Impressum

-ky (BRD), Steffen Mohr (DDR)

Schau nicht hin, schau nicht her

ISBN 978-3-95655-386-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1989 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg und im Mitteldeutschen Verlag Halle.

 

Aus Furcht vor Verleumdungsanzeigen und Gespenstererscheinungen versichern die Autoren, dass jede Namensgleichheit mit lebenden und toten Personen unbeabsichtigt ist und auf reinem Zufall beruht.

 

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Zu diesem Buch

A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins

William Shakespeare

 

Die Astrologin hielt Goyatz noch einmal zurück.

„Moment mal, ich muss Ihnen noch etwas sehr Wichtiges sagen ... Widder-Menschen sind wegen ihrer Ungeduld und Impulsivität eigentlich immer anfällig für Unfälle aller Art ... Schließlich noch, und das ist nicht gut, Uranus im Widder: Sie bringen oft Ihr Leben und das Ihrer Familie in Gefahr, vor allem dann, wenn Sie Auto fahren ...“

„Gott, nein...“ Goyatz war zusammengezuckt.

Ricarda hatte die Hände vor die Augen gepresst. „Ich sehe in einigen Tagen Schreckliches mit Ihrem Auto passieren. Sie sitzen am Steuer, und da ...! Lassen Sie es in der Garage, treten Sie auf keinen Fall eine geplante Reise an!“

Eigentlich ist Günther Goyatz ein stahlharter Bauunternehmer, doch bei seinen anstehenden Investitionen verlässt er sich nicht nur auf objektive Finanzdaten, sondern er geht auch zu einer Astrologin, um sich beraten zu lassen. Die warnt ihn vor einer drohenden Katastrophe. Doch die Familie will die Geburtstagsfeier des berühmten Onkels in der DDR nicht versäumen. Also fährt man auch hin. Alles verläuft höchst harmonisch. Doch dann bricht das Unheil über sie herein ...

Dieser Roman war ein Ereignis: Es war der erste deutsch-deutsche Kriminalroman und erschien 1989 bei Rowohlt und im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Der BRD-Autor -ky und der DDR-Autor Steffen Mohr haben sich einen spannenden Kriminalfall ausgedacht, in den Westberliner und DDR-Bürger verwickelt sind, -ky schildert die Seite der Berliner, Mohr die Ermittlungsarbeit in der DDR. Anschaulicher kann man die Gegensätze in der deutschen Wirklichkeit nicht geboten bekommen.

Die Hauptpersonen

Bürger der Bundesrepublik Deutschland

Günther Goyatz: baut nie auf Sand

Inge Goyatz: verliert ihr Herz an Marika Rökk

Julian Goyatz: schaut nur geradeaus und erblickt dennoch Gespenster

Nina Goyatz; mag Fontane und Nico

Nico: geht mehrmals unter

 

Bürger der Deutschen Demokratischen Republik

Arnold Roddahn: erfindet und wird unauffindbar

Hauptmann Klaus Merks: stößt auf vieles, was ihm nicht in die Hände fällt

Anett Bartuck: fährt Rad und wird hin- und hergerissen

Lisa: liebt ihren Papa und die Volkspolizei

Ulla: ist ein delikates Mädchen

Raskolnikoff: taucht unerwartet auf

Paul Zeiske: sperrt Schriftsteller ein und jagt einen Verdächtigen

Friedhelm: weiß mehr, als er der Volkspolizei verrät

1. Kapitel

Der Supermarkt brannte wie von einer Bombe getroffen, und die Vermummten hatten sich zum Kriegstanz an den Händen gefasst, voller Alk im Voodoo-Rausch, schrien ihre Wahnsinnslust hinauf zum Maienhimmel über Berlin: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt! Spraydosen, metallisch-kalt und geil wie Handgranaten, flogen in die Flammen, explodierten unter Höllenlärm. Das ging ab, ächt-äih, da steppte der Bär. Bürger, hört die Signale! Wie ein zerplatzender Feuerwerkskörper auch schossen die Plünderer mit ihren Einkaufswagen davon, brachten kistenweise Bier und Sekt und Wein in Sicherheit, um zu Hause, vor allem aber auf den umliegenden Straßen und Plätzen ihren großen Sieg über die verhasste Ordnung der anderen gebührend zu feiern.

