Impressum

Steffen Mohr

Am Anfang dieser Reise

Eine Liebesgeschichte

ISBN 978-3-95655-360-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1975 im Union Verlag Berlin.

Diesem Buch liegt nicht die Absicht zugrunde, eine bestimmte Stadt zu zeichnen oder konkrete Institutionen und Personen, die darin ein und aus gehen.

 

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Das verlorene Zuhause

Im Licht des späten Nachmittags, das durch große, rußverklebte Scheiben in die Bahnhofshalle einfloss, hatten die Geräusche der Maschinen und die Stimmen der Menschen einen dumpfen und weichen Charakter. Den Kopf an das stumpfgrüne Polster gelehnt, sah Felicitas mit halb geschlossenen Augen auf die leere Sitzbank ihr gegenüber. Sie lauschte mit einem stillen inneren Vergnügen auf das, was sie für sich die Bahnhofsmusik nannte: Unverständliche Rufe. Gellendes Pfeifen. Schlagen eines Hammers auf Stahlfedern. Durchdringendes Zischen eines gerade einfahrenden Zuges. Das verworrene Kauderwelsch einer Lautsprecheransage. Und der niemals abreißende Strom hastiger Schritte auf den Bahnsteigen.

Der Zug ruckte an. Die Fenster klirrten leise. Ein weiterer Ruck folgte. Und noch einer von der Art, als gehörten diese von einer kräftigen Maschine gezogenen zehn Wagen zum Leib eines einzigen Riesentieres, das sich noch nicht recht entschloss, ob es sich bewegen oder weiterhin träge ausruhen sollte. Dann glitten die Wagen unter dem Hallendach heraus.

Nun fiel Helligkeit in ihr Abteil. Über den immer rascher vorbeifliegenden Häusern und Türmen und den dunklen, weiß gesprenkelten Hängen, die rings die Stadt umschlossen, sah sie die Sonne. Der Zug fuhr über einen zwischen den Häusern aufgeworfenen Damm hinweg. Felicitas erblickte unter sich die Menschen in den Straßen. Unbekannte, kleine Wesen, auf der Heimkehr vom Sonntagsspaziergang oder auf dem Weg zu einem der Tanzlokale. Junge Mädchen wie sie selbst, frisch frisiert und toupiert, im Hinterperron einer Straßenbahn zusammengedrängt. Dick angezogene alte Männer mit Ohrenschützern unter den Pelzmützen in ihren kleinen Gärten am Bahndamm. Sie nutzten die letzten Tagesstrahlen zum Schneeschippen auf den schmalen Wegen. Kinder, Schlittschuhe über die Schulter gehängt, trudelten heimwärts.

Ein plötzlich aufkommendes Gefühl der Freude, der Lust zu leben und der Dankbarkeit, leben zu dürfen, erfüllte sie. Allen diesen kleinen, eiligen oder geruhsam sonntäglich beschäftigten Menschen hätte sie jetzt zurufen und sie umarmen wollen oder ihnen zumindest ein Lächeln schicken. Weit vorn am Bahndamm winkten drei Kinder. Da stand Felicitas auf. Schnell kurbelte sie die Scheibe herunter und hielt ihr Gesicht hinaus. Das schwarze Haar flatterte im Fahrtwind, eine lange, seidige Strähne legte der Wind ihr ins Gesicht. Sie machte sich keine Mühe, sie fortzuschieben, laut und lang gezogen rief sie hinaus: „Halloooh!“ Und winkte so lange, bis sie die heftig ihr Winken erwidernden Kinder nur noch als winzige Punkte erkennen konnte.

Fröstelnd schickte sie sich an, das Fenster wieder zu schließen. Da öffnete die Schaffnerin die Tür des Abteils: jung, so alt wie sie selbst etwa. Sie hatte ein großes, rundes Gesicht. Das volle blondierte Haar hatte sie an einer Seite straff unter ihr Käppi geschoben, das mit zwei großen Klemmen schräg auf dem Haar befestigt war. Geräuschvoll schob sie die Tür hinter sich zu und ließ eine dunkle, schwere Kastentasche auf den der Tür zunächst befindlichen Platz aufplumpsen. Sie war breiter und kräftiger gebaut als Felicitas, und sie sah zuerst auf das noch zu einem Schlitz geöffnete Fenster und dann auf Felicitas. Ihr Blick sagte deutlich: Wir heizen den Zug nicht umsonst! Sie blieb neben dem Sitz, auf den sie den Kasten hatte fallen lassen, stehen und wartete in herausfordernder Haltung, bis Felicitas die Scheibe vollständig geschlossen hatte. Dann erst setzte sie sich und zog ihre Tasche mit einer unwilligen Bewegung dicht an sich heran.

Obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, wurde Felicitas durch den taxierenden Blick der Schaffnerin unsicher. Wie weggeblasen war die Fröhlichkeit, die sie soeben erfüllt hatte. Eine Weile noch sah sie vorsichtig zu der Blonden hinüber. Die aber schien ihre Anwesenheit nun gar nicht mehr zu beachten. Da wandte Felicitas das Gesicht von ihr ab und sah wieder aus dem Fenster.

Der vorwurfsvolle Blick eben hatte sie an die Augen der Mutter erinnert. Wo sie sich an diesem Wochenende begegnet waren, im Wohnzimmer oder oben, an der Tür zu ihrem Zimmer, in der Küche oder als sie sich gegenübersaßen bei den Vorbereitungen zum Mittagessen, am Nachmittag und abends beim gewohnheitsmäßigen Gutenachtkuss oder früh, wenn die eine aus dem Bad kam und die andere schon vor der Tür des Badezimmers wartete, immer war eine Mischung von mitleidigem Verstehen und lauerndem Unverständnis in Mutters Blick gewesen. Felicitas hatte mit ihr, abgesehen von diesem kurzen Gegeneinanderschreien und Aneinandervorbeireden, kaum ein Wort gesprochen. Sie hatte versucht, ihr aus dem Weg zu gehen. Das war schwierig in dem kleinen Häuschen. So trafen sie sich doch ständig unerwartet im Flur, an einer Tür, dann blieb die kleine Frau stehen, wo sie gerade stand. Die Tür in ihrem Rücken hielt sie offen, mit einer verlegenen Geste der Hand: Willst du herein? Willst du vorbei? Radiomusik leierte hinter dem Rücken der Frau aus dem Zimmer, und Felicitas sah sie nicht an beim schnellen Vorbeigehen, spürte hinter sich noch den Vorwurf in ihrem Blick.

