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Wolf Spillner

Die Hexe mit der Mundharmonika

und andere Geschichten

 

ISBN 978-3-95655-338-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

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Mein schönster Baum

Ihr könnt sagen, es lohnt nicht, über Bäume nachzudenken. Sie stehen da und sind aus Holz. Wir können es zu Balken schneiden oder Möbel daraus bauen oder auch Geigen und Mandolinen. Aus Holz können wir Papier machen und aus dem Papier schöne Bücher mit Bildern.

Das alles ist richtig.

Aber wir können Bäume auch anders sehen. So wie mein Freund Werner. Vor seinem Haus steht eine Schwarzpappel. Das ist ein breiter Riese mit schweren Ästen und dicker Borkenrinde. Von einem Ast pendelt ein Schaukelbrett an einer langen Kette. Darauf können unsere Kinder durch den Sommer fliegen.

Im April blüht die Riesenpappel. Das ist lustig — ihre Blüten sehen wie Raupen aus, rot und silbern. Die ersten Stare schwatzen dann in ihren Zweigspitzen, und im Sommer, wenn die Felder schwer von Hitze sind, finden wir unter ihrer Krone kühlen Schatten. Auch die Traktoristen und Mähdrescherfahrer rasten hier gern zur Mittagszeit. Ein freundlicher Baum, sagen sie.

Im Herbstwind fliegen die Pappelblätter wie goldfarbene Herzen auf den Acker, und mein Freund Werner meint: »Das ist der schönste Baum, den es gibt!«

Wir wollen ihm nicht widersprechen. Die große Schwarzpappel ist sein Freund. Aber wir haben andere Freunde und kennen andere Bäume, die wir lieben. Für den einen kann das die Fichte sein, die stattlich und schlank am Berghang wächst, für den anderen die Kastanie, die ihre braunen Früchte aus Igelschalen auf den Schulhof wirft. Oder wir denken an Birken, deren weiße Stämme zu tanzen scheinen, an das brennend rote Herbstlaub eines Spitzahorns und an die glatten Silbersäulen des Buchenwaldes. Wie reich sind unsere Dorflinden an Honig, und nach heißem Harz duften die ernsten Kiefern in der blühenden Heide.

Ach, es gibt so viele Bäume, die wir lieben können.

Mein schönster Baum steht in einer Hecke auf dem Feld. Er ist nicht groß, und vielleicht ist er auch gar nicht schön. Seine Zweige bergen kein Vogelnest. Um seinen Wurzelfuß blühen keine Siebensterne wie unter den stattlichen Eichen im Wald. Er ist so unscheinbar, dass wir an ihm vorüberlaufen können, vor allem im Winter, wenn seine Zweige kahl und schwarz sind.

Jedoch im Mai, da müssen wir stehen bleiben, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen ganz tief Atem holen — ein Riesenblumenstrauß strahlt und duftet aus der Hecke! Das ist der wilde Apfelbaum. Im Herbst trägt er kleine, harte Früchte. Sie schmecken nicht gut, sie sind so schrecklich sauer.

Also ein völlig unnützer Baum, werdet ihr sagen.

Aber ich will ein Geheimnis verraten.

Der wilde Apfelbaum hat einen Ast, an dem herrliche süße Früchte wachsen. Sie sind dunkelrot und rund. Und ein anderer Ast trägt längliche Äpfel, gelb wie Honig, mit feinen Streifen. Sie schmecken ein wenig nach Bananen. Beide Äste wachsen viel schneller als die anderen am gleichen Stamm.

Wer mag den Baum verzaubert haben?

Vater Jonas! Er ist ein alter Gärtner, der stets ein krummes Messer in der Jackentasche trägt, ein Arbeitsmesser mit schwarzem, abgewetztem Griff. Mit diesem Messer in der Tasche ist Vater Jonas zu dem wilden Apfelbaum gegangen. Er hat damit zwei Äste gestutzt, an den Stümpfen die Rinde aufgeschlitzt und zwei kleine Reiser hineingesteckt. Dann hat er Bast darum gebunden und Baumwachs aufgetragen. Die Reiser schnitt er von seinen guten Obstbäumen im Garten. Jetzt wachsen sie am Wildapfelbaum, und im Herbst leuchten köstliche Früchte zwischen den kleinen sauren Apfelzwergen.

Der alte Vater Jonas hat Äpfel genug in seinem Garten. Er verschenkt sie an unsere Kinder. Er brauchte nicht noch mehr. Und doch sucht er am Waldrand und in den Feldhecken noch immer nach wilden Apfelbäumen.

Warum, haben wir gefragt. Da hat er gelächelt: Bäume sind unsere Freunde. Freunde soll man reicher machen!

Ein Tag im Frühling

Am Morgen ist Martin auf der Straße nach Klein Baden zur Schule gefahren. Über den Feldern schwamm noch Nebel. Aber hinter dem Dunst war schon die Sonne, ein blasser, kleiner Punkt.