Gegenüber mühten sich Julian und Floppy, die schwere Kuppelstange eines Bauwagens, Firma Günther Goyatz Berlin, in den Schacht eines Unimogs zu schieben, in dem sie wie in einem Schützenpanzerwagen, um zu retten, was zu retten war, bis hierher vorgestoßen waren, nach Kreuzberg-Mitte: Görlitzer Bahnhof/Skalitzer Straße. Der Eine Sohn des Unternehmers („Vor diesem Mob kapituliere ich nicht!“), der Andere der Mutigste ihrer firmeneigenen Fahrer, auch von einer ansehnlichen Prämie gelockt.

„Warum geht denn die Scheiße hier nicht rein in diesen Hundearsch!“ Immer wieder rutschte Floppy mit der Kuppelstange an der eisernen Öffnung vorbei, die sich ihnen unbeweglich-starr entgegenstreckte, und seine Assoziation war klar, seine fiebrige Erregung ebenfalls, denn sie hatten nur Sekunden Zeit. Aus der Oranienstraße stürmte eine Fighterschar heran, Desperados, schmal die Schlitze in ihren Wollmützenvisieren, steckten alles in Brand, was an den Straßenrändern parkte, waren ganz besonders wild auf Bau- und Lieferwagen. Wo wir sind, da ist das Chaos!

Feuerwehren rasten heran, und die Männer gaben ihr Bestes, das Inferno mit Martinshörnern, Blaulichtgarben und Kommandosalven weiter anzureichern, wurden höhnend empfangen mit einem Hagel schnell herausgeklaubter Pflastersteine, schafften es aber dennoch in Windeseile, passende Hydranten zu finden und die Deckel hochzureißen. Wasser, marsch! Doch kaum hatten die Spritzen ihre ersten Sprühstöße ins Feuer gejagt, waren die Schläuche auch schon von einer Motorsäge zerschnitten.

Floppy sprang ins Führerhaus zurück, um den Unimog eine Handbreit nach vorne zu fahren, dann wieder zurückzustoßen und Julian die Chance zu geben, die Kupplungsstange so geschickt zu halten, dass es endlich klappte.

Aus ihren Wohnungen flüchteten sie, Mütter mit ihren Kindern und ältere Leute, hatten nur ihr Geld und die wichtigsten Papiere gegriffen. Türgitter polterten herunter; Geschäftsinhaber, Kneipenwirte und alle Erdgeschossmieter, die grad zu Hause waren, verschanzten sich, so gut es ging. Am Hochbahnhof brannte wie ein Freudenfeuer schon der Zeitungsstand, und auf einem von der Wand gefetzten Zigarettenautomaten trampelten Fallschirmspringerstiefel herum, den Geldschacht zu knacken. Gerade stürmte ein Chaoten-Kommando auf den Bahnsteig hinauf, riss die verhassten Fahrscheinentwerter vom Sockel und ließ sie auf die Gleise fallen. U-Bahn-Züge, Linie 1, hielten ratlos auf der Strecke.

Die Polizeibeamten ließen sich Zeit, rückten hinter ihren vergitterten Einsatzfahrzeugen nur langsam heran, die Plastikschilde hochgerissen gegen die Steine, setzten auf ihre Tränengasschwaden. Ihrem Einsatzleiter hatte ein Geschoss die ungeschützte Wade aufgerissen.

„Los, rein und ab!“

Julian und Floppy hatten es endlich geschafft, schwangen sich ins Führerhaus des Unimogs, der Profi ans Steuer, ein Macho, Quarterback der Berlin Rambos, weizenblondes Bürstenhaar und immer gnadenlos, hatte das Steuer umklammert. Wie seinen Joystick in der Spielhalle, als sie ihn geholt hatten. Krieg der Sterne, fertig zum Feuern. Schieß sie ab, die Schweine!

Schwarze Fighter liefen auf sie zu, einige mit Flaschen in der Hand, grünes Glas, Bocksbeutel, statt Weißwein allerdings Benzin. Zwei Einschläge am gelben Bauwagen hinten.

In die Taschen gefasst, Streichhölzer her, ein Feuerzeug!

„Gas geben, Floppy, Gas!“

Da springt einer der Vermummten vor den Unimog, streckt beide Hände nach oben, befehlend und bittend zugleich, halb Jesus und halb Guerilla-General, lässt die offenen Handflächen wie Signalscheiben kreisen: Halt!