Die Blonde warf den Deckel ihrer Kastentasche zurück, dass die metallenen Schnallen gegen das Polster schlugen. Mit einem nachdrücklich gespielten Ausdruck von Selbstmitleid zog sie eine schmierige Kladde hervor. Sie trug etwas ein, schrieb mit zwei Stiften, offenbar erst in blauer und dann in roter Schrift, Felicitas konnte es nicht genau erkennen. Gleichgültig steckte sie dann die Kladde zurück. Nun nahmen ihre Brauen eine interessiertere Haltung an, sie suchte gespannt nach etwas in ihrem Kasten und brachte schließlich ein kleines, grüngelbes Etui hervor. Sogleich zog der Geruch von Wimperntusche und Lippenstift durch den Wagen, und schon die Art, wie sie den Spiegel mit einer beinah feierlich anmutenden langsamen Geste vor ihr Gesicht führte, ließ Felicitas vermuten, dass sie sich lange und ausgiebig schminken würde. Über den Rand des Spiegels hinweg blickte sie kurz wieder zu Felicitas hinüber. In der Beschäftigung, die sie liebte, war ihr Blick jetzt ganz aufgegangen und hatte etwas rührend Kindliches an sich, darin lag nichts mehr von der auftrumpfenden Autorität, die sie vorhin Felicitas hatte spüren lassen.

Und ihr fiel ein, ob Mutter vielleicht anders geworden wäre, wenn sie nach Vaters Tod wieder geheiratet hätte. Vielleicht hätte sie die Tochter dann zeitweise vergessen können. So aber war Mutters Liebe immer auf sie, auf das einzige Kind gerichtet gewesen. Und weil der Mensch eben nicht nur für den anderen da sein kann, den er liebt, weil bei jeder Liebe auch egoistisches Verlangen für das eigene Glück dabei ist, musste es so weit kommen mit Mutter, wie es gekommen war. Schuld hatten sie beide, Mutter und sie, und man konnte sogar sagen: Schuld hatte keine von ihnen, die Umstände machten es. Vielleicht war es eine Frage der Klugheit und Einsicht oder eines bestimmten Grades von Menschenliebe oder Nachgiebigkeit, ob man die Schwächen der anderen so hinnahm, wie sie waren, oder versuchte, die Dinge zu ändern, sie immer wieder in neuen, mühseligen Versuchen zu ändern.

Entscheidend war sicher eins: was man aus seinen Überlegungen machte, also ob man einen Schlussstrich zog oder von Neuem anfing, geduldig wieder einen Anfang suchte, sich zu verstehen.

Ich habe meinen Entschluss gefasst, dachte Felicitas. Jetzt darf ich nicht unsicher werden. Eigentlich stand mein Entschluss schon fest, als ich über das Wochenende heimfuhr. Denn ich wusste, dass alles wie immer verlaufen und dass ich diesmal etwas dagegen sagen würde. Ich wusste es schon, als ich ankam.

Da lag der Schnee noch nicht auf den Dächern, er kam erst am Sonntagmorgen. Und vielen Menschen wird er ein Gefühl von Frieden und Ausgeglichenheit gegeben haben, als er auf einmal da war, still und anhaltend auf die Stadt fiel, als die Geräusche der Wagen gedämpfter wurden, alle Töne irgendwie verhaltener. Weihnachten war ohne Schnee und dieser Winter bisher überhaupt ein ungewöhnlich schneeloser, feuchtwindiger Winter gewesen. Lauter als sonst riefen, jauchzten die Kinder, die sie antrafen auf den Straßen, auf dem Weg zur Kirche, leiser bewegten sich die Erwachsenen, irgendwie leiser geworden und nicht so eilig wie sonst. Jeder genoss diesen ersten Schnee, man grüßte sich nicht so laut und nicht so oberflächlich wie sonst, fand Felicitas, etwas schwang mit in den spärlichen Worten der Leute, die immer zahlreicher wurden, je näher sie der Kirche kamen. Eine der Frauen, die Mutter begrüßten, sagte: „Das hätten wir Weihnachten haben müssen.“

Diese Frau Hloubicka, Umsiedlerin wie ihre Mutter, die kräftig neben ihnen herschritt, ihren kleinen, gemütlichen Mann unterfassend, der ab und zu ein teilnehmendes Schnalzen vernehmen ließ, sonst aber nur kindlich vor sich hin schmunzelte, während die Hloubicka in einem fort redete, diese Hloubicka litaneite: „Wie schön, wenn man sieht, dass Mutter und Tochter dem Herrgott treu geblieben sind ... Kennt man ja und hört es so oft, dass die Kinder, kaum dass sie heraus sind aus dem Nest, nichts mehr wissen wollen von unserem lieben Herrgott. .Da hatte Felicitas schon umkehren mögen, auf der Stelle umdrehen und zurückgehen oder gleich zum Bahnhof, aber sie wusste, dass kein Zug fuhr, und so biss sie sich auf die Lippen. Die Mutter neben ihr seufzte und sagte: „Es ist schon eine Schande, wie die heutige Jugend nichts mehr wissen will vom alten Glauben. Beispielsweise die beiden Söhne vom Hüchelberg, der eine ist wie der andere. Ich sehe sie noch als Buben, nicht wahr. Das waren zwei Messdiener! Wie zwei kleine Engel! Damals habe ich gesagt: In denen steckt das Zeug zu einem Geistlichen. Wie sie am Altar niederknieten, so fromm, so voller Andacht! Wer hätte das gedacht, dass aus ihnen das wird, was sie heute, nicht wahr ...“

„Freilich“, pflichtete ihr die Hloubicka bei, und ihr untergefasster Mann ließ ein bedauerndes Schnalzen hören, „wenn sie das wenigstens mit ihrem Gewissen ausmachen würden, dass sie nicht mehr zur Kirche gehen, aber dann verspotten sie noch ihren alten Vater ... Da sieht man mal wieder: Wo die Mutter fehlt, da mangelt der Segen im Hause. Er hätte sich damals wieder eine Frau nehmen sollen, der Hüchelberg-Albert.“

Darauf schwieg Mutter, und Felicitas wusste genau, woran sie jetzt dachte, nämlich wie der Tischler Hüchelberg angeklopft hatte in der Dunkelheit bei ihrer Mutter. Zehn Jahre war das schon her, und die Hüchelbergsche lag damals gerade sechs Monate unter der Erde. Das schien Mutter doch etwas zu kurz, als dass der Witwer in der Dunkelheit zu ihr kommen und an ihre Tür klopfen durfte und ihr, einer unbescholtenen Witwe, sein Leid klagen, dass er es ohne Frau nicht allein schaffe. Nachdem der Sarg der Gattin in die Erde gesenkt war und er am Rande gestanden hatte, gestützt von seinen Nachbarn, und er aufheulte wie ein Tier im Schmerz und sich losreißen wollte von den Armen seiner Nebenmänner und sich am liebsten in das offene Loch da in der Erde stürzen, also nach diesem stadtbekannten Ausbruch von Gattenliebe über den Tod hinaus kam er nun zu ihr schon ein halbes Jahr später und fragte sie in seiner direkten Art, schamlos fragte er sie und wagte es sogar, sie anzuzwinkern dabei, ob sie Lust hätte, ihm die Wirtschaft zu führen, bei Zuneigung sei Heirat nicht ausgeschlossen, zwinkerte er, ja, wenn sie nur wolle, er würde nach Ablauf der Trauerzeit gleich zum Pfarrer gehen und das Aufgebot bestellen.

