Impressum

Wolf Spillner

Wasseramsel

Die Geschichte von Ulla und Winfried

 

ISBN 978-3-95655-352-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Der Vogel fliegt unter der Brücke hervor. Rasche Flügelschläge tragen ihn bachauf zum Forellenteich. Dort landet er auf dem hölzernen Überlaufkasten. Er dreht sich hin und her, seine weiße Brust leuchtet in der Nachmittagssonne, und sein kurzer Schwanz zuckt. Als der Junge näher kommt, stößt sich der Vogel vom Kasten ab, streicht flach über das gestaute Wasser und dann weiter den Bach hinauf, der den Teich gefüllt hat.

»Sieh mal nach, was diese Vögel machen«, hat der Vater dem Jungen gesagt, »die holen uns die Forellenbrut aus dem Teich!« Nun steht der Junge da und blickt dem Vogel nach. Der ist ihm ziemlich gleichgültig, und die jungen Forellen sind es auch. Dem Vater aber nicht. Also muss er auskundschaften, was der Vogel wirklich treibt, hier oben am Teich.

Der Vogel landet im Bach auf einem der braunen, glänzenden Steine. Um ihn spritzt und gischtet das Wasser. Das scheint ihn nicht zu stören. Komisch, denkt der Junge, sieht gar nicht wie ’n Wasservogel aus! Wie soll der wohl Forellen fressen?

Plötzlich ist der Vogel kopfüber verschwunden. Der Stein ist leer, als hätte er dort niemals gesessen. Und das Wasser schäumt. Aber ein paar Meter weiter oben im Bach taucht der Vogel wieder auf. Er kommt flatternd aus dem Wasser heraus, fliegt auf einen anderen Stein, schüttelt sich und trägt etwas im Schnabel, das klein und schwärzlich ist. Oder grau vielleicht. Das kann der Junge nicht genau erkennen. Ein Fisch ist das wohl nicht. Diese Beute schlägt der Vogel heftig auf den Stein, stochert mit dem Schnabel und schluckt. Dann knickst er ruckartig auf und nieder, dreht und wendet sich und springt kopfüber ins Wasser.

Jetzt wird der Junge doch neugierig. Er will sehen, was der Vogel erbeutet. Sehr scheu ist er eigentlich nicht. Nur vorsichtig. Als ob er nicht gestört sein möchte bei seiner Jagd. So kommt es dem Jungen vor, und er überlegt, dass es besser ist, nicht so dicht am Bach zu bleiben.

Das Bachtal wird schmaler und steiler. Die Schmelzwasser haben hier in vielen Jahren eine tiefe Rinne gegraben. Umgestürzte Bäume liegen ausgewurzelt über dem Bach, Buchen und ausgewaschene Erlen. Der Vogel fliegt unter ihnen hindurch oder huscht blitzschnell über die abgeschliffenen Äste hinweg. Immer dort, wo das Wasser um die größeren Steine schäumt, landet er, knickst, lustig wippend, dann taucht er wieder. Dem Jungen kommt es vor, als liefe der Vogel unter Wasser mit leicht gewinkelten Flügeln gegen die Strömung an. Das Wasser ist sehr klar. Der Vogel stochert mit dem Schnabel zwischen den Kieseln am Bachgrund. Wenn er Tropfen schüttelnd auftaucht, hat er kleine, schwarzgraue Beute im Schnabel. Es sind keine Fische.

Bis der Junge sich dessen sicher sein kann, vergeht eine ganze Weile. Er muss langsam und vorsichtig im raschelnden Buchenlaub den Hang entlangsteigen. Er darf sich nur dann bewegen, wenn der Vogel unter Wasser läuft. Sobald er auftaucht, bleibt der Junge hinter einem Buchenstamm in Deckung. So kommt er dem Vogel näher. Doch dann muss er stehen bleiben. Mehrere Bäume liegen quer über dem Bach. Steine und Schlamm hat das Hochwasser zu einer Staumauer dazwischengepresst. Sanft plätschernd läuft Wasser in der ganzen Breite über dies Wehr, und der Vogel bleibt unter dem Wehr sitzen. Jetzt kann der Junge nicht dichter an ihn heran, denn er blickt sich nach allen Seiten um, steht aufgereckt auf dem Stein und wirkt besonders aufmerksam. Dann gibt er sich einen Ruck - seine Flügel heben ihn über das Wehr hinweg, und er ist verschwunden. Der Junge springt hinter dem Baum hervor und auf das Wehr zu. Doch da kommt ihm der Vogel von oben entgegen. Er ruft ein helles, sehr ängstliches »Zi - zitt« und verschwindet so blitzschnell talwärts, als sei ein Habicht hinter ihm her.

Der Junge sieht ihm erstaunt nach. Da ist doch nichts, was ihm Angst machen könnte! Nur die Meisen wispern, und über ihm im Buchengrün schmettert sehr laut ein Finkenhahn. Und sanft und murmelnd fließt das Wasser vom Wehr über die Steine.

An einer dünnen Buche zieht sich der Junge den Hang hinauf, um über die Krone des Wehrs zu blicken. Doch er fährt zurück, blitzschnell. Einen langen Augenblick kann er sich nicht mehr bewegen. Er hält die Luft an. Er will es nicht sehen, und er will nicht gesehen werden. Er zieht langsam den Kopf ein und lässt sich nach unten rutschen. Und doch will er sehen, was ihm unfassbar ist: Der Wald um ihn her ist nicht mehr Wald und der Bach kein Bach mehr, und das Wasser, das sich hinter dem Wehr da staut, das wird zum Märchenweiher, an den zur Mitternacht die Elfen treten mögen.

Aber es ist ja nicht Mitternacht mit Mondenschein. Es ist ein warmer Nachmittag im Mai. Durch die Blätterlücken in den Baumkronen fällt Sonnenlicht auf einen Stamm im Wasser, und auf dem Stamm sitzt ein Mädchen, und das Mädchen ist sehr hell in diesem Licht, bis auf das dunkle Haar. Es ist überdeutlich und sehr nahe.

Der Junge hat nie zuvor ein Mädchen nackt gesehen.

Er ist an diesem Tag im Mai nicht ganz sechzehn Jahre alt, und an Mädchen denkt er nicht. Die Aktbilder im »Magazin« oder solche, die aus irgendwelchen Heften oder Illustrierten aus dem Westen stammen mögen und die bisweilen von Jungen in seiner Klasse herumgezeigt werden, reizen ihn nicht. Ein Bild nur hat es gegeben, das er sich länger angesehen hat. Da saß eine Nackte auf einem Motorrad, und das war eine Honda! Achtzylinder! Das war es! Technische Zeichnungen von Motorradvergasern oder der Schnitt durch eine Teleskopfederung interessieren ihn mehr als die abgegriffenen Buntseiten. Er will Cross-Fahrer werden, und der Vater wird das Motorrad kaufen, wenn er sechzehn ist. Er träumt von den Six-Days und der Silbervasentrophäe.