Und Floppy nimmt den Fuß vom Gaspedal.

Hinter ihnen zischt es so, als würde man zugleich hunderttausend Streichholzschachteln entzünden.

Ihr Bauwagen.

Sie springen hinaus und ergreifen die Flucht, sehen, als sie sich noch einmal umdrehen, auch den Unimog nur noch als qualmende Fackel.

 

So etwas lässt sich nicht verdrängen, und Julian hatte das Bild wieder deutlich vor Augen, als sie ein gutes Jahr später, sein Vater und er, von Norden her durch den Tiergarten kamen, die Entlastungsstraße entlang, Brandenburger Tor und Siegessäule als Orientierungspunkte links und rechts, wie immer, preußisch-deutsche Glorie, dann, als tägliche Anschauung dafür, wie alles verspielt worden war, das Ehrenmal der siegreichen Roten Armee und, ein Stückchen tiergarteneinwärts, die austernähnliche Kongresshalle, US-Amerikas Symbol für die kulturelle Oberhoheit hier und heute. Was nun aber die gemeinte Assoziation eigentlich auslöste, war etwas anderes, folgte gleich am Kemperplatz, dem goldgelben Betonzelt der Philharmonie blickweit gegenüber: das Lenné-Dreieck, ein Zipfel DDR-Gebiet, Hauptstadt Berlin, zum 1. Juli dem Westen verkauft, aber vorher von Autonomen besetzt; Landnahme für eine eigene Kommune, eine innerstädtische Insel mit antibürgerlichen Werten und Normen, wie auch zur Rettung ökogrüner Natur vor Straßenbauern, Unternehmern, CDU. Die Westberliner Polizeisoldaten durften noch nicht zur Räumaktion blasen, selbstverständlich nicht die hochheilige DDR-Staatsgrenze verletzen, und die bittend konsultierten Amis, Briten und Franzosen waren so bekloppt nicht, diesen Job zu übernehmen.

„Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent sind da die Leute bei, die unsern Bauwagen angesteckt haben“, sagte Julian. „Und den Unimog ...“

Goyatz nickte. „Früher hätte man ’n KZ für so was gehabt.“

„Sag das bloß nicht zu laut, sonst ist es aus mit den Senatsaufträgen!“, warnte ihn sein Sohn. „Und ich kann mich auf keiner Liste mehr aufstellen lassen.“

„Aber denken wird man’s ja noch können. Das ist doch alles Abschaum hier!“ Goyatz ließ den Motor aufheulen.

„Hör auf!“ Julian, in seiner Psyche auf nichts weiter zentriert als auf eine steil nach oben führende politische Karriere, fürchtete das Stammtischdenken seines Vaters, wusste, dass es auch ihn belastete, wenn der Alte öffentlich für die Wiedereinführung der Todesstrafe plädierte („Rübe ab!“) oder für Ausländer, Aussiedler und Asylanten KZ-ähnliche Lager empfahl. Mochte er damit auch noch so vielen Bundesdeutschen richtig aus dem Herzen sprechen, die Meinungsmacher der gehobenen Stände aber ahndeten das durchweg mit gelben und mit roten Karten, und Julians politische Ziehväter waren viel zu klug und nicht dafür zu haben, selbst wenn sie ihre CDU immer wieder dazu anhielten, auch die braunen Wasser ganz am rechten Außenrand nach Wählern abzufischen. Doch er ließ andererseits auch keinen Zweifel daran, dass er immer wieder heftigste Emotionen gegen jene Kreuzberger Chaoten verspürte, deren Opfer sie geworden waren, zumal die Täter, natürlich, wie er meinte, niemals ausgemacht, eingefangen und verurteilt worden waren. Und ebenso natürlich hatte ihnen ihre Versicherung diesen Schaden noch immer nicht vollständig ersetzt, sich auf die berühmte „höhere Gewalt“ und ähnliche Formeln berufen. „Wenn ich am Steuer gesessen hätte, dann ... Aber sicher gut so, dass ich nicht ...!“

Das Zelt- und Hüttenlager am Lenné-Dreieck war von Polizisten abgeriegelt worden, die Erstürmung schien bevorzustehen, und Julian war der Meinung, dass die Besetzer schon mit der DDR verhandelt hätten, um sich notfalls in Sicherheit bringen zu können, mithilfe ihrer Leitern auf die Mauerkrone hinauf und dann ostwärts hinüber, hatte auch gelesen, dass die Autonomen selbst vom „Norbert-Kubat-Dreieck“ sprachen, damit einen der Ihren ehrten, der im letzten Jahr nach Demokrawallen verhaftet worden war; Selbstmord dann im Knast.