Felicitas wusste, welchen Eindruck diese Erinnerung immer noch auf Mutter machte, und was sie noch wusste, war viel schlimmer, nämlich wie die Hloubicka absichtlich, wie andere Frauen übrigens auch, diese Erinnerung beschwor, damit ihre Mutter sich schämen sollte, den Hüchelberg-Albert damals abgewiesen zu haben. Und der Mann der Hloubicka, untergefasst neben ihr trippelnd, schnalzte und hatte die größte Mühe, ein Grinsen zu verbergen, das sich ausbreiten wollte auf seinem blaulippigen Schmollmund zwischen den frostgeröteten Babybäckchen. Aber da war schon die Kirche, sie stiegen die Stufen hinan. „Grüß’ Gott!“, tönte es links, „Grüß’ Gott!“ nach rechts zu den Nachbarn, die mit ihnen auf die hölzerne Tür mit der Kreuzintarsie zustrebten. „Gute Andacht“, flüsterte die Hloubicka der Mutter schnell noch zu. „Gute Andacht“, gab ihr Mutter mit heiserem Flüstern zurück, schon im Gang, wo sie sich trennten am Weihwasserbecken und, ihre Stammplätze anpeilend, Mutter nach links, die Hloubicka, ihren kleinen, freundlichen Mann unterfassend, nach rechts in die Bänke traten. Kniend warteten sie auf den Eintritt des Priesters, Mutter kniete neben ihr, das Gesicht in den Händen verborgen. Felicitas sah auf den Gekreuzigten vorn am Altar, der seine Arme ausbreitete über Gute und Böse. Kein Gebet fiel ihr ein, sie konnte nur daran denken, wie Mutter zu passender Gelegenheit es der Hloubicka wiedergeben würde, ganz sicher wusste sie, dass am nächsten oder übernächsten Sonntag ein Satz fällig war über solche Frauen wie die Hloubicka, die ihre Männer zu Kindern machten. Vielleicht würde Mutter daran anknüpfen, dass ein Priester wohl Schweres auf sich nahm, indem er den Freuden einer Familie entsage, aber auch Schweres mit diesem Entschluss vermeide. Jeder in der Stadt wusste nämlich, dass der Hloubicka ein Theologiestudium angefangen hatte. Aber nach drei Semestern lernte er die ihn um einen Kopf überragende muntere Lisa kennen, die nun seine Frau war und bei der er nicht mehr zu melden hatte als ein minderjähriger Junge, der ab und an auftrotzte, wovon aber auch seit einiger Zeit nichts mehr gehört wurde, denn aus Hloubickas Wohnung drangen schon lange nicht mehr die spitzen Schreie der Frau und das brummige Poltern des Mannes, das voraussehbar immer endete mit einem Gang des Hloubicka in den Grünen Kranz.

Der Zug rollte nun über einen Fluss, auf dem träge grau gefleckte Eisstücke abtrieben. Längs der unregelmäßig ansteigenden und teils mit sperrigem Buschwerk bewachsenen Böschung des Ufers erblickte Felicitas vereinzelt schmutzige Schneehaufen. Ein Fabrikschornstein spie schwarzen Mulm, der rechtwinklig zu seiner Spitze abzog, über das Ufer und über das Wasser hin. Hinter dem Schornstein standen gedrängt wieder Häuser einer Stadt, der nächsten Station. Dort brannten bereits vereinzelte Lichter, obwohl die in nebligen Schwalm gehüllte Sonne noch ihren Schein spendete. In der Nähe der Brücke, dicht bei ihren stählernen Pfeilern, lag ein schlammschwarzer Schleppkahn, der sah aus, als hätte ihn jahrelang kein Mensch mehr betreten. Weithin sichtbar, an der dem Zuge zugewandten Seite des Kahns, prangte in verwaschenen Buchstaben das seltsame Wort „GLORI“. Ein trostloses Bild.

Und als wollte der Lokomotivführer seinen Fahrgästen diesen Anblick recht lange vor Augen führen, ließ er den Zug fast nur im Schritttempo über die Brücke rollen. Danach fuhr er wieder schneller, um schließlich die Geschwindigkeit erneut zu drosseln und unter dem Quietschen der Bremsen einzutauchen in eine rauchgeschwärzte Halle. Die war etwas kleiner als jene, in der die Fahrt begonnen hatte. Mehrere Peitschenleuchten gossen kaltes Licht über die Bahnsteige, ohne jedoch das Bahnhofsgelände bis in den letzten Winkel durchdringen zu können.

Die Blonde erhob sich gelangweilt und lief nach draußen. Türen klappten. Irgendwo vorn waren lärmende und singende Soldaten. Nun wurde das Abteil, in dem Felicitas saß, wieder geöffnet. Als erste kam eine alte Bäuerin herein. Sie schob einen sorgfältig verschnürten und mit einem sackleinenen Tuch abgedeckten Korb vor sich her. Darin klapperten verräterisch Flaschen aneinander. Mit einem hilflosen Lächeln sah sie Felicitas an und dann den Sitz, der ihr gegenüber frei war. Felicitas nickte ihr aufmunternd zu. „Ist frei?“, lächelte die Alte und wies mit dem braunen Daumen unter der Korbschlinge hervor auf den freien Platz. „Bitte“, sagte Felicitas, und die Frau setzte ihr Flaschenbehältnis im Gang nieder, sodass der nun versperrt war. Sie seufzte erleichtert, aber noch setzte sie sich nicht. Unschlüssig sah sie auf ihren Korb hinab, den drei Burschen mit Gejohle übersprangen. Sie warfen ihre Taschen in die Gepäcknetze, und unter Witzeln, Gelächter und Worten wie: „Sport erhält jung!“ zogen sie dem kleinsten von ihnen, einem rothaarigen Jungen, ein abgegriffenes Kartenspiel aus der Jackentasche. Einer holte seine Tasche wieder herunter, legte sie quer übers Knie und begann sofort mit dem Mischen und Austeilen des Blattes. Nichts und niemanden um sich beachtend, fingen sie an zu spielen.