Von diesem langen Augenblick an, von der Atemlosigkeit, vom Blick über die Stämme des Wehrs, wird der Junge von Mädchen träumen. Von diesem Mädchen wird er träumen, und er wird sich manches vorstellen.

Jetzt weiß er gar nicht, was er tun soll. Ungesehen könnte er unter dem Wehr am Bach herunterschleichen, zum Teich hinab, wohin der Vogel geflogen sein mag.

Die Hand des Jungen klammert sich um den Jungbuchenstamm. Er starrt sie an wie etwas Fremdes. Sie zieht ihn wieder nach oben, er hebt vorsichtig den Kopf.

Das Mädchen sitzt nicht mehr auf dem Baumstamm. Sie liegt bäuchlings im Wasser, auf die Arme gestützt, planscht mit den Beinen und dreht sich wie ein laichender Fisch im Bachbett. Dann taucht das Mädchen unter, und ihre langen Haare treiben wie flutende Wasserpflanzen einen Moment über dem schmalen Rücken. Das Wasser ist wohl zu kalt, denn sie schnellt hoch, wirft die Arme nach oben und schüttelt sich, dass die Tropfen fliegen, und springt auf den Baumstamm zurück. Sie balanciert zum Ufer. Ihre Brüste hüpfen. Vor den Sträuchern beugt sie sich nach vorn, greift die Haare zusammen und wringt das Wasser heraus. Sie schlenkert ihre langen Beine, geht in die Hocke, federt wieder hoch und hopst in kleinen Sprüngen durch eine Lücke im Ufergebüsch. Das Grün verschluckt sie wie einen Spuk.

Der Bach ist wieder ein Bach, und der Wald ist der Wald. Das Mädchen ist keine Elfe und eine Nixe auch nicht, und der Junge ist nicht auf die Knie gefallen vor einer himmlischen Erscheinung. Doch die Kniekehlen sind ihm weich, und er fühlt, dass er zittert. Er macht die Augen zu, und er macht sie wieder auf, und er starrt auf den Baumstamm im gestauten Wasser. Da hat das Mädchen gesessen.

Sie muss aus Tulbach heraufgekommen sein. Auf der anderen Seite gibt es nur einen Weg hierher. Der führt unten über den Bach. Vielleicht ist sie auch weiter oben über das Wasser gekommen, dort, wo die Flachsteine liegen. Dies alles überlegt der Junge jetzt sehr rasch. Aber vor allem denkt er daran, dass er das Mädchen treffen muss, und das muss wie ein Zufall sein. Sie darf nicht einmal ahnen, dass er sie so gesehen hat. Treffen muss er sie! Das und nur das weiß er. Was weiter geschehen soll, das weiß er nicht.

Sie treffen sich wirklich, stehen am Bach, das Mädchen auf der einen, der Junge auf der anderen Seite. Das Mädchen weiß nichts von dem Jungen oder doch nur so viel, dass er öfter auf seinem Moped sehr schnell durch Tulbach fährt, in die Straße zur Steinbrücke einbiegt und dort zum Wald hin verschwindet. Das hat sie so nebenbei bemerkt, wie sie andere Fahrzeuge wahrgenommen hat, die Busse und die Personenwagen oder Motorräder oder eine der wenigen Pferdekutschen vielleicht. Mag sein, sie hat einmal länger hinter diesem schnellen Moped hergesehen, ohne eigentlich zu wissen, warum.

Sie hat also den Jungen schon einmal gesehen. Jetzt steht sie ihm gegenüber, und zwischen ihnen ist der Bach, und um sie ist der Wald, und die Wiese liegt auf der Seite hinter ihr, von der sie kommt. Sie trägt ein Bündel Himmelschlüsselblüten in der Hand. Auf der anderen Seite steigt der Berg ein wenig an, und die Bäume stehen bis an den Bach heran, und dort geht ihr Weg weiter. Sie weiß nicht, dass der Junge lange gewartet hat.

Er aber hat sie nicht nur flüchtig gesehen, von seinem schnellen Moped. Er hat sie lange und sehr deutlich gesehen, auf dem Stamm im Wasser und schlank, mit kleinen, sanft gerundeten Brüsten und kräftig schwarzem Kraushaar zwischen den Schenkeln.

Im Wasser liegen die flachen Steine. Dahinüber müsste das Mädchen nun zur anderen Seite. Doch da ist der Junge hinter den Baumstämmen hervorgekommen und ist stehen geblieben, und sie bleibt auch stehen. Zurück mag sie nicht gehen. Warum auch? Doch sie zögert und wird unsicher. Sie ärgert sich. Was hat der hier zu suchen? Soll er doch weitergehen! Der Junge steht da und sieht sie an, und sie wirft den Kopf auf und nimmt die Hand mit dem Schlüsselblumenstrauß ein wenig höher und springt auf den ersten Flachstein und zum zweiten und zum dritten und ist fast schon über den Bach hinüber, da rutscht sie ab auf dem letzten, der glatt und grün ist, und tritt ins Wasser. Der Ärger wird zum Zorn. Was muss der blöde Kerl da stehen! Sie kennt ihren Bach, das wäre sonst nie passiert.

Der Junge springt ihr entgegen, und gegen ihren Willen greift sie nach seinem ausgestreckten Arm, und er zieht sie geschickt den Hang hinauf.

»Die Steine sind zu glatt«, sagt er. »Sogar barfuß rutscht man ab. Das weiß ich!«

Sie hat seine Hand rasch wieder losgelassen. »Also danke«, sagt sie. Und das wäre alles, und sie könnte gehen, aber er steht ihr im Weg.

»Die sind schön!«

Sie weiß, dass er die Schlüsselblumen meint. Seine Augen zeigen auf den Strauß. Die Augen sind gelblich und ein wenig braun. Wie Hundeaugen.

»Ja«, sagt das Mädchen.

»Hast du sie von der Wiese geholt?«

»Ja«, antwortet das Mädchen, und der Junge sieht sie jetzt voll an. Hundeaugen sind doch anders, denkt sie.

»Ich weiß auch eine Stelle. Da wachsen Waldhimmelschlüssel. Die sind größer.«

»Ja«, sagt das Mädchen, »die sind größer. Aber die soll man nicht pflücken!«

»Wir haben sehr viele«, meint der Junge.

»So?«

»Ja, viele!«

Das Mädchen schweigt.

Ich mache was falsch, denkt der Junge. Aber ihm fällt nicht ein, was er sagen könnte. Die Schlüsselblumen stehen am Zaun des Grundstücks, dort, wo der Wald beginnt. Es ist so schwer, mit diesem Mädchen zu reden. Er hat jetzt eine trockene Kehle vor Verlegenheit.

