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Heiner Rank

Autodiebe

Kriminalroman

ISBN 978-3-95655-364-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1961 bei
Deutscher Militärverlag, Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Entstandene Ähnlichkeiten sind zufällig.

 

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1. Kapitel

Ein zarter, durchsichtiger Dunstschleier lag über der Innenstadt der Spreemetropole, gab dem Himmel eine blasse, milchige Farbe und verwischte die Konturen der Bauwerke. Die schrägen Strahlen der Morgensonne wärmten kahle Hauswände und leckten den Streifen Feuchtigkeit vom Asphalt, den das Wasser speiende Gefährt der städtischen Straßenreinigung hinter sich entrollte. Es war noch früh, kurz vor sieben Uhr.

Leutnant Joachim Marzinek bog um die Ecke der Oranienburger Straße und schlenderte die Friedrichstraße entlang. Die Hände hatte er in den Taschen seines Trenchcoats vergraben; unter dem Arm klemmte eine Kollegmappe. Er hatte Zeit, sein Dienst begann erst um halb acht. In zehn Minuten konnte er ohne Eile sein Arbeitszimmer im Polizeigebäude in der Schadowstraße erreichen.

Marzinek atmete tief die Mailuft, die ein wenig nach Spreewasser und Teer roch. Behutsam wich er dem verschnörkelten Schattenmuster des Eisengeländers aus, das die Sonne auf den Bürgersteig der Weidendammer Brücke zeichnete. Dann überquerte er die Straße und schlenderte an der Rasenfläche entlang, die sich wie ein dicker grüner Teppich vor der glasgedeckten Halle des Bahnhofs Friedrichstraße ausbreitete. Neben ihm auf dem Rasen stolzierte eine Schar weißer Vögel mit gelben Schnäbeln und leuchtend roten Füßen - Möwen, die nach Würmern suchten. Marzinek wusste, dass sich im Laufe des Vormittags tierliebende Nichtstuer einfinden würden, um die freundlichen Flatterwesen mit Brötchen und Bockwurst zu füttern. Als er stehen blieb und einer grünen Pappschachtel mit der Aufschrift „Turf“ eine Zigarette entnahm, kamen die Vögel neugierig näher. Doch zu ihrem Schrecken flammte ein Streichholz auf, und sie machten sich unter misstönendem Geschrei eilig davon.

Das hässliche, aus roten und gelben Ziegelsteinen errichtete Gebäude mit den schmalen, aber hohen Fenstern, das noch aus der Regierungszeit Wilhelms II. stammte, hatte alle Bombenangriffe fast unversehrt überstanden, während ringsum die Häuser in Schutt und Asche gesunken waren.

Marzinek durchschritt das pomphafte Portal und ärgerte sich - wie jeden Tag - über die verstaubten, geschmacklosen Gipsornamente an den Seitenwänden. Beim Pförtner zeigte er seinen Dienstausweis und lief' dann mit langen Schritten die Treppe hinauf. Sein Zimmer lag im zweiten Stockwerk.

Kaum hatte er seinen Mantel in den Schrank gehängt, da schnarrte das Telefon. Eine Mädchenstimme bat ihn, sofort zum Chef zu kommen.

„In Ordnung!“, sagte er und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Die sonst so lustige Stimme des Mädchens hatte sich heute unnatürlich und gezwungen angehört. Warum ließ ihn Major Baumgarten zu einer so ungewöhnlichen Zeit zu sich rufen? Was war geschehen?

Er blickte auf die Armbanduhr und stellte fest, dass es eine Viertelstunde vor Dienstbeginn war. Er zögerte einen Moment, trat dann schnell auf den Gang hinaus.

