammen. Der Abfall besteht aus zerbrochenen Plasteflaschen, Glasscherben und leeren Farbbüchsen. Er ist nur an der Oberfläche feucht, was darauf hindeutet, dass er erst kürzlich ausgeschüttet wurde. Eine nähere Untersuchung muss noch nachweisen, ob der Abfall tatsächlich in den Säcken war. Falls das Ergebnis positiv ist, wäre es möglich, dass sich noch weitere Hinweise auf den Besitzer des Hängers entdecken lassen. Es dürfte also kein allzu großes Problem sein, den Mann zu finden.“

Heym lächelte. „Nun gehen Sie selbst davon aus, dass es sich um einen Mann handelt.“

„Aber ich behaupte es nicht, ich vermute es nur. Es wäre auch ziemlich ungewöhnlich, wenn eine Frau einen Fahrradanhänger durch die Gegend schiebt. Außerdem spricht die Schuhgröße zweiundvierzig dafür.“

„Es soll auch Frauen geben, die auf großem Fuße leben. Na gut, lassen wir das vorerst. Was meinen Sie, in welcher Beziehung steht dieser seltsame Hängerbesitzer zur Tat?“

„In keiner direkten“, sagte Kabel spontan. Er dachte einen Augenblick nach und fügte hinzu: „Da ist erst einmal die Zeitdifferenz. Die Tat wurde gestern Abend begangen, der Mann erschien heute am späten Vormittag auf dem Müllplatz. Ich nehme an, er ist so eine Art Laubenpieper. Er hält sich Kaninchen, vielleicht noch anderes Kleinvieh, hat ein Häuschen mit Garten oder ein Wochenendgrundstück. Es befindet sich wahrscheinlich nicht weiter als zwei Kilometer vom Tatort, der am Rande der Wohnsiedlung liegt. Auf der anderen Seite der Siedlung, etwa vier Kilometer vom Tatort entfernt, ist ein für die Bevölkerung zugelassener Müllplatz. Aber dem Mann war es zu weit, bis dorthin zu laufen. Er begibt sich also mit seinem Hänger in das näher gelegene Wäldchen, kippt seinen Abfall aus, stößt dabei auf den Toten, schnappt sich Uhr und Brieftasche und wird von dem Zeugen Fröhlich überrascht. Natürlich kriegt er einen Mordsschreck und rennt so schnell er kann davon.“

„Ich stimme Ihnen zu. Bis auf die voreilige Annahme, er habe Uhr und Brieftasche gestohlen.“

„Warum sollte er sonst weglaufen? Der Mann hat in Panik gehandelt, er hat nicht bedacht, dass er mit dem Hänger ein wunderbares Beweisstück zurücklässt. Jeder Mensch, der auch nur einen Augenblick Zeit zum Nachdenken hat, würde sich doch sagen, dass wir in einem solchen Fall nicht lockerlassen und ihn früher oder später am Kragen haben.“

„Vermutlich ist der Mann naiv, vielleicht sogar dumm. Wenn es nicht so viele Dumme gäbe, gäbe es nicht so viele Straftaten. Aber das beweist noch lange nicht, dass er die Uhr und die Brieftasche gestohlen hat. Es sind auch andere Gründe für seine Flucht denkbar.“

„Was für welche?“

„Nun, er könnte mit dem Toten bekannt gewesen sein, einen Streit mit ihm gehabt haben und jetzt fürchten, durch die Ermittlungen in eine peinliche Lage zu kommen. Er könnte in eine Straftat verwickelt sein, die mit unserem Fall gar nichts zu tun hat, und schon deshalb jedem Kontakt mit der Kriminalpolizei ängstlich aus dem Wege gehen. Er könnte auch nur ein bisschen schwachsinnig sein, ein halber Analphabet, der die abenteuerlichsten Vorstellungen hegt, was ihm alles Schreckliches widerfährt, wenn er in die Hände der Behörden gerät. Genug der Beispiele?“

„Allerdings“, brummte Kabel.