Militärhubschrauber der NATO knatterten über ihre Köpfe, über Mauer und Tiergarten hinweg, über das Ödland des Potsdamer Platzes und die M-Bahntrasse, Hightech idiotisch, und auf der Mauerkrone hingen Grenzposten des Warschauer Paktes, das Kampfspiel zu verfolgen, wirkten mit ihren übergestülpten Gasmasken wie außerirdische Wesen.

Die Vermummten waren mit Eifer am Werke, hoben Panzergräben aus und verschanzten sich hinter immer neuen Stacheldrahtrollen, malten Plakate: „Zerschlagt die NATO!“, „Briten raus aus Nordirland“, „Pol Pot kontra Pol. Präs.“, verhöhnten die machtlosen Bullen, während sie ihnen die leeren Tränengaskartuschen vom Vortage zurückwarfen. Zeit blieb aber auch, den Touristen bemalte Pflastersteine zu verscherbeln, Souvenirs, Souvenirs, oder sich gegen Geld mit ihnen fotografieren zu lassen.

„Das ist ja alles unerträglich!“, sagte Goyatz, während er ein gewagtes Wendemanöver vollführte, um Julian vor der Staatsbibliothek absetzen zu können, dem Pendant zu Musiksaal und Philharmonie auf der anderen Straßenseite, golden-schlossgelb so wie diese, Kulturforum alles, menschenarm, j. w. d., am Rande, fürs europäische Übermorgen gebaut, wenn es denn je eins geben sollte.

Julian dankte, wollte den Tag intensiv nutzen, um mit seiner Arbeit ein gutes Stück voranzukommen, hin zum Diplom-Politologen, Thema waren die Gestapo-Quartiere in und um Berlin.

Goyatz aber überquerte den Landwehrkanal und fuhr auf gewohnten Pfaden Richtung Kurfürstendamm, die Potsdamer, die Bülow-, die Kleist- und die Tauentzienstraße entlang, an Türken-Basar und KaDeWe vorbei, bog gleich hinter dem Westberliner Herzstück Gedächtniskirche/Wasserklops nach links in die Meinekestraße ab, wo eine gute Astrologin wohnen sollte. Tipp eines Geschäftsfreundes. Die Nummer wüsste er nicht, es befände sich aber ein Kindermodenladen im Hause, „elefant’s knot“ oder so ähnlich, und die Dame arbeite streng auf wissenschaftlicher Grundlage, wobei sie sich nicht scheue, ihren Klienten auch einmal Unangenehmes zu sagen; Ricarda hieße sie im übrigen.

Goyatz wurde empfangen, saß der Grande Dame kerzengerade gegenüber, eingeschüchtert wie ein Konfirmand im Hause des Pfarrers, gar nicht polternd-schwadronierend wie sonst auf seinen Baustellen oder im Büro. Herb sah sie aus und dominant wie eine Tennissiegerin, hatte sich die langen Haare zigeunerschwarz gefärbt, sicherlich als Mittel zum Zweck. Ihr Arbeitszimmer war abgedunkelt und erinnerte ihn mit der ochsenblutschwarzen Seidentapete an das Kabinett eines gemütskranken russischen Großfürsten im Pariser Exil, war aber mit allerlei astrologisch-astronomischen Gerätschaften bestückt, der Sybilla Troiana zum Beispiel, einem mittelalterlichen „System der Häuser“, und Sternenkarten noch und noch. Dazu roch es nach Weihrauch und anderen Kräutern, halb Kirche, halb Museumsgruft.