Die Bäuerin stand noch da und sah verlegen lächelnd auf die Jungen und dann auf ihren Korb. Ihre Kleider befanden sich so dicht neben Felicitas, dass sie deren Geruch wahrnehmen konnte: einen schwer bestimmbaren und nur andeutungsweise vorhandenen Duft von Fleischbrühe mit irgendwelchem Grünzeug darin, Petersilie, Bohnenkraut oder Majoran. Felicitas hatte die alte Frau gleich gemocht, als ihr hilfloses, gutmütiges Gesicht in der Wagentür aufgetaucht war. Sie stand nun auf und sagte: „Kommen Sie, wir schaffen den Korb auf den Perron“, und hatte bereits eine der Tragschlingen in der Hand. Zögerte aber und fragte jetzt: „Oder haben Sie Bedenken, dass ...?“ Da hellte sich das Gesicht der Alten auf. Sie wedelte mit ihren großen, braunen Händen auf eine komische Art in der Luft herum, dass man glauben konnte, sie wolle auffliegen wie ein Vogel. Und gleich rief sie mit einer tiefen Stimme, die vor Aufregung lauter war, als sie es sicher wollte: „Ach was! Das ist aber schön, dass Sie mit ... Ach was! Es wird mir doch keener meine Flaschelchen stehlen!“ Und während sie dankbar die Hilfe des Mädchens annahm und beide den Korb zusammen hinaustrugen, setzte sie eine humorvoll gemeinte Bemerkung hinzu: „Wird doch keener so ’n großen Durst haben, was?“ Als sie sich nun gegenüber gesetzt hatten, beugte sie sich noch einmal vor und erklärte bedeutungsvoll: „Is nämlich Apfelwein drin ... Alles selbst gemacht, wissen Sie ...“ Sie rutschte ein wenig umständlich auf ihrem Platz hin und her. Danach seufzte sie wieder, lächelte Felicitas gütig zu, schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an das Polster. Und war im gleichen Moment schon eingeschlafen.

Felicitas sah auf das zufriedene Gesicht der Frau und dachte: Meine Mutter konnte ich mir nicht aussuchen. Aber ich soll sie lieben. Lieben und ehren, damit es mir wohlergehe und ich lange lebe auf Erden ... Warum kann man sich die Menschen nicht aussuchen, die man lieben muss? Warum? Dieses gütige Gesicht, dieses Vertrauen der Bauersfrau, dass ihr keiner ihre „Flaschelchen“ wegnehmen wird, wenn sie schläft - konnte man so etwas von Mutter erwarten? Mutter war hellwach, immer war sie hellwach und misstrauisch besorgt gewesen ...

„Und wenn du in der Stadt ein Zimmer nimmst, schließ ja immer die Tür ab. Die Menschen sind schlecht, mein Kind.“

„Was ist deine Wirtin für eine Frau? Sie hat dich zum Abendbrot eingeladen? Für nichts und wieder nichts? Pass ja auf, ob da nicht was dahintersteckt ... Heutzutage gibt keiner was umsonst. Was zahlst du da eigentlich Miete?“

Dabei stand dieses Misstrauen, diese eifersüchtige Sorge um ihr Kind, in einem unerklärlichen Gegensatz zu Mutters ständigen Reden von Nächstenliebe und Gottvertrauen! Nein, dachte Felicitas, es war goldrichtig, dass ich ihr heute die Meinung gesagt habe. Und ich lasse mich jetzt drei Wochen nicht zu Hause blicken. Mindestens. So ein Blödsinn von mir, dass ich bis jetzt jedes Wochenende heimgefahren bin.

Sie blickte wieder hinaus und hörte dabei mit halbem Ohr auf die Gespräche der drei Jungen. Es waren eigentlich keine Gespräche, die sie führten. Ganz selbstvergessen gingen sie auf in ihrem Kartenspiel. Laut und abgehackt flogen die Worte, von den Bewegungen der Karten klopfenden Finger begleitet, Bewegungen, die langsam und gespannt waren in der Mitte des Spiels und regelmäßig endeten im hektischen Durcheinander der Hände, wenn sie die letzten Karten zogen und Schlag auf Schlag herabklatschen ließen auf die Tasche, ihren Spieltisch.

Das Spiel ist ’rum. Ein neues? Meinetwegen auf ein neues. Rache ist Blutwurst. Wer schreibt jetzt? Du schreibst. Bist Schreiber. Haha. Schreibst am besten. Wer hat gegeben? Ist doch neues Spiel. Rechtsrum geht die Uhr. Du kommst. Na, dann erzähl mir mal was. Ich höre. Achtzehn! Ja. Zwanzig. Besser. Zwo. Auch. Null. Nimm. Wie heißt das Kind? Herzen? Denkste, Eichel. Gut, Eichholz. Deutsche Eichen weichen nicht. Haha.

Und auf einmal Verstummen, Zusammenstecken der Köpfe. Und der alten Bäuerin gilt das Flüstern des kleinen Rothaarigen sicher nicht. Also kann nur ich gemeint sein. Der kleine Rothaarige, der mich schon so betont munter musterte, als er hereinkam, als letzter der drei, über den Korb sprang und gleich wieder herübersah: Na, sind wir Kerle, was?!, dieser unsympathische Bursche also tuschelt den anderen etwas ins Ohr, was mich betrifft.

Sie hatte jetzt Lust, ihren kleinen Handspiegel aus der Tasche zu holen und nachzusehen, ob ihr Haar vielleicht nicht in Ordnung war. Dieses lange, schwarze Haar, das häufig widerspenstig war, ihr ins Gesicht fiel und dessen Schwere im Nacken ihr manchmal so lästig vorkam, dass sie beschloss, es ganz bestimmt am nächsten Tag abzuschneiden, es aber doch immer ließ. Aber dann fiel ihr ein: Oder ist etwas mit meinem Gesicht? Ich habe mich aus dem Fenster gelehnt! Vielleicht habe ich Ruß abbekommen? Sie hätte jetzt rasend gern in einen Spiegel gesehen.

Da lachten die drüben übermäßig laut und drehten wie auf Kommando die Köpfe zu ihr hinüber, lauernd und irgendwie verlangend. Sie fühlte das alles mehr, als sie es sehen konnte. Dann gab sie sich einen Ruck und begegnete mit ihren dunklen Augen den Blicken der Jungen. Zwei wandten sich daraufhin ab, beschämt irgendwie oder ertappt. Nun war ihr klar, dass das Tuscheln und Lachen nichts mit einem Rußfleck in ihrem Gesicht oder einer verrutschten Haarsträhne zu tun hatte. Ein billiger Dummejungenwitz war es, den der Rothaarige vom Stapel gelassen hatte. Der allein blickte weiter herüber, musterte Felicitas halb spöttisch-überlegen, halb kindlich-unsicher, mit zusammengekniffenen Lippen.

Und dieser Blick, in dem sich ein kleinlicher, dummer Ausdruck trotzig behauptete, ließ Felicitas schlagartig wieder an die Auseinandersetzung mit der Mutter denken.