Viele Türen reihten sich in gleichförmigem Abstand aneinander. Sie waren mit kleinen weißen Nummernschildern versehen, ohne deren Hilfe es auch für die mit dem Hause Vertrauten schwer gewesen wäre, sich zurechtzufinden. Nüchtern und dennoch geheimnisvoll wirkte dieser lange Gang, hinter dessen Wänden das komplizierte Räderwerk der Volkspolizeiarbeit leise, aber mit größtmöglicher Sicherheit funktionierte. Bei Nummer 207 drückte der Leutnant die Klinke nieder. An einer Schreibmaschine saß ein dunkelblondes Mädchen. Sie erwiderte den Gruß, vermied jedoch, Marzinek dabei anzusehen, und wandte sich sofort wieder der Arbeit zu. Die Typen der Maschine begannen monoton zu klappern.

„Was ist denn schon in aller Herrgottsfrühe los?“, fragte der Leutnant.

„Eine böse Geschichte.“ Das Mädchen sprach leise, ohne aufzublicken. „Der Genosse Major erwartet Sie.

Major Baumgarten saß an einem modernen Schreibtisch aus hellem Holz. Er war damit beschäftigt, die Kärtchen eines Umsteckkalenders auszuwechseln, der vor ihm auf der Platte des Schreibtisches stand. Diese stets eigenhändig mit pedantischer Pünktlichkeit ausgeführte Handlung war zum Symbol seiner Arbeitsmethodik geworden: sie verkörperte für ihn Ordnung, System, Gesetzmäßigkeit.

Baumgarten war etwas über fünfzig Jahre alt. Als junger Setzer hatte er gegen die Kapp-Putschisten auf der Barrikade gestanden. Seit dieser Zeit kämpfte er unermüdlich für die Interessen der Arbeiterklasse. Eine tiefe Narbe unter dem linken Auge, im KZ Buchenwald empfangen, legte davon Zeugnis ab. Es war eine harte Schule, die ihm das Leben aufgezwungen hatte.

Zuweilen beklagten sich die jungen, dem Major unterstellten Genossen, dass er jede Einzelaktion, selbst wenn sie Erfolg hatte, ironisch als „disziplinloses Bravourstück“ abtat. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ihm der Erfolg nur treu blieb, wenn er sich niemals auf das Glück oder den Zufall verließ.

„Die Volkspolizeiarbeit ist kein Wildwestfilm“, sagte er immer wieder und wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die Kriminalität nur durch Logik und Kombination und Anwendung sämtlicher kriminaltechnischer Hilfsmittel wirksam bekämpft werden kann.

Da es eine im ganzen Hause bekannte Tatsache war, dass Baumgartens erste Arbeit, wenn er morgens das Büro betrat, seinem Kalender galt, so musste er eben erst gekommen sein, oder ein außerordentlich wichtiges Ereignis hatte ihn bis jetzt daran gehindert.

Obwohl draußen seit Langem die Sonne schien, waren die Vorhänge noch zugezogen, und im Zimmer schwebte der Zigarettenqualm in dicken Schwaden. Marzinek, der inzwischen Zeit gehabt hatte, sich in Ruhe umzusehen, stellte fest, dass der Major schon seit vielen Stunden gearbeitet haben musste.

Baumgarten strich sich jetzt mit der Handfläche über die kurz geschnittenen grauen Haare und griff dann zu einem hellbraunen Sommersakko, der hinter ihm über der Sessellehne hing. „Nun, da sind Sie ja! Guten Morgen! Ja“, fuhr er fort und klemmte die Unterlippe für einen Augenblick zwischen die Zähne, na, nehmen Sie doch erst mal Platz.“

Er reichte Marzinek über den Schreibtisch die Hand und wies auf eine Sesselgruppe, die vor dem Fenster in der Ecke des Zimmers stand.

Marzinek setzte sich. Die Spannung in ihm wurde immer stärker. Er konnte sich nur noch mit Mühe bezwingen, seinen Vorgesetzten nicht geradeheraus nach dem Geschehenen zu fragen.

Streichhölzer und eine Packung Zigaretten in der Hand, ließ sich Baumgarten nun ebenfalls in einem Sessel nieder. Als sein Gesicht aus einer weißen Rauchwolke wieder auftauchte, begann er plötzlich zu sprechen.