»Ich kann sie dir zeigen!« Es kommt ihm vor, als stottere er.

»Wen?«, fragt das Mädchen kurz und endgültig, denn jetzt will sie endlich an diesem Jungen vorbei.

»Unsere Schlüsselblumen, die großen.«

Seine Nase, zu groß, denkt das Mädchen, und mächtig große Ohren. Aber eigentlich sieht er gut aus.

»Eure?«, fragt sie.

»Ja, sie wachsen am Zaun.« Er ruckt seinen Kopf nach links und sieht das Tal hinauf.

»Was für ein Zaun?«

Da sieht er sie wieder an. Er streckt den Arm aus. »Hinter Vaters Datsche!«

»Ach«, sagt das Mädchen, »das ist eure?«

Der Junge nickt.

»Der Teich eigentlich auch?«

Wieder nickt der Junge.

»Dein Vater ist der General?«

»Ja.« Die Augenbrauen des Jungen ziehen sich für einen Moment zusammen. Er bekommt eine kleine, steile Falte auf der Stirn.

»Das sagen die Leute so. Aber es stimmt nicht. Nichts mehr mit Generaldirektor! Er ist krank!«

Das war keine gute Frage, denkt das Mädchen.

»Jetzt muss ich los«, sagt sie. »Bist du hier öfter?«

Der Junge nickt. »Wenn du willst? Ich kann dir die Schlüsselblumen zeigen! - Morgen, ja?«

Warum eigentlich nicht? überlegt das Mädchen.

Ja! Sag ja! denkt der Junge.

Das Mädchen überlegt weiter: Morgen ist Samstag. Morgen kommt Erich. Morgen ist Mutter lieber allein! »Ja«, sagt sie, »morgen? Gut, morgen um drei!«

»Hier?«, fragt der Junge.

Ihre Augen werden sehr hell, wenn sie lacht. »Klar doch, wo du mich gerettet hast!« Nun lacht sie noch mehr. »Ahoi!« Damit geht sie los. Erst langsam, dann schnell, und dann rennt sie den Pfad hinunter.

Der Junge steht und glaubt es nicht, und er sieht ihr nach und sieht, wie ihre feuchten Haare über die Schulter schwappen und wie sie die langen Beine nach außen wirft, ein bisschen wie ein X, wie Mädchen in Hosen eben so rennen. Er schlägt mit der flachen Hand auf den nächsten Baumstamm. Sie kommt, sie kommt wirklich!

Morgen, denkt der Junge, als ihn das Moped durch das Tal und die Straße zurück in seine Stadt trägt. Morgen! Es dauert so lange, bis es zum Heute wird. Er denkt noch an das Mädchen, als er schon durch das Zentrum fährt, vor der Ampel halten muss, und er schreckt auf, als hinter ihm gehupt wird. Da ist das Ampellicht schon auf Grün gesprungen. Der Junge knurrt vor sich hin, und das Moped schnurrt durch die Stadt, durch die Seitenstraßen bis zur Siedlung am Talrand. Da ist er zu Hause.

»Na, junger Mann? Wie war es?« Der Vater hebt den Kopf aus dem Liegestuhl und legt vorsichtig das Buch auf den niedrigen Tisch neben sich.

»Was soll wie gewesen sein?« Der Junge schiebt die Unterlippe vor: Von dem Mädchen kann der Vater doch nichts wissen!

Der Vater sieht ihn verständnislos an. Er stützt beide Hände auf die Lehnen des Liegestuhls und richtet sich ein wenig auf. »Das ist doch zu verstehen, oder? Wie es war, habe ich gefragt!«

»Nein«, sagt der Junge unsicher, verwirrt und trotzig.

Der Vater öffnet den Mund, aber er sagt dann doch nichts, schüttelt den Kopf, und die Lippen schließen sich und werden schmal.

Der Junge sieht, wie er die Beine nach links und nach rechts neben den Liegestuhl auf die rot glänzenden Flachziegel der Terrasse setzt, sich mühsam im Liegestuhl hebt, sieht das große, etwas flache Gesicht mit den schweren, schlaffen Augensäcken. Er sieht, dass sein Vater ihn nicht begreifen kann, und er denkt, dass er ihn nicht aufregen will und nicht aufregen darf. Und es tut ihm auch leid, dass er so geantwortet hat. Aber er kann nichts sagen, steht nur steif da, den Kopf etwas eingezogen, mit lang hängenden Armen, den Sturzhelm in der linken Hand. Der Vater gibt sich Mühe, ruhig zu bleiben, das merkt er und wartet doch auf ein heftiges Wort, das kommen wird, aber der Vater fragt nur: »Bist du am Teich gewesen?«

Da nickt der Junge.

»Ist was passiert - hast du einen Unfall gehabt? Du bist so spät hier, red doch!«

»Nein«, sagt der Junge, »wirklich kein Unfall!«

»Was denn? Was ist passiert?«'

»Nichts, gar nichts!«

»Na gut ...« Der Vater macht eine müde Bewegung mit der flachen Hand. »Nichts also! Aber auf eine einfache Frage hast du keine Antwort!«

»Nein«, sagt der Junge unwillig. »Weiß ich denn, was du hören willst? Wie war es?« Er zieht die Worte gedehnt auseinander. »Ob die Hütte noch steht, ob der Bach noch fließt, wie die Maschine gelaufen ist, ob ich zu schnell gefahren bin, ob ich ...« Er bricht im Satz ab, sieht die Hände des Vaters, die sich um die Lehnen des Liegestuhls pressen.

»Entschuldige«, sagt er leise, und dann, wieder etwas lauter: »Aber wir lernen, Fragen konkret zu stellen. Das hast du selbst immer gesagt!«

Der Vater stößt Luft aus. Fast ein Stöhnen ist das. Er lässt sich zurückfallen. »Konkret also: Wie sieht das aus, sind die Vögel noch am Teich?«

Nun zuckt der Junge leicht die Schultern. »Ich weiß nicht.«

Und ehe der Vater sich fragend wieder vorbeugt, sagt er: »Einen habe ich nur gesehen, und der war auch nicht am Teich, oder nur ganz kurz, der war am Bach!« Er muss wieder an das Mädchen denken, und er sieht, wie sie zu den Büschen springt und im Grünen untertaucht. Er sieht am Vater vorbei.

»Bist du sicher? Bestimmt sind sie am Teich. Sie sind immer am Teich!«

»Ich kann ja noch mal hinfahren!«

»Sie müssen am Teich sein. Nur da ist unsere Fischbrut!«

Diese Vögel fressen keine Fische, denkt der Junge. Aber das sagt er jetzt nicht. »Ich kann ja noch mal hinfahren«, wiederholt er. »Morgen zum Beispiel!«

»Das mach mal! Und sperr deine Augen auf! Du musst dir Zeit lassen! Und mach deine Zähne auseinander, wenn du nach Hause kommst. Meinst du, ich habe Lust, dir jedes Wort einzeln rauszuholen?«

»Ja, Vater, ist schon klar. Musst nicht sauer sein. Mir ist nur nicht gut heute. Weiß auch nicht, was das ist, so übel! Ich hau mich gleich in die Falle. Ich will auch kein Abendbrot!«

»Ist gut!« Der Vater nickt ihm zu, und der Junge geht in sein Zimmer hinauf.