Denn als sie heimzu gingen, und die letzten Straßen liefen sie wieder allein, da sagte sie zu ihr, nach einigem Schweigen, verabschiedet waren gerade die letzten Nachbarn („Gesegneter Sonntag!“), Mutter sagte auf einmal:

„Den Mund kriegst du wohl gar nicht mehr auf in der Kirche?“

Sie hatte das Eingangslied mitgesungen, war dann aber verstummt, als sie die zitternd inbrünstige Stimme der Mutter neben sich hörte. Wie kann man nur? sagte sie sich und wiederholte damit eine Formel, die sie oft von der Mutter gehört hatte. Die Stimme der Orgel schwoll an und schwoll ab, ruhte lange aus auf den Tönen am Ende, aber die Stimmen der Frauen ruhten noch länger aus und schleiften die Melodien beinahe ohne Zäsuren lauthals durch, und Felicitas sagte sich: Wie kann man nur so inbrünstig sein, wenn doch ein paar Plätze weiter, da drüben, die Hloubicka kniete und inbrünstig sang: „Seht, uns führt zusammen Christi Liehiebe ...?“

Mehr für sich sprach die Mutter, sie hatte einen schnelleren Schritt angeschlagen, kleine Wölkchen kamen ihr beim Reden aus dem Mund, schnell sagte sie: „Warum antwortest du mir nicht? Überhaupt bist du so still geworden die letzte Zeit. Ich will nicht sagen: verstockt. Aber merkwürdig finde ich es doch, dass du, seit du von mir fort bist, mir irgendetwas verbirgst. Du kannst doch Vertrauen haben zu deiner Mutter, oder hast du kein Vertrauen zu deiner Mutter?“

„Ach, hör doch auf“, hatte sie geantwortet und zögerte weiterzureden, da war es bereits heraus: „Was soll ich dir denn erzählen? Ich habe es schon versucht, und es hat dich nicht interessiert ...“

„Nicht interessiert! Nun schieb die Schuld noch auf mich!“

„Es geht doch gar nicht um Schuld“, hatte sie Mutter geantwortet. „Du begreifst einfach vieles nicht, das ist ... das ist … Sie wollte sagen: Das ist deshalb so, weil dich der Klatsch in deinem Kirchenverein viel mehr beschäftigt als alles andere.

Die Mutter jammerte: „Freilich, ich bin zu dumm, ich begreife nicht. Früher, da war ich gut genug, dir bei den Schulaufgaben zu helfen. Weißt du, wie dir im ersten und zweiten Schuljahr das Rechnen schwergefallen ist? Wie ich da mit dir gerechnet habe: Zwei und vier ... Abends, unter der Lampe haben wir zusammengesessen, und eintrichtern musste ich’s dir, immer wieder. Und Äpfel habe ich dazu genommen. Zwei Äpfel und vier Äpfel machen wie viel?“

„Und Ohrfeigen hast du mir gegeben, war es nicht so?“, hatte sie darauf erwidert. Die Mutter antwortete nicht. Sie wusste, dass Mutter nicht wieder Ruhe geben würde. Wie sie ihr die Antwort schuldig blieb, sagte sich Felicitas, dass es so nicht enden dürfe: vielleicht ein paar Stunden beleidigt sein und später, beim Abendbrot sicher, schon wieder so tun, als sei nichts gewesen, die Hände falten in christlicher Gemeinschaft: Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, amen. Schluss, amen, so sei es, amen, wir sind doch Christen und nicht wie die anderen, die nicht an ihn glauben, und wir wollen uns wieder verstehen in christlicher Liebe. „Verkalkt seid ihr alle“, brach es auf einmal aus ihr heraus, „verkalkt und beschränkt! Und auch Pfarrer Rotsch ist verkalkt, sonst würde er nicht von der Liebe Christi reden in seiner Predigt, geradeso, als ob sie unter euch etwas Selbstverständliches wäre, und euch nicht bestärken in euren Gebetspflichten, die euch nämlich nur dazu taugen, eure kleinen Sticheleien zu rechtfertigen.“ Sie holte Luft, und Mutter hatte auch aufgehört, in der Soße zu quirlen, die sie auf das Gas gestellt hatte. Mutter setzte sich auf einen der Stühle, sie starrte ihr Kind an, das lässig, ja frech! da am Türpfosten lehnte, Mutter konnte das nicht fassen, schwach sagte sie nur: „Wirst du wohl deinen frechen Mund halten.“ Da konnte auch sie nicht mehr reden, Tränen wollten ihr in die Augen treten. Sie glaubte, sich diese Blöße nicht geben zu dürfen: Tränen ...! Und überschrie die Angst davor, losheulen zu müssen, schrie: „Ihr lügt, ihr belügt die anderen, und ihr belügt euch selbst!“

Da hatte im Gesicht der Mutter zum ersten Mal der vorwurfsvolle Blick gestanden, die Soße brodelte, es begann brenzlig zu riechen in der kleinen Küche, Mutter stand eilig auf und rückte den Topf von der Flamme. Sie jammerte laut: „Jetzt ist mir die Soße noch angebrannt, die Soße ist mir angebrannt wegen dir ungezogenem, frechem Ding, das ist mir seit einer Ewigkeit nicht passiert: die Soße angebrannt ...“ Und sie selbst war hinausgelaufen. Sie wollte ihr nicht zeigen, dass sie heulte.

Die Bäuerin gegenüber hatte ihre großen Hände über dem Kleiderbausch auf dem Schoß gefaltet. Ab und an zuckten die Finger im Schlaf. Doch ihr Gesicht blieb ruhig, wie verklärt, und besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem eines schlafenden Kindes. Zwischen den leicht geöffneten Lippen stieß sie in regelmäßigem Abstand dünne, röchelnde Laute hervor.

Felicitas betrachtete die Hände der Frau. Dabei war ihr, als nähme sie in dem nüchtern stumpfgrünen Abteil des Zuges mit einem Male einen vertrauten Geruch wahr, in der Vorweihnachtszeit war dieser Duft von frischen Bratäpfeln im Haus gewesen. Er legte sich sanft auf alles Inventar, die Möbel und die anwesenden Menschen, umfasste liebevoll selbst den Besuch, der zufällig hereingeschneit war, alles auf geheimnisvolle Weise verbindend, kroch in jeden Winkel des Häuschens und deckte die kleinen Streitigkeiten und die eben noch allzu groß erschienenen Sorgen des Kindes lind und leise zu. Sei es nun, dass sie auf einem Hocker in der Küche saß und gespannt auf Mutters Hände sah, wie sie die goldgelben, runzligen Äpfel in der Ofenröhre auf die andere Seite drehte, sei es, dass sie am Klavier im Wohnzimmer ihre Etüden und Stücke übte, sei es nur, dass sie im Dachzimmerchen, das später ihr eigenes Zimmer werden sollte, mit angezogenen Knien im Bett hockte und in einem bunt illustrierten Buch schwartete, immer hatte sie sich in solchen Augenblicken so wohl gefühlt, wie sie sich niemals wieder in ihrem Leben gefühlt hatte. Dann waren ihr die Geschichten eingefallen, die der Pfarrer in der Religionsstunde erzählt hatte, süßlich-traurige Geschichten über heimatlose Kinder, die keinen Vater hatten und keine Mutter mehr, und sie wünschte sich in solchen Augenblicken alle diese Kinder in ihr Zimmer, um jedem von ihnen einen knusprigen, krustigen Bratapfel in die Hand zu legen.

Einmal im Winter hatte ihr Mutter gezeigt, wie man einen Stern ausschneidet und beklebt mit Leuchtpapier, um ihn dann am Fenster aufzuhängen. Jeden Tag, wenn sie aus der Schule gerannt kam, lief sie langsamer, sobald sie des Fensters ansichtig wurde, und betrachtete stolz ihren bunten Stern.