„Wir haben einen schmerzlichen Verlust erlitten. In der vergangenen Nacht wurde unser Genosse Oberleutnant Paul Wiener das Opfer von Verbrechern.“ Er sagte es langsam und so, als müsste er sich erst selbst wieder von der Wahrheit dieser Worte überzeugen.

Marzinek lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Seine Hände pressten sich um die hölzernen Seitenlehnen des Sessels. Er fühlte den Schmerz wie einen Stein, der unaufhaltsam in ihm wuchs. Er wollte aufspringen, Fragen stellen, er konnte es nicht.

Paul Wiener war sein Genosse, sein Freund, sein Vorbild, sein Kamerad. Als Marzinek vor vier Jahren zur Kriminalpolizei gekommen war, hatte ihn der um zehn Jahre ältere Wiener unter seine Fittiche genommen und aus dem Anfänger in unermüdlicher und geduldiger Arbeit einen zuverlässigen Kriminalisten gemacht. Während dieser Zeit war zwischen Schüler und Lehrer eine echte Freundschaft entstanden, die auch fortdauerte, nachdem ihre Arbeitsgebiete getrennt und dem Leutnant Marzinek die ersten Aufgaben zur Lösung anvertraut worden waren.

Der Major sah, wie seinem Gegenüber das Blut aus dem Gesicht wich. Er wusste, welche Gefühle den jüngeren Mitarbeiter bewegten, er hatte an diesem Morgen eine ähnliche Erschütterung erlebt, als er an die Bahre seines Genossen Wiener getreten war.

Baumgarten zündete sich wieder eine Zigarette an und schob das Päckchen dann dem Leutnant zu. Er begann zu berichten: „Heute Morgen, zwanzig Minuten nach vier Uhr, wurde ich von der Zentrale angerufen. Oberleutnant Wiener war von einem Passanten in den Treptower Parkanlagen aufgefunden worden. Als ich um vier Uhr fünfunddreißig am Tatort eintraf, war die Mordkommission bei der Tatortuntersuchung. Der hinzugezogene Arzt erklärte der Mordkommission, dass bei Oberleutnant Wiener der Tod vor mindestens vier bis fünf Stunden eingetreten sei, denn die Totenstarre mache sich bereits bemerkbar. Die zwei Einschüsse, welche auf dem Rücken festgestellt wurden, haben Oberleutnant Wiener tödlich verletzt. Der Mörder muss bei der Tat unmittelbar hinter ihm gestanden haben. Das Oberhemd weist an den Einschüssen Brandstellen und Spuren von Pulverrauch auf.“

Marzinek musste seine ganze Kraft aufwenden, um die Worte des Majors völlig zu begreifen. Er versuchte, alles Gefühlsmäßige in sich auszuschalten, um keine Einzelheit zu überhören und die Tatsachen nüchtern beurteilen zu können. Er wollte sich zur Ruhe zwingen, so, als handelte es sich nicht um seinen Freund, sondern um einen ihm völlig unbekannten Menschen.

Baumgarten fuhr fort: „Wiener trug seinen hellgrauen Sportsakko und einen Staubmantel. Das Merkwürdige aber ist, dass diese beiden Kleidungsstücke unbeschädigt und völlig frei von Blutspuren sind, obwohl die Wunden stark geblutet haben. Ich habe vorhin etwas Zeit gehabt, über diesen Umstand nachzudenken, und bin zu dem Ergebnis gekommen: Der oder die unbekannten Täter fühlten sich sehr sicher, denn sie hatten offenbar für ihr Verbrechen einen Ort gewählt, wo das Geräusch der Schüsse sie nicht verraten konnte. Das kann nicht im Freien oder in einer gewöhnlichen Mietwohnung gewesen sein, sondern eher in einer Ruine, in einem Keller oder in einem abgelegenen Haus. Ich glaube, Wiener ist in eine Falle gelaufen. Außer den Schussverletzungen waren an seinem Körper keine Spuren von Gewaltanwendung zu entdecken. Im Laufe des Abends hatte er - es war ja gestern Abend eine drückende Schwüle - außer dem Staubmantel auch den Sakko abgelegt Nach einigen Stunden, als die Wunden nicht mehr bluteten, zog man ihm dann seine Kleidungsstücke wieder an und schaffte ihn - wahrscheinlich mit einem Auto - in den Treptower Park, wo er gegen Morgen gefunden wurde.“