Diese blöde Fragerei immer! Er sieht aus dem Fenster über die Bäume, die blühenden Kastanien auf der anderen Seite und die Straße hinunter. Da kommt schon die Dämmerung aus dem Tal herauf. Der Junge wendet sich ab, wirft sich auf die Liege und sucht im Transistorradio auf dem Regal neben sich nach Musik. Aber da gefällt ihm nichts. Er drückt die Taste aus, wälzt sich auf den Rücken und starrt an die Zimmerdecke, und die Decke wird zum Wasser mit einem Stamm darin, und das Mädchen sitzt auf dem Stamm, und das Mädchen balanciert darüber hin, mit hellen Beinen und Brüsten und Hüften und dem schwarzkrausen Dreieck davor.

Das Verlangen befällt ihn jäh, unverhofft und ohne vorheriges Anzeichen. Sein Glied wird schmerzhaft steif, erschreckendes Empfinden, so heftig und hart, dass er sich entsetzt wie vor einer plötzlichen Krankheit.

Im Flur unten klappt eine Tür. Er hört die Schritte der Mutter zur Treppe. »Willst du nicht essen kommen, Winnie?«

»Nein«, schreit er, »ich will nicht! Aber mach dir mal keinen Kopp«, ruft er leiser hinterher. Er hört, wie sie auf dem Treppenabsatz kehrt macht. Da steht er auf, zieht sich aus, holt sein Bettzeug aus dem Kasten und kriecht unter die Bettdecke. Er fühlt sich scheußlich.

In der Nacht wacht der Junge auf. Er hört sich noch stöhnen und findet seine Hand in der Schlafanzughose, und sie ist nass. Das ist nicht nur Schweiß wie an seinem Körper, der gezuckt hat. Ein Mädchen ist in seinem Traum gewesen, ein nacktes Mädchen auf einem Motorrad. Er atmet benommen, und ein süßer Schmerz fährt noch durch seinen Leib. Dann schläft er sofort wieder ein, aber beim Weckerklingeln fühlt sich der Junge matt und zerschlagen. Mit dumpfem Kopf schleicht er ins Bad hinunter und steht lange unter der kalten Dusche. Und wieder muss er an den Bach denken. Dessen Wasser ist wohl noch kälter gewesen über dem schmalen Rücken des Mädchens.

Aus dem Spiegel sehen ihm seine Augen dunkel gerandet entgegen. Das Gesicht ist hässlicher als an jedem anderen Tag, grob, mit großer Nase und großen Ohren. Er wird nicht zum Bach fahren! Er will das Mädchen nicht sehen. Er möchte, dass ihn niemand sieht. Nicht einmal seine Mutter mag er ansehen.

»Du bist doch nicht etwa krank?«, fragt sie besorgt, als er den Teller mit Gerstenflocken von sich schiebt. Sie beugt sich über den Tisch, um Milch einzugießen, mit ihrem sanften Duft von Lavendelseife und leisem Parfüm. »Willst du deine Flocken nicht essen?«, fragt sie verstört. »Du hast sie doch gern, du isst sie doch immer - sie sind doch gut! Mit Sauermilch heute!«

»Mutter, bitte!« Abwehrend hebt er eine Hand und schiebt den Teller mit der anderen noch weiter von sich.

»Du siehst krank aus, wirklich, was hast du?«

»Nichts hab ich«, knurrt der Junge, »lass mich doch zufrieden!« Jetzt ekelt ihn nicht nur sein Gesicht und dieser Traum, sondern auch der Teller, über den sich die Sauermilch dick und weiß ergoss, dieser ganze Tisch widert ihn an, die Mutter in ihrer blonden Sanftheit und dem Duft von Körperpflege. Er steht auf, und der Stuhl schurrt.

»Heute komme ich nicht zum Essen. Ich hab Vater versprochen, nochmals zur Hütte zu fahren, zum Teich. Er will mehr von den Vögeln wissen. Ich fahre gleich von der Schule. Bis dann, Mutter!« Er geht schnell aus der Küche.

2. Kapitel

Ohne Weckergerassel beginnt der Tag des Mädchens. Da ist ein Singsang, undeutlich zunächst, wenn sie noch in der Schwebe ist, zwischen Schlaf und Wachsein, wie jeden Morgen. Das ist eins dieser Lieder der Mutter, für niemand bestimmt, nur für sie selbst. Ein Lied auf den Morgen, ein Lied auf den Kaffee, auf Wurst oder Brot, manchmal lustig, manchmal auch zornig, auf den Bürgermeister oder die schlechten Ventile der Fahrräder, die im Keller stehen, oder auf die Bäume vor dem Haus, auf den Schnee und die Eisblumen am Fenster, eine halblaute Mischung aus Schlagermusik und Konzertmelodien. Das Mädchen kennt den Morgen nicht anders. Den Tag muss man fröhlich angehen, sagt die Mutter, und der Morgen muss sich fortsetzen mit schwarzem Kaffee, in den sie eine halbe Zitrone quetscht.

An diesem Morgen ist es ein Erich-Lied.

Das Mädchen reibt die Augen, reckt sich und schüttelt die Haare zur Seite. Durch die offene Tür kann sie in die kleine Küche sehen. Die Mutter steht am Fenster, dunkel gegen das helle Viereck, zierlich und klein. Hinter dem Fenster ist sonniger Morgen.

Die Mutter wendet sich um. »Heraus, heraus, die liebe Sonne, sie lacht uns schon aus«, singt sie brummelnd.

Das Mädchen zieht sich das Kissen über den Kopf.

»Ulla, Faulpelz! Auf, auf!«

»Niemals«, ruft das Mädchen aus dem Kissenspalt. Sie lauscht wartend auf die Schritte der Mutter. Aber außer dem Pochen vom eigenen Puls hört sie nichts.

»He, du Faulpelz!«

Das Mädchen quiekt auf und schüttelt das Kissen ab. Die Mutter ist barfuß herangeschlichen und hat einen ausgestreckten Finger unter die Decke gebohrt.

Plötzlich ist das Mädchen ernst. »Lass mal, Mammi - sieh doch!« Sie zeigt über die Bettlehne zum Fenster. »Oi - ist das einfach!« Ihre Hand klappt flach vor die Stirn.