„Gut. Dann ist es Ihre Aufgabe, diesen Mann so schnell wie möglich zu ermitteln. Haben Sie schon eine Idee, wie Sie vorgehen?“

„Ich werde mit Leutnant Sitte zusammenarbeiten, er war ja heute bereits an der Tatortsicherung beteiligt. Wir werden erst einmal feststellen, wer im Umkreis von zwei Kilometern vom Tatort einen Fahrradanhänger besitzt. Als ABV müsste er seine Pappenheimer kennen.“

„Naja“, sagte Heym skeptisch. „Die Gemeinde hat rund fünfzehntausend Einwohner. Hinzu kommt, dass in dieser Gegend fast zu jeder Wohnung ein Garten gehört, von den vielen Wochenendgrundstücken und Bungalows ganz abgesehen. Es könnte also nahezu jede Familie einen Fahrradanhänger haben. Und bedenken Sie auch, dass der Hänger ausgeliehen sein könnte.“

„Eine Menge Arbeit“, seufzte Kabel. „Aber wie gesagt, ich vermute, dass der Mann Kaninchen hält. Außerdem hatte er mit Farben zu tun, vielleicht sogar beruflich. Ich werde auf jeden Fall den Genossen Sitte danach fragen. Notfalls ziehen wir die ABVs aus den anderen Abschnitten hinzu.“

„Gut, tun Sie das. Und versuchen Sie es auch bei der Sparte Kleintierzüchter.“

„Danke. Wertvoller Hinweis.“

Heym winkte ab. „Sie haben mit Manfred Löfflers Familie gesprochen? Wie ist das ausgegangen?“ - Er hätte das erste Gespräch mit den Angehörigen lieber selbst geführt, obwohl es gewiss keine erfreuliche Aufgabe ist, eine Todesnachricht zu überbringen, aber es war nicht möglich gewesen. Er hatte einen dringenden Termin bei Staatsanwalt Sommerfeld nicht zum dritten Mal verschieben können.

„Ich habe nur eine Frau von Oxkill angetroffen“, sagte Kabel. Sie ist die Schwiegermutter des Toten.“

„Wie hat sie die Nachricht aufgenommen?“

„Gefasst. Oder besser noch, in tadelloser Haltung. Die Frau muss bestimmt siebzig sein, aber sie ist zäh wie Eichenholz und fast so groß wie ich. Bin mir in ihrer Gegenwart wie ein Schuljunge vorgekommen.“

„Haben Sie erfahren können, wo sich Löfflers Ehefrau befindet?“

„Sie wohnt zurzeit im Landhaus der Familie, in Altengolm, Uferweg. Wir haben angerufen, leider vergeblich. Frau von Oxkill sagte, sie würde es später noch einmal versuchen.“

„Haben Sie meinen Besuch für heute Abend angekündigt?“

„Genau wie befohlen.“

„Konnte Löfflers Schwiegermutter etwas über die Uhr und die Brieftasche sagen?“

„Die Uhr soll ein ziemlich seltenes Exemplar sein, eine goldene Rolex-Automatic, Präzisionschronometer, Schweizer Fabrikat. Ich habe die Beschreibung an die einschlägigen Fachgeschäfte gegeben und auch an die An- und Verkaufsläden.“

„Gut. Und die Brieftasche?“

„Das ist ebenfalls ein kostbares Stück. Handarbeit, schwarzes Krokodilleder. Inhalt etwa zweitausend Mark in bar, dazu fünfhundert Mark in Forum-Schecks und ein Scheckheft.“

„Wer sagt das?“

„Frau von Oxkill.“

„Wie kommt es, dass sie so genau darüber Bescheid weiß?“

„Ja, das hat mich auch gewundert. Sie erklärte mir, sie verwalte schon seit mehr als dreißig Jahren die Finanzen ihres Schwiegersohnes und habe auch den Schlüssel für den im Hause befindlichen Safe in ihrem Besitz. Manfred Löffler hatte für heute größere Einkäufe geplant und sich das Geld erst gestern Abend von ihr aushändigen lassen.“

„Sie scheint eine wichtige Rolle in der Familie zu spielen.“

„Den Eindruck hatte ich auch. Und sie handelt sehr umsichtig. Als sie von der verschwundenen Brieftasche hörte, hat sie sofort die Sparkasse angerufen und die Schecks sperren lassen.“

„Sehr umsichtig, wie wahr. Na, ich werde diese Frau von Oxkill ja kennenlernen. - Was hat die Untersuchung des Volvos erbracht?“

„Fingerspuren von fünf Personen wurden gesichert, die meisten stammen von Manfred Löffler selbst. Auf dem rechten Vordersitz und auf den Rücksitzen befanden sich einige Hundehaare. Im Haus der Löfflers lebt ein brauner Setter, der hin und wieder im Wagen mitgenommen wird. Ich habe aus dem Hundekorb in der Diele Vergleichsproben entnommen und sie der Kriminaltechnik übergeben. Das Ergebnis wird uns morgen früh mitgeteilt.“

Heym nickte zustimmend.