Der Major bemerkte, dass Marzinek mit unbewegtem Gesicht auf einen Punkt an der gegenüberliegen. den Wand starrte.

„Ich erzähle Ihnen diese Einzelheiten aus einem ganz bestimmten Grund, Genosse Leutnant“, sagte Baumgarten in einem freundlichen, weniger sachlichen Ton. „Wir haben den Beschluss gefasst, Ihnen die Aufklärung dieses Falles zu übertragen.“ Er machte eine Pause und versuchte, sich in seinem Sessel etwas bequemer zurechtzusetzen. „Wir wissen vorläufig nicht, aus welchen Motiven die Tat geschehen ist. Sind sie in der dienstlichen Aufgabe zu suchen, mit der Paul Wiener zurzeit betraut war? War es vielleicht der Racheakt eines alten Ganoven? Oder sollte Wiener hinter die Kulissen eines Verbrechens geschaut haben und dabei entdeckt worden sein? Liegen die Hintergründe der Tat etwa in seinem Privatleben? Denkbar ist alles. Da Sie als Freund mit seinen Lebensgewohnheiten vertraut sind, halten wir Sie am ehesten für geeignet, die Spur, die zum Mörder führt, zu finden. Wie Sie vielleicht wissen, arbeitete Genosse Wiener zurzeit an einem Auftrag, der zwar nicht sehr gefährlich schien, doch Erfahrung, Menschenkenntnis und Fingerspitzengefühl voraussetzte. Gegen eine Gruppe arbeitsscheuer Leute im Stadtbezirk Mitte lag der Verdacht umfangreicher Lebensmittelschiebungen und illegaler Geldgeschäfte vor. Wiener sollte in den Augiasstall erst einmal hineinleuchten, und wir wollten dann später dort gründlich aufräumen. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wie weit er mit seinen Nachforschungen gekommen war, weiß ich nicht. Den Bericht über die Ergebnisse seiner Arbeit hatte er noch nicht geschrieben. Es ist Ihnen bekannt, dass er höchst ungern und nur wenn es nicht zu vermeiden war, andere in seine Untersuchungen einweihte, bevor sie abgeschlossen waren. Das hatte natürlich seine Vorteile. Heute allerdings wäre mir lieber, er hätte etwas weniger Zurückhaltung geübt.“ Der Major erhob sich und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Auf einem Aktendeckel lag ein kleines Taschenbuch, das einen schwarz glänzenden, biegsamen Einband hatte. Er nahm Buch und Aktendeckel und überreichte beides dem Leutnant.

„Hier sind die Protokolle über die Aussagen der Personen, die Wiener in der Parkanlage aufgefunden haben. Das schwarze Taschenbuch haben wir in der Tasche seines Regenmantels entdeckt, den er hier im Büro zurückgelassen hatte. Obwohl gestern Feiertag war, ist er nachmittags hier gewesen und hat den Regenmantel, den er am Vormittag wegen des unbeständigen Wetters trug, gegen den Staubmantel ausgetauscht. Dabei muss er das Buch vergessen oder aus irgendeinem uns noch unbekannten Grund zurückgelassen haben. Mehr Unterlagen kann ich Ihnen im Augenblick nicht übergeben. Die Genossen der Mordkommission stehen Ihnen zur Verfügung. Der Obduktionsbericht wird Ihnen noch heute zugeleitet.“

Marzinek erhob sich ebenfalls. Er stand vor dem Major, den er um einen halben Kopf überragte, und sah ihn fest und entschlossen an. Baumgarten entdeckte-zu seiner Freude in diesem Blick keine Zeichen von Resignation oder Verzweiflung.

„Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Arbeit“, sagte er und war im Stillen stolz, dass der Leutnant so schnell seine Selbstbeherrschung zurückgewonnen hatte und den Kampf aufnahm.

Die Männer schieden mit einem kräftigen Händedruck.

2. Kapitel

Es war am frühen Nachmittag desselben Tages.

In einem fensterlosen, lang gestreckten Raum hockten etwa fünfzehn Männer um zwei zusammengerückte Billardtische. Tief hängende Lampen mit kleinen runden Porzellanschirmen schnitten weiße Lichtkegel durch die rauchgeschwängerte Luft. Die Gesichter der Männer blieben im Dunkeln, sie hoben sich nur undeutlich von den unverputzten, weiß getünchten Wänden des Zimmers ab.

Auf einem hölzernen Hocker am Kopfende der Tische saß ein schlanker, elegant gekleideter Mann. Er hatte ein markantes Gesicht und kühle graue Augen. Die harten, von der Nase zu den Mundwinkeln laufenden Falten und das in leichten Wellen sorgfältig nach hinten gelegte Haar, durch das sich schon viele graue Fäden zogen, ließen eine Vermutung auf sein Alter zu: Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein gut situierter Geschäftsmann, doch seine tadellose, etwas zu straffe Haltung verriet den ehemaligen Offizier. Vor ihm auf dem grünen Tuch des Billardtisches lagen in Bündeln Fünfzigmarkscheine.

Seine gepflegten Hände griffen mechanisch ein Geldpäckchen und warfen es, immer wenn ein rechts von ihm sitzender kleiner Kerl aus einer Liste einen Namen vorlas, dem Manne zu, der am Tisch die Hand hob.

Der Kleine fungierte als Buchhalter. Doch war das nur eine Nebenbeschäftigung, die er als Vertrauter des Chefs ausübte, dem er in einer Mischung aus Dankbarkeit und Angst vorbehaltlos ergeben war. Schon als Zehnjähriger war er das erste Mal als Taschendieb auf frischer Tat ertappt worden, und seitdem hatte sich in seinem Strafregister eine Unzahl kleinerer Eigentumsdelikte angesammelt, denn zu seinem Kummer trug er ein unverwechselbares Gesicht, das für ihn stets berufsschädigende Folgen hatte. Kleine, eng zusammenstehende, unstete Augen, einen Schopf wirrer dunkler Haare, die wegen ihrer natürlichen Krause nie zu bändigen waren, wulstige Lippen, lange gelbe Pferdezähne und als besonderes Charakteristikum eine verknorpelte Nase, aus deren Öffnungen eine üppige Flora schwarzer Härchen spross.

Vor einiger Zeit fand er Anschluss an die Bande und bezog nun ein festes Gehalt, sodass er auf gewagte Einzelaktionen, die ihn immer wieder ins Kittchen brachten, verzichten konnte. Er beugte sich eifrig über den nicht ganz sauberen Bogen. Durch seine großen abstehenden Ohren schimmerte das Licht und ließ sie wie Kinderdrachen im Sonnenschein rot erglühen. Die Stille, die in dem Raum herrschte, wurde nur durch seine ordinäre, monoton die Namen herunterleiernde Stimme und das Klatschen der Geldbündel unterbrochen.

„So, das war’s für heute! Hassel, Sie nehmen das Gehalt für die Kundenwerber mit“, sagte der Mann am Kopfende des Tisches. Seine Aussprache war genauso korrekt wie seine Kleidung.

Die letzten beiden Päckchen flogen auf einen jungen Mann zu. Der hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und stützte das Kinn mit beiden Händen.