»Was denn, Ulla?«

»Na, guck doch!« Das Mädchen schüttelt den Kopf. »Nein, so kannst du’s nicht sehen. Komm tiefer, hierher mit dem Kopf!« Sie zieht die Mutter aufs Bett neben sich und drückt sie sanft nach unten und zeigt wieder über die Bettlehne zum Fenster. »So einfach ist das!«

Die Mutter richtet sich auf. »Wirklich, ich weiß nicht, was du da siehst. Willst du deine alte Mutter verkohlen?«

»Ein Bild, Mammi, ein Bild! Jetzt kapiere ich, was Hansen gemeint hat!«

»Dein Zeichenlehrer?«

»Ja, der. Und ich hab sie doch nie begriffen, weißt du, diese Bilder nur aus Dreiecken und Kreisen und so. Aber hier, sieh mal, da ist alles ganz klar: Blaue Kante - das Bett, schwarze Kante - Fensterbrett, weiße Fläche - die Fensterwand und dann der rote Truhendeckel!« Sie hebt den Finger und reckt sich. »Komposition«, sagt sie bedeutungsvoll, »einfach Klasse, das könnte ich glatt malen!«

Die Mutter senkt den Kopf auf die Bettdecke. »Hast recht, Ulla, das sieht schön aus. Aber als Bild, ich weiß ja nicht, als Bild hätte ich das nie gesehen.«

»Ich ja auch nicht, Mammi, ich auch nicht. Aber jetzt hab ich’s kapiert. Da freut Hansen sich, kannst mir glauben. Das muss ich malen, wirklich! Na, versuchen jedenfalls.«

»Aber erst musst du wohl aufstehen«, lacht die Mutter.

»Ach, Mammi, du bist ja so klug!« Das Mädchen lächelt ein wenig. Dann wird sie wieder ernst und blickt die Mutter aufmerksam an. Nachdenklich sagt sie: »Und schön bist du auch!«

»Ach, Schnickschnack!«

»Und ich weiß auch, warum!«

»Schluss jetzt!« Die Decke fliegt unter dem energischen Griff der Mutter zur Seite. »Aufgestanden wird jetzt, Fräulein, sonst kommst du zu spät, und in Ruhe wird gefrühstückt. Mach ein bisschen hin beim Waschen!«

»Ja, meine schöne Mammi!«

»Ulla!«

Das Mädchen hopst kichernd über den Flur zum winzigen Bad hinüber. »Ach, wie gut, dass jeder weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.« Und sie quäkt beim Waschen weiter: »Aber meine Mutter hinter den Bergen bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr!«

»Was ist denn heute los mit dir, Ulla?«

»Was soll sein, gar nichts - schön ist es heute! Und nur vier Stunden, und am Nachmittag haben wir Blasen - ach du lieber Himmel, ich hab ja gar nicht geübt, oi, oi, oi! Has tot - eigentlich Quatsch, für tote Hasen zu blasen, hört sich aber gut an, so, Mammi«, schreit sie mit Zahnpasta im Mund durch die offene Tür und gurgelt übertrieben laut, presst die Lippen zusammen und bläst Schaumfetzen hervor. »So wird das gemacht! Wir werden noch Kreismeister, das wirst du sehen, Mammi!«

»Nicht mal hören werde ich das«, lacht die Mutter. »Und dass du nicht wieder hier oben übst, Ulla! Künzel bekommt das Zittern, wenn er dich hört. Er hat zarte Nerven und nicht die größte Freude an deinen Jagdsignalen.«

»Keine Bange! Ich nehme das Horn mit zum Baden. Da kommt nie jemand hin. Ich kann blasen, dass die Bäume wackeln.«

Die Mutter hebt verzweifelt die Hände. Doch sie lacht.

»Brauchst gar nicht zu lachen! Ihr werdet noch staunen, auch dein Bürgermeister!«

»Ist ja gut, Ulla ...«

»Du kommst doch auch mit, Mammi? Oder?«

Die Mutter nickt. »Das möchte wohl sein, Mädchen!«

»Und abends zum Tanz? Mit Erich?«

»Ich weiß nicht ...« Die Mutter zögert. »Ob Erich mag?«

»Klar, Mammi, musst nur wollen!«

»Ach, Kind - was weißt denn du? Lass das mal meine Sache sein!«

»Ja, Mutter!« Sie weiß genau, dass sie mit ihrer Frage getroffen hat. Es wäre schön, wenn Mutter und Erich zum Tanz gehen. Und sie wird dabei sein, auf dem Platz vor der Schule, unter den Linden, vor dem großen Zelt, das dort aufgestellt werden soll.

Birgit und Marianne werden sie sehen, und vielleicht wird Erich auch mit ihr tanzen. Bestimmt wird er mit ihr tanzen, und ganz nebenbei kann sie sagen: Der wird mein Vater!

»Träum nicht, Ulla!«

Das Mädchen schreckt auf, sitzt da, den Blick zum Fenster hinaus, unter den Lindenblättern hindurch, die wie Schmetterlinge in der Sonne tanzen, die Stulle in der Hand, von der Marmelade auf den Teller kleckert.

»Ich träum ja nicht! Ich denke!«

»Ich denke, du musst dich beeilen, sonst kommst du wieder mal zu spät«, warnt die Mutter.

»Niemals komme ich zu spät!« Das Mädchen springt auf, wirbelt um den Tisch herum, küsst die Mutter stupsend auf die Wange. »Wie riechst du gut!« Sie läuft auf den Flur, steht mit der Schultasche in der offenen Tür: »Tschüs, Mammi, bis Mittag!«

»Ach, du Kobold! Mach, dass du wegkommst!« Da klappt schon die Tür, und die Mutter hört das Mädchen die Treppe hinunterpoltern. Sie schüttelt den Kopf. Dass sie es nie lernt! Viel zu laut! Sie geht zum Fenster und sieht ihre Tochter um die Hausecke verschwinden. Einen Moment wartet sie noch. Ulla steckt den Kopf noch einmal um die Ecke und winkt. Sie winkt zurück. Auch das gehört zu ihrem Morgen. Es kann anders nicht sein.

Seit sie aus dem Norden hierhergezogen sind, hat es noch keinen Morgen gegeben, an dem das Mädchen nicht gern zur Schule gegangen ist. Als sie nach Tulbach gekommen sind, waren noch Ferien, aber das Mädchen hat diese Schule auf den ersten Blick schon geliebt - das alte Fachwerkhaus, lang gestreckt mit weißen Wandfeldern zwischen dunklem Balkenwerk und hohen Fenstern hinter einem Platz mit Bäumen. Grünes Licht hat über dem Weiß gelegen, das nach dem Schulbeginn anders wurde, wärmer, je mehr sich die Linden zu Gold färbten und die Ahorne rote Blätter bekamen.