Leicht stockend und mit recht gepresster Stimme trug ihr Goyatz vor, was ihn bewegte. „Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll ... Im letzten Jahr hatte ich schon mal versucht, in Kreuzberg Fuß zu fassen, und ein Mietshaus gekauft. Unten sollte ein Restaurant rein, ein etwas besseres für westdeutsche Touristen. Nach der Besichtigungstour rein zu uns und gegessen und getrunken. Sicherlich ein Riesengeschäft. Dann aber haben mir die Chaoten alles angesteckt. Jetzt gibt’s nun wieder eine Chance, groß einzusteigen da, ich weiß aber nicht so recht, ob ich ... ? Vom Verstand her kann das ja auch keiner wissen, was da kommen wird, und darum hat mir ein Geschäftsfreund empfohlen, doch mal bei Ihnen ...“

Ricarda lächelte, ebenso Professorin wie Kabbala-Kundige, alles in einem, auch Hexe und Pfarrersfrau, Therapeutin und Mutter. Sie verstand ihr Geschäft.

Sie ließ sich von Goyatz das Geburtsdatum nennen, 3. April 1934, Widder demnach, und während sie zum Erstellen des Horoskops vor ihrem Computer Platz nahm, SESAM, mit hochwertiger und anwenderfreundlicher Astrologensoftware für alle Apple-Fabrikate, wie er den herumliegenden Prospekten entnahm, hörte er von einer Kassette die passende Musik.

„Hans-Joachim Behrendt ist das“, erklärte sie ihm. „Einmalig, wie er da seiner 39-saitigen Sandawa diese obertönigen <Shiva-Shakti-Klänge> entlockt! Wie das Sonnen-cis mit dem gis des Mondes verschmilzt!“

Erst diese Töne versetzten sie in die Trance, die notwendig war, das Kommende zu schauen, vergleichbar den Dämpfen, die der delphischen Pythia zu ihren Prophetien verholfen hätten.

Ja, er könne es in Kreuzberg ruhig ein zweites Mal versuchen, riet sie ihm schließlich, als sie mit Computerhilfe alle Faktoren auf die Reihe gebracht, kunstgerecht verknüpft hatte: das Tierkreiszeichen, die Position der Planeten zur Zeit seiner Geburt (18 Uhr 30 etwa), die günstigen und ungünstigen Positionen der Planeten zueinander (adversativ oder günstig) und den Aszendenten. Ein Widder sei ja schon generell als Persönlichkeit der geborene Führer, habe Mut und Energie. Nur sehe sie in der Zukunft die Gefahr bei ihm, dass er das große Projekt nach Idee und Planung in der Ausführungsphase zu leicht seinen Helfern überließe. „Also: Ja, Sie können es wagen, doch der Erfolg wird nur kommen, wenn Sie alles selber in der Hand behalten.“

Er bedankte sich und fragte, auf welches Konto er ihr Honorar denn überweisen dürfe, wollte schon aufstehen, doch sie hielt ihn mit einem düsteren „Moment noch mal ...!“ wieder zurück.

„Ich muss Ihnen noch etwas sehr Wichtiges sagen ... Widdermenschen sind wegen ihrer Ungeduld und Impulsivität eigentlich immer anfällig für Unfälle aller Art, und früher oder später erleiden sie schwere Kopf- und Gesichtsverletzungen. Dazu sehe ich hier ...“ Sie blickte sehr konzentriert auf ihren grünlich flimmernden Schirm, „... sehe ich hier einiges, was mir gar nicht gefällt. Ihr Geburtsdatum verheißt da einiges, das uns ... Venus im Wassermann: Sie sind ein bevorzugtes Opfer des Schicksals, Ihnen passieren aus heiterem Himmel die seltsamsten Sachen ... Oder nehmen wir den Mars im Widder: Sie sind anfällig für Verletzungen durch irgendwelche Unfälle ... Schließlich noch, und das ist gar nicht gut, der Uranus im Zeichen Widder: Sie bringen oft Ihr Leben und das Ihrer Familie in Gefahr, vor allem dann, wenn Sie Auto fahren ...“

„Gott, nein ...“ Goyatz war zusammengezuckt.

Ricarda hatte die Hände vor die Augen gepresst. „Ich sehe in einigen Tagen Schreckliches mit Ihrem Auto passieren. Sie sitzen am Steuer, und da ...! Lassen Sie es in der Garage, treten Sie auf keinen Fall eine geplante Reise an!“

 

Als Goyatz das zu Hause beim Abendbrot erzählte, waren Gelächter und Proteste die Folge, denn zu sehr hatten sich alle auf den kleinen Ausflug gefreut, in die DDR, nach Ferch, südlich Berlins am Schwielowsee gelegen, ganz in Potsdams Nähe, wo ihr berühmter Onkel Arnie, Arnold Roddahn, auf seiner Datsche saß und alle Freunde und Verwandten aus Ost und West zur großen Fete eingeladen hatte, da er am Sonntag 75 wurde.