„Eine Liste der im Wagen gefundenen Gegenstände“, fuhr Kabel fort, „liegt dem kriminaltechnischen Bericht bei. Ich habe sie der Frau von Oxkill vorgelesen. Es scheint nichts zu fehlen. Es scheint auch nichts dabei zu sein, was ihrem Schwiegersohn nicht gehörte. Sie wies aber darauf hin, dass sie sich irren könne und dass sie diese Angaben mit Vorbehalt mache.“

„Schön. Gibt es noch etwas?“

„Nein“, erwiderte Kabel, griff sich dann aber an den Kopf und sagte: „Doch! Der Zeuge Fröhlich wartet noch wegen des Protokolls.“

Heym sah auf seine Armbanduhr. „Machen Sie das allein und lassen Sie die Abschrift auf meinen Schreibtisch legen. Falls noch etwas Dringendes sein sollte, erreichen Sie mich nach zwanzig Uhr zu Hause.“ Er klappte seinen Notizblock zu, versenkte ihn in der Aktentasche und erhob sich. „Also bis morgen.“

„Bis morgen.“ Kabel griff zum Telefon und begann zu wählen. Kaum hatte sich hinter seinem Chef die Tür geschlossen, zog er mit der linken Hand das Kuchenpäckchen heran.

Besetztzeichen. Rasch legte er wieder auf. Und während er andächtig das Seidenpapier öffnete, verklärte sich sein Gesicht zu einem glücklichen Lächeln.

3. Kapitel

Nasser Schnee trieb in dicken Flocken gegen die Frontscheibe. Die Wischer zuckten hektisch, der Ventilator summte. Die Sicht war miserabel, der schwarze Asphalt schluckte das Scheinwerferlicht. Und immer wieder beschlugen die Scheiben.

Heym fuhr langsam eine dunkle, von hohen Bäumen gesäumte Allee entlang, hielt angestrengt Ausschau nach den Hausnummern. Es war ein Villenviertel, erbaut in den zwanziger Jahren, die meisten Häuser lagen tief in den weitläufigen Gärten versteckt.

Endlich entdeckte er Licht. Auf den Pfeilern einer Einfahrt brannten gelbliche Lampen. Die schmiedeeisernen Torflügel waren geschlossen. In ihrem Gitterwerk glänzten eine vergoldete „34“ und die Initialen „M.L.“. Heym war am Ziel. Er parkte den Wagen unter einer Laterne, stieg aus, setzte die Mütze auf und schloss die Tür ab. Aus dem Geäst einer riesigen Eiche ging ein Regenschauer auf ihn nieder, die Tropfen schlugen einen Trommelwirbel auf dem Blechdach des Ladas. Hinter einer Eibenhecke lag das große, zweistöckige Haus. Es war aus rotem Klinkerstein, hatte ein schön geschwungenes Mansardendach, weiße Fensterläden und einen efeubewachsenen Kamin. Einige Fenster im Erdgeschoss waren erleuchtet. Neben dem Haus, am Ende der langen Auffahrt, befand sich eine Doppelgarage mit weißen Türen.

Heym durchquerte den Vorgarten, auf dessen Rasenflächen Blaufichten und schlanke Wacholder wuchsen. Drei Stufen im Halbkreis, überdacht von einem kupfernen Baldachin, führten zur Haustür hinauf. Der Hauptmann drückte auf eine Messingklingel. In der Tiefe des Hauses ertönte ein Gong.

Es öffnete ein junger Mann in Jeans und dunkelblauem Rollkragenpullover. Er war hager und schlecht rasiert, hatte eine kränkliche Gesichtsfarbe, eng stehende Augen und aschblondes Haar, das sich in schütteren Locken bis auf die Schultern ringelte. In seinem linken Ohrläppchen glitzerte ein Strassstein. Er lehnte sich an den Türrahmen und musterte Heym gelangweilt. Das Schweigen wurde dick.