Der erste Tag in dieser Schule vor drei Jahren war ein sonniger Herbsttag. Den vergisst das Mädchen nicht. Die schönen Farben! Sie weiß noch, mit welcher Erwartung sie unter den Bäumen auf das alte Haus mit dem langen Dach zugegangen ist, das schöner ist als alle Häuser, die das Mädchen bislang kannte. Es ist unverwechselbar, dieses Schulhaus mit seinem freundlichen Gesicht, ganz anders als die neue Schule auf dem Großen Dreesch am Rande der Stadt im Norden.

Vielleicht, denkt das Mädchen an diesem Morgen, liegt es auch daran, dass Hansen hier ist, Hansen und seine Line. Dass sie deshalb gern in diese Schule geht. Hansen und Linchen, die Klassenlehrerin. Sie haben ihr so geholfen, sich nicht als die Neue zu fühlen, die anders spricht als die Kinder im Tal zwischen den Bergen. Das ist schon drei Jahre her und doch nicht vergessen. Vergessen ist auch nicht der große See da oben im Norden und nicht der Blick vom Hochhaus über die neue Stadt und den Wald davor und die anderen Seen und die ferneren Wälder, über das weite Land Mecklenburg. Auch die Segel sind nicht vergessen auf den Wassern und nicht das Schloss mit seinen dreihundertfünfundsiebzig Türmchen und Schornsteinen und den weißen Schwänen auf dem Burgsee davor. Das gibt es ja alles noch, wenn Sommerferien sind. Aber es gibt kein Heimweh mehr nach der Stadt und dem Hochhaus, in dem sie gewohnt haben.

Hier gibt es jetzt die Burg oder das, was von ihr geblieben ist. Sie ist so viel älter als das Zuckerbäckerschloss der großen Stadt, vor dem ein Großherzog sein schwärzlich bronzenes Bein nach vorne setzt und ein anderer, längst vergessener Landesfürst unter seiner Pickelhaube unentwegt und mit starrem Blick auf der Stelle reitet. Die Tulbacher Burgruine ist viel besser. Da kann man sich echt gruseln am Abend, wenn man das will, wenn die Fledermäuse über den Baumwipfeln dahinzucken und die jungen Eulen rufen. Da blüht jetzt der Flieder, und die Nachtigallen singen so süß und so schluchzend, wenn sie sich mit Marianne und Birgit trifft.

Und den Tulbach gibt es, mit einem Schwimmbad neben der Talwiese, in dem das Wasser auch im heißen Sommer kalt und durchsichtig bleibt, klar bis zum Grund. So ein Bad hat die Stadt mit ihren sieben Seen nicht zu bieten. Aber noch besser ist das gestaute Wasser im Wald. Es ist ein Geheimnis, von dem nicht einmal Birgit und Marianne wissen. Niemand weiß davon, und das Mädchen muss an den Jungen denken und wie er am Bach gestanden hat. Aber das war wohl ein Zufall. Sie haben ja das Haus da oben. Sie erinnert sich deutlich an seine Nase. Die ist zu groß. Wie seine Ohren. Gelbliche Augen hat er. Waldschlüsselblumen, denkt das Mädchen. Sie hat sich verabredet mit ihm. Das fällt ihr erst jetzt wieder ein.

Vom Rathausturm schlägt die Uhr. Jetzt muss das Mädchen laufen, schnell die Straße hinunter, am Lindengasthof vorüber, da ist der Platz mit den Bäumen und dahinter die Schule. Mit hopsenden Tornistern rennen ein paar Kleine aus der ersten und zweiten Klasse vor ihr. Von den Großen ist sie wieder die letzte. Und in der Tür steht Hansen. Aber er lacht.

»Na, Ulla, wie immer? Keine Minute zu früh!«

»Aber noch nicht zu spät, Herr Hansen!«

»Will ich auch nicht hoffen!«

»Ich hab nämlich was entdeckt, Herr Hansen ...«

»Warum schlägt der Teufel seine Großmutter?«, fragt der Lehrer belustigt. »Weil sie keine Ausrede hat, wie?«

»Gar keine Ausrede! Echt, ich hab was entdeckt, heute Morgen, im Bett!«

Das braune Gesicht des Lehrers ist voller Staunen. »Im Bett? Sieh an!« Er schüttelt den Kopf.

»Ja doch, Herr Hansen, ein Bild! Sie wissen doch, was ich nicht kapiert habe, diese, diese«, sie sucht etwas atemlos nach den rechten Worten, »diese abstrakten Kompositionen!«

Er schüttelt wieder den Kopf. »Na so was«, und schiebt die Tür hinter ihnen zu. »Nun mach, dass du in deine Klasse kommst. Das kannst du nachmittags erzählen. Wir üben um drei Uhr!«

3. Kapitel

Der Junge kommt schon kurz nach der Mittagszeit mit seinem Moped durch Tulbach. Er sieht sich aufmerksam um. Aber er kann das Mädchen, das er sucht, zwischen den Urlaubern nicht entdecken, die aus dem Lindengasthof kommen und wie sonnenhungrige Hühner über die Straße laufen. Er muss scharf aufpassen. Endlich schwingt sich die Straße hinter den letzten, vereinzelten Häusern den Berg hinauf. Vor der Steinbrücke kann er ins Bachtal abbiegen. Das runde, weiße Schild mit dem roten Rand gilt für ihn nicht. Unter dem Schild steht: »Nur frei für Forstfahrzeuge«. Aber dieser Weg ist auch für den Lada frei, den jetzt nur noch die Mutter fährt, und er ist frei gewesen für die Fahrzeuge, die das Baumaterial bis zur Wiese am Bach gebracht haben. Sie sind durch das andere Tal und über die Steinbrücke gekommen, niemals durch Tulbach. Und der Weg ist frei auch für ihn, bis zum Tor im Zaun. Gewohnheitsrecht, sagt die Mutter. Darüber braucht der Junge nicht nachzudenken.

Er lässt das Moped ausrollen, schaltet die Zündung aus und bockt das Fahrzeug auf. Dann schließt er das Tor auf, schiebt sein Moped die gekieste Auffahrt hoch und riegelt das Tor wieder zu. Das Haus liegt etwas hangauf. Seine Fensterläden sind noch geschlossen. Die Mutter fürchtet Einbrecher.

Der Junge geht am Haus vorüber den Hang hinauf. Die Schlüsselblumen mögen vielleicht schon verblüht sein. Das Wetter ist lange warm gewesen. Wenn er das Mädchen treffen will - aber er ist unsicherer als am Morgen -, muss er die Blumen zeigen können. Sie könnten wie ein Schlüssel sein. Für alles andere! Die Blumen stehen im Halbschatten. Die meisten sind unter den Haselsträuchern wirklich schon verblüht. Für einen Strauß reichen sie nicht mehr aus. Aber sie stehen da, blassgelb und großblütig, und das ist schon etwas! Nur das Mädchen muss kommen. Ihm ist seltsam zumute. Sie ist so anders als die Mädchen aus seiner Klasse.