Mürrisch starrte er vor sich hin und rührte keinen Finger, um das Geld an sich zu nehmen.

„Morgen früh müssen Sie sowieso zu Nemitz fahren. Schärfen Sie ihm nochmals ein, er soll sich hier auf keinen Fall sehen lassen. Er soll auch nicht anrufen.“

Jetzt endlich bequemte sich der junge Mann, den Mund aufzumachen. „Hier ist doch was faul“, begann er. Bei seinen ersten Worten hoben die Männer erstaunt die Köpfe, denn sie hörten nicht die gewohnte Zustimmung, sondern Widerspruch. „Unser Laden funktioniert, der Umsatz wird immer größer“, fuhr er fort. „Ich möchte mir die Frage erlauben, warum dann die Gewinnbeteiligung immer kleiner wird? Im März waren es zweitausendfünfhundert, im April zweitausend und jetzt nur noch achtzehnhundert. Außerdem sind wir keine Beamten, die am Schreibtisch pennen und dafür Gehalt hinterhergeschmissen kriegen.“

Ein zustimmendes Murmeln wurde laut, und Fred Hassel fügte ermutigt hinzu: „Wir halten alle den Hintern hin, und darum sollte auch der Gewinn in gleiche Teile gehen.“

Ein stiernackiger Kerl mit rötlichem Borstenhaar und fettem Gesicht, der links neben dem Chef saß, rieb seine roten Finger, die er sich vor Jahren an der Fleischbank erfroren hatte und die zu jucken begannen, sobald er in Erregung geriet. Er hatte die Beine weit ausgestreckt, sodass er auf seinem Stuhl mehr lag als saß. Jetzt richtete er den Oberkörper auf. „Halt die Klappe, du Miesmacher!“, sagte er und starrte Hassel wütend an. „Wenn dir vor Angst die Hosen schlottern, kannst du ja …“

Der Chef brachte seinen Leibwächter mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen. „Was soll denn dieser Unfug, Hassel?“, wandte er sich an den jungen Mann. „Malkowski hat doch vorhin die Einnahmen und Ausgaben vorgerechnet. Wenn Sie es nicht glauben, bitte, Sie können es nachprüfen.“ Er nahm ein Buch vom Tisch und reichte es seinem stiernackigen Nebenmann, der es mit missmutigem Gesicht weitergab.

Hassel schlug es auf. Es war ein einfaches blaues Diarium, in das Malkowski eine primitive Buchführung gekritzelt hatte.

In der Mitte des Blattes war ein senkrechter Strich gezogen. Auf der linken Seite standen die Einnahmen, auf der rechten die Ausgaben. Die Endsumme rechts war von der Endsumme links abgezogen, und was übrig blieb, war durch zwanzig geteilt, pro Mann einen Anteil. Die Bande zählte zwar nur achtzehn Mitglieder, aber man hatte vereinbart, dass der Chef zwei Anteile bekommen sollte und seine beiden Handlanger, „Orje“ Malkowski und Ferdi Gross, zusätzlich je einen halben.

Hassel fuhr mit seinem Finger über die Zeilen und verglich die Zahlen. Er sah, dass die Einnahmen im Verhältnis zu den Vormonaten gestiegen waren, aber gleichzeitig waren auch die Spesen gewachsen und hatten den Löwenanteil der Einnahmen wieder aufgefressen. Einen Rechenfehler konnte er nicht entdecken. Ärger stieg in ihm auf, denn er begriff, dass seine Attacke den Schwung verloren hatte. Der Chef war geschickt und hatte ihn auf ein Gebiet abgedrängt, wo er sich verheddern musste, weil er von Buchhaltung nichts verstand. Wütend klappte er das Buch zu. „Dieses Geschmiere scheint in Ordnung zu sein“, sagte er widerwillig.