„Keiner kann doch abstreiten, dass die Sterne unser Leben bestimmen!“, beharrte Goyatz. „Jedenfalls starken Einfluss haben. Hätte Hitler damals diesem ... diesem ...?“

„Hanussen“, half sein Sohn ihm aus.

„... ja! Hätte er den nicht umbringen lassen, wer weiß, was dann aus Deutschland ...?“

Seine Tochter, und sie durfte das als einzige, tippte sich gegen die Stirn. „Der einzige Stern, der Einfluss auf dein Leben haben kann, ist der aus Hamburg, der zu drei fünfzig ...!“

„Wieso ...?“

„Weil vorhin ’n stern-Reporter angerufen hat und was über deine Kontakte zu zwei kriminellen Baustadträten wissen wollte ...“

Nina, 19, Abiturientin, in Jeansrock und Greenpeace-Shirt, frankophil, schlürfte genussvoll ihren Cidre, dachte an die Ferien in der Normandie, nahm das Ganze als kleinen Joke.

Julian, an sich immer auf Seiten seines Vaters, war um eine Kommentierung bemüht, die wissenschaftlich klang. „Natürlich hat jede Voraussage eines Astrologen Folgen für seinen Klienten, weil sie selbstverständlich dessen Verhalten verändern wird. Sagt mir einer voraus, dass ich meine Diplomarbeit verhauen werde, dann bekomme ich wahrscheinlich viel eher eine schlechte Note als ohne diese Voraussage, denn nun werde ich natürlich vor Angst schlecht schlafen können und immer weniger kapieren, und meine Gedanken werden immer wirrer werden. Self-fulfilling prophecy nennt man das ...“ Angetan von seiner Formulierungskunst, legte er seine Gabel beiseite und lehnte sich zurück.

Inge Goyatz zögerte mit ihrer Stellungnahme, musterte sich im Spiegel ihrer antiken Anrichte, freute sich über ihre Ähnlichkeit mit Sue Ellen, Dallas, J. R.’s Frau, fand sich attraktiver, war auch hin- und hergerissen bei der Frage, inwieweit denn Horoskope ernst zu nehmen seien. Vom Gefühl her: ja. Ihre Eltern, Betreiber eines Tante-Emma-Ladens, hatten sehr daran geglaubt, und ihre Freundinnen taten es durchweg mit ganzem Herzen, ebenso wie auch die Kolleginnen im Krankenhaus früher, die anderen Schwestern. Vom Verstand her: nein. Sie sponsorte eine kleine Galerie, Leibniz-, Ecke Mommsenstraße, und sie hatte eine Art Salon gegründet, Treffpunkt junger Literaten und Filmer, und von denen wusste sie, dass sie immer fürchterlich höhnten, wenn einer von seinem Horoskop zu reden begann. Es war unklug, den Herrn Diktator Ehemann zu reizen; andererseits aber hätte sie ihren überall gerühmten Onkel gerne aufgesucht, war doch damit bei jeder Party Eindruck zu machen.

„Deine Vorsicht ist natürlich richtig, Günther“, sagte sie schließlich. „Wenn mir das einer prophezeit hätte, dann würde ich auch nicht anders reagieren. Aber du brauchst ja gar nicht selber Auto zu fahren; Julian macht das. Dann kann doch nichts passieren! Komm, wer bist du denn, dass du dich von so was einschüchtern lässt!“

Goyatz war sauer, war kurz vor dem Lostoben. Da lebten sie alle drei in Saus und Braus - von seinem Geld, und als Dank dafür hatte er sich nun von ihnen dumm und dämlich kommen zu lassen. Wären sie seine Angestellten gewesen, hätte er sie schon gefeuert. Er sehnte sich in seine Chefetage zurück.

„Die Ricarda hat sich da noch nie geirrt“, beharrte er. „Und dann noch in die DDR, wo ...“

„Wie stehen wir denn da, wenn wir ohne dich in Ferch antanzen?“, rief seine Frau. „Wir fahren - und zwar alle!“

„Wir fahren nicht!“