Der Junge setzt sich vor den Sträuchern ins Gras. Er könnte ihr auch die Forellen zeigen, und vielleicht wird sie ein Stück mit ihm fahren wollen. Alle Mädchen fahren gern Moped. Lieber noch Motorrad. Die aus seiner Klasse jedenfalls.

Der Forellenteich spiegelt das Himmelblau von der anderen Seite des Holzwegs zu dem Jungen herauf. Manchmal zerreißt der Spiegel, und die Konturen der Bäume vom jenseitigen Hang zerrinnen in Kreiswellen. Dann ist ein Fisch gesprungen. Ihm fällt ein, dass er nach dem Vogel sehen muss. Das hat er versprochen.

Der Junge muss nicht weit gehen. Der Vogel sitzt auf dem Mönch, dem hölzernen Überlaufkasten, der das Wasser aus dem Teich wieder dem Bach zuführt. Er stochert zwischen seinen Zehen umher, nimmt etwas in den Schnabel, das mag ein Fischchen sein oder nicht, knickst wie am Vortag und schwirrt zur Holzbrücke hinunter, die bachabwärts zum Weg und zur Wiese hinüberführt. Dort verschwindet er unter den Balken.

Gestern ist der Vogel unter der Brücke hervorgeflogen.

Das kann Zufall gewesen sein. Aber der Junge geht langsam zum Teich hinüber. Im klaren Wasser sieht er die Forellen des Vaters. Sie haben ihre Köpfe gegen die schwache Strömung ausgerichtet. Kleine Jungforellen findet er nirgends. Vielleicht gibt es die gar nicht mehr. Vielleicht sind sie wirklich von diesem Vogel gefressen worden. Oder die großen Fische haben die Kleinen geschluckt?

Er späht zur Brücke, wo der Vogel verschwunden ist. Sie ist zu weit entfernt, um etwas zu erkennen. Aber als er zum Bach hinuntergeht, fliegt ihm der Vogel schon entgegen, saust in einem Bogen um ihn herum und landet auf dem Mönch. Er bleibt jedoch nur kurz sitzen, schwirrt über den Teich zum Bach hinauf, verschwindet dort im schäumenden Wasser und kommt erst nach einer ganzen Weile wieder hervor. Knicksend steht er im Bach, dreht und wendet sich und fliegt zurück auf den Mönch. Da stochert er wieder zwischen den Zehen und trägt dann seine Beute im schnellen Flug den Bach hinab, an dem Jungen vorbei, und verschwindet unter dem Brückenbalken.

Jetzt ist es für den Jungen klar - das kann kein Zufall sein. Er weiß über Vögel nicht viel und über diesen merkwürdigen Vogel nicht mehr als das, was er selbst gesehen hat. Er weiß nicht einmal seinen Namen. Aber wenn ein Vogel mit Futter im Schnabel wiederholt zu ein und demselben Fleck fliegt, dann muss dort sein Nest sein!

Zwei Vögel flattern mit lautem Zerr-zerr aus dem Balkendunkel, noch ehe der Junge die Brücke erreicht. Sie landen auf Steinen im Bach, zucken mit Flügeln und Schwänzen. So ähnlich wie Zwillinge sind sie sich, gleich groß und gleich gefärbt, und beide sind sie sehr aufgeregt.

Unter der Brücke ist nur Dämmerlicht. Da ist kaum etwas zu entdecken. Der Junge bückt sich vom Ufer her unter die Balken. Sie fühlen sich feucht und kalt an. Ein Nest findet er nicht. Vorsichtig tritt der Junge auf die Steine im Wasser, hält sich gebückt an den Balken über seinem Kopf fest und sucht weiter. Ihm ist, als höre er ein Wispern durch das Bachrauschen. Dann ist es verstummt. Er tastet sich zur anderen Uferseite unter der Brücke hindurch. Die Steine sind nass und kippeln. Fehlt noch, dass ich mir nasse Füße hole, denkt der Junge, und er rutscht auch schon, beide Beine planschen ins Wasser. Das schießt kalt in Schuhe und Hosenbeine. Er verliert den Halt, fällt nach vorn und kann sich gerade noch auf zwei Steinen abstützen. »Mistvögel«, knurrt er. Als er sich mühsam aufrappelt, stößt er mit dem Kopf an den Balken über sich. Das feine Wispern setzt wieder ein.

Über dem Balken, nahe der Uferböschung, ist eine Vertiefung unter den Bohlen. Darin findet der Junge einen Klumpen aus Moos und dürren Blättern und vorjährigen Grashalmen. Der Klumpen sieht feucht aus. Zum Wasser hin hat er ein Loch. Dorther kommt das Wispern.

Der Junge watet durchs Wasser, tastet sich an den Klumpen heran und greift vorsichtig in das Loch. Das Wispern wird zum lauten Betteln. Schnäbel mit gelben Rändern sperren ihm entgegen, vier, nein, fünf junge Vögel drängen ihre Köpfe aus dem ovalen Nestloch. Sie sehen wie junge Drosseln aus. Die kennt der Junge. Hinter der Terrasse hatten die Drosseln im Vorjahr ein Nest. Sie waren nicht scheu, und er hat gesehen, wie sie ganze Ladungen von Regenwürmern in die Gelbschnäbel der Jungen stopften. Aber kann es Drosseln geben, die ins Wasser gehen und tauchen und vielleicht sogar Fische fangen?

Der Junge bückt sich und späht unter der Brücke hindurch den Bach hinauf. Die Vögel sitzen noch immer auf den Steinen. Sie haben ihm die Köpfe zugewendet und knicksen aufgeregt auf und ab. Sie haben Angst vor ihm. Rasch klettert der Junge aus dem Bach und steigt ein Stück am Uferhang hinunter. Hinter einem blühenden Faulbaum liegt ein angespülter Stamm. Da kann er sich verstecken und das Nest noch gut erkennen. Jetzt will er sehen, wie die Vögel zu ihren Jungen kommen und ob sie ihnen wirklich junge Forellen bringen.

Erst einmal zieht sich der Junge die Schuhe aus. Er gießt das Wasser heraus und drückt seine Strümpfe trocken, so gut es geht. Dann wringt er die Hosen aus. Die Brücke behält er im Auge. Aber die Vögel wollen nicht kommen. Er zieht sich an und hockt sich auf den abgerindeten Stamm. Er muss warten und blickt auf die Uhr: Zehn Minuten vor drei!

4. Kapitel

Der Lehrer hat Mühe, das Lachen zu verkneifen. Der Junge stemmt sein Jagdhorn auf die rechte Hüfte, streckt den linken Arm mit großer Geste nach vorn und wölbt den Brustkorb heraus. Ingo ist klein und dicklich. Er federt mit vorgesetztem Bein leicht ins Knie. Seine Brille rutscht auf der kurzen Nase, und er blinzelt über die runden Gläser die Mädchen vor ihm aus wasserhellen Augen an und spitzt die Lippen zu einem Rüssel.