Aber die Kindheit war vorbei, unwiederholbar vorbei für sie. Es schmerzte sie jetzt, dass diese herrliche Zeit nie wiederkommen sollte. Irgendwie konnte sie Mutter verstehen, die an allen diesen Jahren noch mehr hängen musste, weil sie die Zeit ja viel bewusster erlebt hatte als sie, Felicitas, selbst. Sicher war es schwer für sie, von einer Vorstellung Abschied zu nehmen, dass die Tochter nicht mehr das kleine Kind war, das man verhätscheln konnte und doch unter Anstrengungen und Sorgen großgezogen hatte ohne die Unterstützung eines Mannes im Haus.

Sie verstand Mutter. Und sie tat ihr leid. Und sie bedauerte, sie so angeschrien zu haben heute Morgen. Und trotzdem hieß es, sein eigenes Leben aufzubauen, sein Ziel zu schaffen in diesem Studium, aber nicht nur das, sondern ein Mensch zu sein, der mit beiden Füßen auf der Erde stand und sich behaupten konnte in allen Augenblicken des Lebens. Denn dieses Studium mit guten Zensuren abzuschließen und später vielleicht einmal eine bekannte und gefeierte Pianistin zu sein, das war es ja nicht allein, was man erreichen, was man anstreben musste. Es war viel mehr. Und man musste dazu unabhängig sein.

Der Zug fuhr wieder in eine Stadt ein. Allmählich war die Landschaft zu beiden Seiten der Strecke flacher geworden. Nur vereinzelt noch hoben sich hügelige Anhöhen hervor. Auf einer dieser Anhöhen zeichnete sich die dunkle Silhouette eines Wasserturms ab, auf dessen Krone blitzten kleine rote Positionslämpchen zur Warnung der Flugzeuge in der Dunkelheit. In den Abteilen wurde die Deckenbeleuchtung eingeschaltet. Man hielt nur kurz auf dieser kleinen und, wie sie wusste, letzten Station vor dem Ziel, dem riesigen Bahnhof der Universitätsstadt, wo alle Reisenden dieses Zuges aussteigen würden.

Sie erschrak. Plötzlich stand der Rothaarige am Fenster ihres Abteils dicht neben ihr. Kurbelte die Scheibe herunter, sah scheinbar interessiert hinaus auf den Bahnsteig, verglich seine Uhr mit der Bahnhofsuhr. Sie durchschaute sein Spiel. Ihr Gesicht wurde rot, das spürte sie, ohne es sehen zu müssen, dunkelrot vor Entrüstung. Ein kurzer Blick schräg hinüber genügte ihr: Die beiden anderen sahen mit verhaltenem Grinsen herüber und warteten, was weiter geschehen würde. Der kleine Großspurige, der den Kameraden offenbar sein unerschrockenes Draufgängertum demonstrieren wollte, setzte sich neben sie.

„Na?“, fragte er mit näselnder Stimme, die ein krampfhaft beherrschtes Kichern, das ihm in der Kehle steckte, nicht ganz verbergen konnte. „Na-a?“, fragte er wieder. „Ziemlich dunkel geworden - wa-as?“ Die anderen konnten sich nur noch mit größter Mühe beherrschen, nicht loszulachen.

Sie tat, als wäre der Bursche gar nicht vorhanden. Eiskalt fühlten sich ihre Fingerspitzen an. Sie konnte sich gut vorstellen, was die Jungen dachten: Schlecht sieht sie nicht aus ... Dumm wird sie auch nicht sein ... Aber sicher etwas eingebildet ... Schicke Klamotten jedenfalls und scharfe Figur ...

„Na, auch studierowatsch?“, fragte der Rotkopf. Sicherlich wollte er damit witzig wirken. Aber sie hörte gar nicht hin. Einen Moment lang hatte sie gewünscht, die Alte möge aufwachen. Dann hätte sie mit der ein Gespräch angefangen und so den lästigen Burschen abgewimmelt. Doch die Bauersfrau schnarchte laut und ruhig mit offenem Mund.

Mutter, dachte sie, schätzt mich vollkommen falsch ein, was die Bekanntschaft mit Jungen angeht.

Sie hatten schweigend gegessen, und die Soße war angebrannt gewesen, und Mutter hatte viel Petersilie klein gehackt und über den Braten gestreut, um den Geschmack zu retten, und dann fing Mutter noch einmal an, nur in anderem Ton, irgendwie fremd, irgendwie weit weg, und sie sah vom Teller nicht auf, als sie sprach.

„Denk bloß nicht, dass ich dumm bin“, sagte sie. „Ich reime mir alles zusammen.“ Sie stach in dem Braten herum und sagte, wieder in diesem Tonfall: „Wenn es ein anständiger, katholischer Mann wäre, dann würdest du anders zu mir sein. Aber ich kann mir schon denken, wer dir an deiner Universität da den Kopf verdreht.“

Sie hätte am liebsten laut herausgelacht.

„Ich sage dir eins, und es ist das letzte Mal, dass ich dir das sage“, fuhr Mutter nach einer Weile fort, „wenn die Zeiten auch freier geworden sind und die Kirche sogar ein Auge zudrückt, ich sage dir: Du kommst mir mit einem Evangelischen oder gar mit einem Gottlosen nicht über die Schwelle.“

Es ist schon ein Jammer, dachte Felicitas, wie wenig sie mich kennt. Sie glaubt, es sei ein Mann, der meine Gedanken beherrscht und dem ich nach dem Munde rede. Selbstständig denken, das traut sie mir nicht zu. Sie hätte jetzt lachen, hätte die Mutter beruhigen können: Ich habe keinen, weder einen Gläubigen noch einen Ungläubigen, also atme ruhig durch. Und diese verzweifelte Drohung! Bildete Mutter sich wirklich ein, ihre Tochter, hätte sie wirklich einen evangelischen Freund, würde sich von diesem lossagen, bloß um nicht von der häuslichen Schwelle gewiesen zu werden?

Eigentlich fehlte noch eine dieser stereotypen Wendungen, mit der Mutter gern ihre Ermahnungen schloss. Etwa die hätte gepasst: „Einmal wirst du mich noch mit der Lampe suchen.“ Aber Mutter aß schweigend. Kein Wort sprachen sie mehr, bis Felicitas ihren Koffer nahm und zum Bahnhof ging.

Die starke Blondine, die das Abteil an der Station verlassen hatte, an der die Jungen eingestiegen waren, kam jetzt dienstlich zurück. „Die Fahrscheine zur Kontrolle bitte.“ Sie zeigte ihre Karte. Dann trat die Blonde auf die Jungen zu. An der Studentenfahrkarte des einen stimmte etwas nicht, er verteidigte sich, trotzdem bestand sie darauf, dass er nachzahlte. Der Rotkopf ging zu ihm, zog eine dünne, mit vielen Fächern ausgestattete Brieftasche aus der Jacke und borgte dem anderen das Nötige. „Mensch, bist ’n Kumpel“, sagte der anerkennend. Der Kleine winkte geringschätzig ab, doch war er über dieses Kompliment sicher sehr froh.