Auf den Gesichtern der Männer malte sich ein wenig Enttäuschung, die sich aber bald in hämische Schadenfreude verwandelte. Nur die Miene des Chefs blieb völlig undurchsichtig, als er sagte: „Wenn es Sie beruhigt, können Sie auch noch die übrigen Unterlagen einsehen. Malkowski, geh ’runter und hole die Mappe mit den Quittungen.“

Hassel winkte müde ab. „Nicht nötig, Chef. Der Kram wird schon irgendwie stimmen. Wenn Sie mir nur erklären könnten, warum unsere Anteile immer kleiner werden? Wir leisten doch nicht weniger als früher.“

„Hassel, Sie müssten das doch langsam wissen. Eben hatten Sie die Abrechnung noch einmal in der Hand. Aber schön, ich sehe, Sie haben es wirklich nicht verstanden. Ich werde Ihnen also die Geschichte zum zweiten Mal erklären.“

Er machte eine Pause, nahm aus der Brusttasche ein silbernes Zigarettenetui und klemmte sich eine „North State“ zwischen die Lippen. Von Ferdi Gross wurde ihm Feuer gereicht. Er machte einige tiefe Züge und blickte auf die Männer, die sich um die grünen Billardtische drängten und ihn erwartungsvoll anglotzten.

Für einen Augenblick schien ihm die Szene unwirklich. Der kahle Raum mit den zugemauerten Fenstern, die einst einen trostlosen Ausblick auf einen Berliner Hinterhof gewährt hatten, die grellen Lichtkegel der tief hängenden Lampen, die abgestumpften oder brutalen Gesichter der Bandenmitglieder und seine beiden Leibwächter, die nach grotesken Gangsterkarikaturen aussahen.

Er musste ein schmerzliches Lächeln unterdrücken. Welch ein Abstieg, dachte er. Vom Mitarbeiter des Deutschen Geheimdienstes, der bis zum Zusammenbruch nur in den „besten Kreisen“ verkehrt hatte, zum Bandenchef nach importiertem Muster. Nun, er würde zurückkehren in die Welt der „oberen Zehntausend“. Die schmutzige Arbeit, die andere für ihn machten, brachte Riesensummen ein. Denn nie zuvor hatte er es mit so armseligen Köpfen zu tun gehabt. Die Burschen waren seinem scharfen und skrupellosen Verstand in keiner Weise gewachsen und bemerkten nicht, wie schamlos sie um ihren Beuteanteil betrogen wurden. Er wollte ihnen schon ein Märchen auftischen, das seine Wirkung nicht verfehlte.

Langsam streifte er die Asche ab, die inzwischen zu einem flockigen, grauweißen Stab angewachsen war, blickte noch einmal mit kalten Augen in die Runde und begann: „Wie uns allen bekannt ist, können wir unsere Wagen nur verkaufen, weil wir völlig einwandfreie Zulassungspapiere mitliefern. Ohne diese Papiere würde das Geschäft in kurzer Zeit zusammenbrechen. Mit einem Batzen Geld ist es mir gelungen, diese Zulassungen zu besorgen. Damit war überhaupt erst die Grundlage für die Arbeit der Organisation gegeben. Heute auf diesem Gebiet noch auf eigene Faust vorzugehen ist lächerlich und nicht rentabel. Wer hat als einzelner schon die technischen Möglichkeiten, den Wagen schnell und gründlich umzubauen? Aber selbst, wenn ihm das gelingen sollte, fehlten ihm die Fahrzeugpapiere, und er wäre doch gezwungen, ihn auszuschlachten und die Einzelteile zu verkaufen. Das Risiko ist dabei groß und der Gewinn gering.

Leider jedoch wissen auch unsere Partner, denen wir die Zulassungen verdanken, ganz genau über diese Lage Bescheid. Von Monat zu Monat schrauben sie ihre Forderungen höher. Bis jetzt können wir uns das gefallen lassen, denn das Geschäft ist gut, und ich will nicht wegen einiger Tausend Mark die ganze Organisation aufs Spiel setzen.“