»So, Ulla!« Ingos Stimme kippt vom Brummen zu einem hellen Quieken. »Kussmund, Kussmund!«

Marianne und Birgit prusten vor Lachen, aber Ullas Augen werden dunkel vor Ärger. »Das ist gemein, Herr Hansen!«

»Sei nicht albern, Ulla!« Marianne versucht sie zu besänftigen. »Du weißt doch, Ingo muss immer Quatsch machen!«

Der Junge reckt sich. Er schiebt die Brille zurück und blickt den Lehrer an. »Ist das Quatsch, Herr Hansen? Das haben Sie doch gesagt, gleich beim ersten Mal: Lippenstellung wie beim Küssen! Einen Kussmund!«

»Aber ich habe nichts von einer komischen Nummer gesagt, mein lieber Ingo Merker!«

Der Junge reißt die Augen übertrieben weit auf. »Ich meine das ganz ernst, Herr Hansen, wirklich!« Er sieht den Lehrer mit der gleichen unbewegten Miene an wie die Mädchen. Jetzt lachen sie laut. Nur Ulla nicht.

»Du hast nicht geübt, Ulla. Das merkt man!«, sagt der Lehrer. »Die hohen Töne kommen noch nicht sauber. Das muss besser werden. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Sollen wir uns blamieren? Das willst du doch nicht!«

»Nein, Herr Hansen, will ich nicht, aber Ingo soll mich nicht so verklapsen! Stimmt ja, ich hab nicht doll geübt, aber da können Sie sich drauf verlassen, Montag kann ich das! Alles!«

»Darauf können Sie sich verlassen, Ulla!« Hansens Stimme betont die Worte.

Sie nickt.

»Kussmund, Ulla«, quäkt Ingo mit gekrauster Nase.

»Schluss jetzt, Ingo! Das Signal noch einmal. Ingo bläst vor, und dann wir alle zusammen! Los, Ingo!«

Der Junge stemmt den linken Arm ein und setzt das Horn an. Sein Kopf gleicht einer Kugel, so bläst er die Backen auf. Seine Augen werden zu kleinen Schlitzen. Die Töne kommen sauber und strahlend. Wenn Ingo bläst, gibt es keine Fehler. Trotz aller Faxen. Er nimmt das Horn gelassen wieder herunter, als sei nichts gewesen. Dann zieht er das Mundstück heraus und schlenkert die Feuchtigkeit aus dem Instrument.

»Wir wissen ja, dass du gut bist! Brauchst gar nicht so anzugeben!« Ulla hat noch immer ein zorniges Gesicht.

»Kinder, Kinder, keinen Streit bitte! Gleich ist es vier Uhr, und ich möchte auch mal nach Hause kommen«, mahnt der Lehrer. »Alle jetzt: Has tot!« Er tippt mit der Fußspitze in den Sand und nickt. Eins, zwei, drei! Das Signal für den toten Hasen klingt fünffach schmetternd über den Schulhof.

»Na bitte«, sagt der Lehrer aufatmend, »das ist schon ganz gut! Also bis Montag, und bitte, übt noch ein bisschen! Schönen Sonntag wünsch ich euch!«

»Wir auch, Herr Hansen!« Sie sehen ihm nach, als er ins Schulhaus geht.

»Und du bist echt doof, Ingo«, faucht Ulla. Aber er grinst nur und klemmt sich das Horn unter den Arm.

»Weiß wirklich nicht, warum du so zickig bist! Lernen, lernen und nochmals lernen! Hat Lenin schon gesagt!« Er macht eine kunstvolle Pause, um seine Worte auszukosten. »Küssen muss man auch lernen! Hat Lenin aber nicht gesagt!« Er dreht sich um und stapft auf seinen kurzen Beinen davon.

»Eh dich jemand küsst, da küsst er lieber einen Frosch!«, schreit Ulla ihm nach.

Birgit schüttelt den Kopf. »Was ist denn los mit dir, Ulla? Verstehst du keinen Spaß mehr?«

»Ach, Quatsch! Lass mich zufrieden. Ich hab keine Zeit mehr! Tschüs!« Sie dreht sich um. Bis ins Tal hinauf braucht sie eine halbe Stunde. Der Junge ist bestimmt schon weg. Warum soll er so lange warten? Aber es kann doch sein.

»Heute Abend auf der Burg?«, ruft Birgit ihr nach.

»Weiß noch nicht!« Ulla rennt schon. Versprochen ist versprochen. Im Ort ist es still. Sie kommt an die Steinbrücke, nimmt die Forststraße als Abkürzung, läuft vor dem Teich über die Holzbrücke und will auf den Pfad einbiegen, der am Hang neben dem Bach hinaufführt.

»He«, ruft da einer hinter ihr. Das Mädchen erschrickt. Wenn es der Junge ist? Hier sind sie doch nicht verabredet, und er soll nicht gesehen haben, dass sie gelaufen ist.

»Warte doch«, hört sie hinter sich. Sie dreht sich um. Der Junge zieht sich an den Büschen das Ufer hinauf. Warum hat er sich versteckt? denkt das Mädchen. Sie sieht, seine Jeans sind nass bis zum Knie. Er kommt ihr langsam entgegen.

Sein Gesicht ist nicht freundlich, seine Lippen sind schmal. Er ist am Bach hinaufgegangen bis zu den Flachsteinen. Dort hat er gesessen und nachgedacht, was er sagen soll, wenn das Mädchen kommt. Aber nach einer halben Stunde hat er noch immer allein unter den Bäumen gesessen und auch nach einerweiteren Viertelstunde. Erst nach einer ganzen Stunde ist er wieder zu dem Stamm hinuntergestiegen, der hinter dem blühenden Faulbaum liegt. Er hat gesehen, dass die Vögel keine Fische in das Nest unter der Brücke tragen. Das hat ihn abgelenkt, und er wird dem Mädchen nicht sagen, wie sehr er doch gewartet hat.

»Na«, fragt das Mädchen, »wo kommst denn du her?«

Der Junge zuckt die Schultern. »Ach«, sagt er wie nebenbei, »ich war nur unten am Bach.«

»Das sieht man!« Sie blickt auf seine Hose. »Wolltest du Forellen greifen?«

»Das ist verboten!« Die Stimme des Jungen klingt scharf.

»Verstehe! Verbotenes machst du nicht?« Die Mädchenstimme hat leisen Spott.

»Nichts verstehst du! Wir ziehen nämlich Forellen auf, und wer hier Forellen greift, der ist blöde oder ein Schuft!«

»Davon hab ich keine Ahnung«, lenkt das Mädchen ein. »Wirklich, keine Ahnung!« und sie denkt: Er ist sauer, weil er warten musste. Aber er musste ja nicht!

Sie stehen da, und das Schweigen wird zu lang.