Sie nutzte den Moment, nahm Mantel, Reisetasche, Schal und Mütze, warf noch einen Blick auf die Bäuerin und ging dann hinaus. Sie blieb auf einem der Perrons stehen. Der Zug durchfuhr bereits die Villengegend der Vorstadt, und sie dachte daran, dass in der Stadtkirche bald der Abendgottesdienst der Jugend beginnen würde. Vielleicht würde sie dahin gehen, vielleicht Bekannten begegnen, mit denen sie reden konnte.

Und wenn sie auch keinen treffen würde, den sie kannte, so gab es doch diese Gemeinschaft, in der sie zu Hause sein wollte, und die gleichen Gebete wie zu Hause, nur ein paar Lieder waren anders. Sie wusste selbst nie genau, ob sie hier zu Hause war, doch sie wollte es sein. Sie war einmal, als sie erst ein paar Tage in dieser Stadt wohnte, in die leere Kirche getreten. Dass ihr nichts bekannt war in dieser Stadt, das hatte sie damals wie einen heftigen körperlichen Schmerz empfunden. Die neuen Kommilitonen, von denen sich jeder ein größerer Künstler dünkte als der andere, ihre Prüfungspsychosen und kleinlichen Hysterien, dieses Wichtignehmen kleiner, unbedeutender Dinge stießen sie ab. Sie war überzeugt, dass nicht alle so waren wie beispielsweise die puppenhaft hübsche und immer zerstreute und aufgeregte Karla Schwäger. Es gab stille Jungen und Mädchen darunter, wie Evelyn, Lutz und wie Britta. Mit ihnen hätte sie sich gern einmal über etwas anderes unterhalten als über Pädagogik und Ästhetik. Doch diese stillen und meist doch sehr ehrgeizigen Typen unter ihren Kommilitonen waren verschlossen wie sie, freundlich, aber vorsichtig, überaus und viel zu sehr vorsichtig aus einer eigenartigen, übersteigerten Sensibilität heraus, die ihr ja selbst eigen war und bei der sie sich manchmal fragte, ob sie Sünde sei, Hochmut oder Gleichgültigkeit oder so etwas Ähnliches.

Und auch das machte sie in der ersten Zeit geradezu krank: dieses nur scheinbare Zuhause bei einer Wirtin, die sie jeden Abend mit ihrer Redseligkeit überfiel, bis sie die richtige Taktik entwickelt hatte, ihr geschickt aus dem Wege zu gehen. All das war fremd und war ihr noch heute, wenn auch nicht mehr so schmerzlich, fremd geblieben bis zu den Straßen und Häusern und den wenigen Bäumen in dieser Stadt.

Sie war in das leere Schiff der Kirche getreten, und sie hatte sich auf die Bank gekniet direkt vor dem Altar. Von den Steinen des Fußbodens spürte sie Kühle aufsteigen. Da war sie ruhig geworden. Das, was sie sah und hörte, kannte sie, es war wie zu Hause: das Ewige Lämpchen, rot flackernd an der Altarwand, das wichtigtuerische Gerassel eines Schlüsselbundes, mit dem der Küster sich ankündigte, der nun von hinten her durch die Kirche schritt und einen prüfenden, aber zurückhaltenden Seitenblick auf sie warf. Seine umständliche Kniebeuge vor dem Tabernakel und dieses häufige andächtige Räuspern dann, als der alte Mann hinter der Sakristeitür verschwunden war. Der Geruch von Wachs und eben gelöschten Kerzendochten auch und das Kreuz da vorn in der Mitte des Altars, das war ihr bekannt und vertraut.

Der Zug war angekommen. Auf dem fast taghell erleuchteten Bahnhof tauchte sie ein in die Masse der eiligen Menschen, in den Geruch von Bockwürsten und schalem, abgestandenem Bier, ins Licht der Reklamen und in das Pfeifen und Zischen, Rattern und Quietschen - die Bahnhofsmusik.

Irgendein Ton, mochte er nun von einem Elektrokarren herrühren oder hatte ihn das Rädergestänge einer der zahlreichen schwarz glänzenden Lokomotiven hervorgebracht, rief ihr ein Stück Musik in Erinnerung. Es war das Thema eines Scherzos von Schostakowitsch, das ihr immer vorkam wie ein übermütig gepfiffenes Spottlied. Und damit war sie schon eingetreten in die Welt ihrer Arbeit, die auf sie wartete in der Woche, die morgen begann.

Während sie die Treppen zur Bahnhofshalle hinablief, überlegte sie: Ob ich mich in meinem Zimmer gleich vors Klavier setze und dieses Scherzo übe?

Oder ob ich heute zum Abendgottesdienst gehe?

Jutta! Jutta hier?

Vor ihm, vier Bänke gedrängt voll, saßen Jugendliche - sieben, neun, manche sicher zehn Jahre jünger als er. Kurt hatte zwischen zwei alten Frauen Platz gefunden, die bewegten ihre Lippen ständig im leisen Gebet. Er riskierte einen Blick auf das schwarzledern eingebundene, abgegriffene Büchlein, das die eine der beiden Alten auf dem Schoß hielt. Es war aufgeschlagen bei der „Andacht zur Verehrung des göttlichen Herzens Jesu“. Das war in zierwütigen altdeutschen Frakturbuchstaben auf die angegilbte Seite gedruckt, und als er es entziffert hatte, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Da gaben sich, dachte er, vier Reihen je fünfzig junger Leute vor ihm die größte Mühe, einen modernen Gottesdienst zu feiern! Da war seit Beginn der Messe mindestens ein Achtel der Jugendlichen spontan vom Bankplatz aufgestanden und war - bemüht, geräuscharm zu laufen - an eins der schicken, schlanken Mikros getreten, die sich rechts und links im Altarraum befanden. Da hatten sie Gott und Religion infrage gestellt und dann wieder Gott und Religion bewiesen. Immer wieder - Kurt sah auf die Uhr: seit zwanzig Minuten - hallten ihre dialektfreien Stimmen, die tiefen, harten der Jungen und die helleren, weichen der Mädchen, durch das graurote, steinerne Rund der Stadtkirche. Fragten und gegenfragten und taten so, als suchten sie erst die Antwort, die schon auf der letzten Zeile ihrer Zettel vorgeschrieben war. Und wirkten - glaubten sie selbst - erstaunlich provokativ, geradezu attentäterisch auf die heroische Säulenwand der Vierzehn Nothelfer links am Altar, auf die innig empfundene Muttergottesplastik im Seitenschiff und auf die barocken, schwersilbernen Kerzenhalter neben dem Altartisch. Dort stand, hin und wieder ins eingeprobte Frage- und Antwortspiel einbezogen, der Kaplan, ganz Aufmerksamkeit und ernste Meditation, und Kurt musste grienen:

Liefen nicht alle diese gescheit anmutenden Fragen und Gegenfragen, Thesen und Antithesen endlich nur auf eines hinaus - auf Andacht, Verehrung und letztlich auf Herzensglauben? Also auf das, was auch vor hundert Jahren, freilich in anderer, eben grotesk altdeutscher zierwütiger Schrift schon gedruckt wurde?