Heym überwand seinen aufkeimenden Unwillen. „Guten Abend“, sagte er. „Ich möchte Frau Löffler sprechen.“

„Welche soll’s denn sein? Die Ehemalige oder die Zukünftige?“

„Wie bitte?“

„Sie wissen es nicht? Na, spielt ja auch keine Rolle. Die Damen sind beide nicht im Hause.“

Heym zückte seinen Dienstausweis. „Es handelt sich um ...“

„Darf ich mal sehen?“ Der Jüngling griff ungeniert nach der Hand mit dem Ausweis. „Kriminalpolizei? Hauptmann Heym?“ Er zögerte einen Augenblick, dann wich er zurück und machte eine übertriebene Verbeugung. „Bitte treten Sie reichlich ein, Herr Hauptmann. Sie kommen in amtlicher Mission?“

Heym überhörte die Frage. Er gelangte in einen Vorraum, der als Garderobe diente. An der Stirnwand hing ein hoher Barockspiegel, flankiert von zwei Kristallleuchtern. Auf einer Kommode stand eine prachtvolle Vase, gefüllt mit Chrysanthemen, die einen intensiven herbstlichen Duft verströmten. Der junge Mann half Heym beflissen aus dem Mantel und machte dabei einen neuen Anlauf. „Darf man erfahren, in welcher Angelegenheit Sie vorsprechen, Herr Hauptmann?“

„Wer sind Sie denn überhaupt?“

„Gerechter Gott, er kennt mich nicht!“ Der Jüngling sah mit theatralischem Entsetzen zum Himmel auf. „Ich bin der Hans-Peter und spiele den Butler in diesem ehrenwerten Haus. Ehrenamtlich, versteht sich. Ansonsten habe ich leider zurzeit keine feste Beschäftigung, halten zu Gnaden.“

„Und der Familienname?“

„Wieso? Löffler natürlich.“

„Sie sind ein Sohn des Schauspielers Manfred Löffler?“

„Bestehen daran Zweifel? Sind Sie gekommen, mir den Argwohn mütterlichen Ehebruchs ins Herz zu senken? Hans-Peter ein Bastard? Die Schande überleb ich nimmermehr!“

Heym lächelte. In seiner langjährigen Praxis waren ihm schon die seltsamsten Vögel begegnet. Den Redseligen war meistens besser beizukommen als den Sturen, die ihre Zähne nicht auseinanderkriegten. Also würde er auch mit diesem Kasper fertig werden.

„Recht so, lieber Freund“, sagte er, „immer einen Scherz auf den Lippen, auch wenn es unpassend ist. Oder hat Ihnen Frau von Oxkill noch nichts erzählt?“

„Wie sollte sie? Kehrt ich doch eben heim erst aus der rauen Welt, mir auf Geheiß des Vaters Lohn und Brot zu suchen. Indes vergeblich, wie so häufig schon.“

Energische Schritte näherten sich auf dem fliesenbelegten Gang, der in die Wirtschaftsräume führte. Frau von Oxkill erschien in der Tür.

Hans-Peter wandte sich um, machte einen Kratzfuß und eine elegante Armbewegung. „Da tritt sie ein, die edle Frau. Zu spät geboren, ach zu spät! Könnt ich das Schicksal lenken, ich ließe sie des Husarengenerals von Ziethen würdige Gattin sein. Ein Hoch auf Preußens Gloria!“

„Lass die Possen, Hansi. Ab in die Küche. Frau Willroth wartet mit dem Abendessen.“

Hans-Peter schnitt eine spöttische Grimasse, entfernte sich aber ohne Widerspruch.

Frau von Oxkill überragte Heym um Haupteslänge. Ihr weißes Haar, zu einer hohen Frisur aufgesteckt, machte sie noch größer. Sie trug ein langes, bis zum Kinn geschlossenes Kleid aus schwarzer Seide und an silberner Kette ein silbernes Lorgnon.

„Hauptmann Heym.“

Die alte Dame nickte und streckte ihm eine knochige, pergamentfarbene Hand entgegen. „Oxkill. Hier entlang bitte. Wenn Sie gestatten, gehe ich voran.“

Er folgte ihr in eine Wohnhalle, aus der in weitem Bogen eine Eichenholztreppe zum oberen Stockwerk führte. Ledersessel vor einem Kamin, Wände voller Bücher mit goldgeprägten Rücken, Vitrinen, gefüllt mit Porzellan, dunkle Ölbilder in geschnitzten Rahmen, Bronzefiguren auf Konsolen und zierlichen Tischen. An der Fensterfront, zwischen gerafften weißen Tüllgardinen, ein schwarzer Konzertflügel.

Im Vorübergehen streifte Heyms Blick das rustikal möblierte Speisezimmer und den erleuchteten Wintergarten, in dem Strelitzien und Hibiskus blühten.

Sie gelangten in einen kleinen Raum, der in freundlichem Biedermeier gehalten war. Geblümter Teppich, Lampen mit rosa Seidenschirmen, auf der gestreiften Tapete zart kolorierte Stiche.