„Warum sehen wir in das Herz unsres Bruders nicht?“ - kehrte ein Ruf immer wieder, mal links und mal rechts, und Kurt kam das vor wie Reklamesprüche: „Haben Sie schon einmal mit Liebe gewaschen? Versuchen Sie Spee!“

Ihn, der selten noch einen Gottesdienst besuchte, hatte dieses Gehabe oft abgehalten, eine Kirche zu betreten, auch dann, wenn ihn ein unbestimmtes Gefühl dazu trieb. Dann war er, obwohl mit den besten Vorsätzen von Hause fortgegangen, an der offenen Kirchentür doch wieder vorbeigelaufen, irgendwohin in die Stadt, irgendwohin in ein Café, in ein Kino oder in eine kleine Kneipe hinein. „Ich bin Realist“, sagte er sich, „wozu habe ich das Theater nötig?“

„Warum sehen wir in das Herz ...?“, schallte es wieder aus einer Ecke der Kirche. Dreistimmig fragte ein Chorus - Jungen, um die acht Jahre jünger als er - von der anderen Ecke zurück:

„Warum? …“

„Warum? …“

„Warum?    “

„… in das Herz unsres Bruders nicht?“

Und nach einer Pause, in der die Stimmen eindrucksvoll echoten, und noch nach einer ihm witzlos langweilig scheinenden Stille ertönte der jugendliche Bass des Kaplans vorn aus der Mitte der Stimmen:

„Christus wird jeden von uns einmal nach seinem Bruder fragen …“

Pause. Pause.

Der hat’s hinter den Ohren! dachte Kurt grimmig. Hat mich überlistet. Ruft mich auf der Baustelle an, so mir nichts, dir nichts. Ruft mich an, ob ich ihm helfen könne, plane einen Pfarrhausanbau und brauche einen Tipp für die Baugenehmigung. Und ich denke mir gleich: Warum ruft der gerade mich an? Sicher existieren doch noch ein halbes Dutzend anderer Bauingenieure in seiner Pfarrei! Na, und wie er so sagt, ich könne ja gleich auch die Projektionsskizze anfertigen, natürlich nicht bloß für Gott vergelt’s und natürlich auch nicht für einen Handlangerlohn, da habe ich angebissen. Prompt bestellt er mich daraufhin zu einer Zeit ins Pfarrhaus, die mich moralisch zwingt, nach unserem guten Geschäftsabschluss noch zur Abendmesse zu bleiben. Man gibt vor einem Kaplan ja nicht offen zu, dass seine Kirche einen nicht interessiert. Und er hat seinen Zweck doppelt erreicht: Sein Bauvorhaben läuft sicher an, und überdies hat er wieder ein schwarzes Schäfchen in seine Herde eingefangen. Denkt er!

Darum also saß Kurt hier, und weil die Sprüche in ihm weder Herzensglauben noch irgendeine andere Art der Andacht weckten, sah er sich um unter den Jungen und Mädchen auf den ersten Bänken. Seine Gedanken glitten zurück in die Zeit, als er, so jung wie sie, die Gregorianischen Messen mitgesungen und die deutschen Jugendgottesdienste regelmäßig besucht hatte. Er dachte an seine Studentenjahre, die eigentlich gar nicht so weit zurücklagen. Und es hatte seinen Grund, dass ihm dabei, wie oft beim Zurückdenken, Jutta einfiel - die schwarze Jutta.

Denn in der Reihe gleich vor ihm hatte er ein Mädchen gesehen, dessen Kopf jetzt verborgen war durch Rücken, Schultern und Köpfe der anderen. Doch da entdeckte er es wieder, das Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren.

Jutta! Jutta hier? Das konnte nicht sein. Und wenn sie es doch war? Vor Überraschungen war man ja bei ihr nie sicher gewesen. Vergeblich mühte sich Kurt, indem er sich hinkniete und den Kopf weit nach vorn beugte, das Gesicht des Mädchens zu erkennen. Jetzt warf sie die Haare zurück in den Nacken. Wie sie!

Natürlich war die schwarze Jutta nicht die einzige Frau gewesen, die Kurt Voland in den acht Jahren kennengelernt hatte, seit er mannbar war. Allerdings war sie das weibliche Wesen, das ihm häufiger als andere einfiel, unverhofft beim Einschlafen, im Halbdämmer des Erwachens, wenn er sich eilig rasierte oder auch irgendwann auf der Arbeit. Stand er allein auf einem Gerüst, oder er glaubte gerade, mit der ganzen Kraft seiner Gedanken auf die Rohrleitung konzentriert zu sein, die verstopft war, und er saß rittlings darauf und klopfte sie mit dem Hammer ab, um den Fehler zu finden, da dachte er plötzlich an sie. Er hatte versucht, herauszubekommen, warum er sich so oft an diese weit zurückliegende Geschichte erinnerte, sich auch gefragt, ob er die Frau im Unterbewusstsein vielleicht noch liebe, aber das konnte nicht sein. In diesem Punkte kannte er sich, da wäre er mit Sicherheit an einem der nächsten freien Tage zu ihr gefahren. Sie wohnte in einem Kuhnest im Mecklenburgischen, die Verbindung war die denkbar schlechteste. Kurt hätte das nichts ausgemacht, wäre ihm wirklich an der Schwarzen gelegen gewesen. Nach ihr hatte er verschiedene Frauen und Mädchen gekannt. Sie waren bloß Schattenfiguren in seinem Gedächtnis geblieben. Die ältere Bekanntschaft - er war damals zwanzig, sechs Jahre war die Geschichte alt! - trat, ohne dass er es wollte, in Abständen von einigen Wochen manchmal so deutlich vor seinen Sinn, dass er glaubte, nicht Jahre wären inzwischen vergangen. Alles war frisch; er erinnerte sich an viele kleine unbedeutende Begebenheiten, als hätte er sich gestern erst von der schwarzen Jutta verabschiedet.

Sommer war es damals, Semesterferien. Kurt war der einzige Student in der Baukolonne, ein Student im Praktikum, das er sich selbst organisiert hatte, er brauchte Geld für eine Polentour. Dann war er nicht nach Polen gefahren, war in dem Kuhnest geblieben bei Jutta den ganzen August. Er hörte von ihr bereits am ersten Tag, als er auf der Baustelle eintraf. Die Maurer saßen zum Frühstück auf den Grundmauern der Halle, die sie hochziehen sollten zu einem ACZ, das weithin über dem flachen Land zu sehen sein würde, also zu einem Agrochemischen Zentrum, einem der ersten im Land überhaupt, wie sie Kurt berichteten, und sogar eine Piste für Hubschrauber sollte neben der Halle angelegt werden. Hubschrauber, die von hier aus starten und kilometerweit hineinfliegen würden in den mecklenburgischen Himmel und Dünger streuen und die Saat von oben aus der Luft.