Zum Mittag wird der Himmel hoch und seidenblau, und Martin fährt durch den Wald zurück. Im Wald ist es schöner als auf der Straße. Die Anemonen leuchten wie weiße Sterne, und hinter dem Wald singen die Lerchen. Sie sind kaum zu sehen. Irgendwo da oben unter dem Himmel hängen sie, und ihr Lied geht weit über die Felder.

Martin setzt sich auf einen Stubben am Waldrand. Den ganzen langen Waldweg fuhr er freihändig. Sogar durch die Senke, wo es immer nass ist. Die kennt er. An der nassen Stelle ist er einmal ausgerutscht. Da lag ein trockener Ast an der Seite. Den hat er getroffen, und die Haut am Kinn war aufgeplatzt. Ein paar Tage lang ist Martin nicht mehr freihändig gefahren. Erst heute wieder. Heute hat er es geschafft. Den langen Weg bis zum Waldrand. Martin sitzt auf dem Stubben und ist zufrieden.

Auf dem gepflasterten Feldweg brummt ein blauer Traktor zur Straße. Er trägt ein großes Paket hinter sich her. Martin kneift die Augen zusammen. Das werden Saateggen sein, Striegeleggen. Doch den Traktor kennt Martin nicht. Er hat ihn noch nie gesehen. Der Traktor blitzt in der Sonne, ehe er hinter dem Waldzipfel verschwindet.

Die Felder am Weg sind gestreift, abwechselnd grün und silbern. Auf dem Streifen vor dem ersten Haus bewegt sich ein schwarzer Fleck. Das wird Opa Schriever sein. Kleine weiße Flecke tanzen um ihn herum. Er hütet wohl seine Hühner auf dem gestriegelten Feld.

Martin fährt zum Feldweg hinunter. Der ist nicht so glatt wie der Pfad durch den Wald. Da muss er den Lenker festhalten.

Vor dem Haus steht Opa Schriever. Seine weißen Legehühner und der große Hahn kakeln vor seinen Füßen. Hinter ihm sitzen die beiden schwarzen Katzen. Sie tun so, als ob sie schlafen. Aber sie schlafen nicht. Die Hühner picken nach Würmern und Larven, die der Traktor mit seinen Eggen freigelegt hat. Die Eggen bürsteten den Acker, mal nach der einen, dann nach der anderen Seite. Die Roggenpflänzchen legen sich unter dem Striegel. So entstehen die Streifen. Die Katzen aber warten, dass die Mäuse wieder aus ihren Löchern kommen. Opa Schriever freut sich, dass seine Tiere gut zu fressen finden. Er blinzelt über sie hin, und an seiner Nase hängt ein kleiner Tropfen. Der glänzt in der Sonne.

»Na Martin, Schule aus?«, fragt Opa Schriever.

»All lang«, antwortet Martin. »Was war denn das für’n Trekker, Opa Schriever?«

»Das musst du wissen, was?«

»Klar doch! War das ein neuer?«

»War der Borutta aus Beidendorf. Das ist ein Flinkfleut! Haste nicht gesehen, war der fertig mit dem Striegeln, rauf und runter zum See, was haste, was kannste. Kann man gar nicht so schnell gucken. Wenn ich da noch an denken tu, wie wir früher mit die Pferde, o Mann!«

»Nicht doch«, sagt Martin, und er denkt: Das muss doch mit den Pferden heißen, »nicht doch«, sagt er, »will ich ja gar nicht wissen! Was für ein Trecker das war, meine ich.«

»Ach Jung«, sagt Opa Schriever und wischt sich den Tropfen von der Nase, »was weiß denn ich. So ein großmächtiges Ding eben! Bannig laut! Und schnell auch. Genau das Richtige für den Franz Borutta!«

»Na gut«, sagt Martin. Er merkt, Opa Schriever weiß es nicht. »Legen deine Hühner viele Eier?«

Da grient Opa Schriever. »Wie die Deubels legen die Biester jetzt!«

»Unsere dicken Hühner auch, Opa Schriever, braune Eier.«

»Kannst mir mal ein paar mitbringen, Jung, ich will eine Glucke setzen!«

»Mach ich, Opa Schriever, aber nun muss ich los! Tschüs, Opa Schriever!«

Das Rad rollt zum Bahndamm, dann kommt eine kleine Kurve und dann noch die gerade Strecke zwischen den Feldern vor dem ersten Rohrdachkaten. Gleich ist Martin zu Hause, und hinter den Bahnschranken beginnt schon die Kirschenallee. Ach, noch ist es ja keine Allee. Nur kleine Bäumchen stehen da, kleiner als Martin, die dünnen Stämmchen in weiße Plastmäntel gehüllt, dass Rehe und Hasen im Winter nicht die Rinde abschälen können. An feste Stützen sind sie gebunden. Hier weht der Wind so oft und so stark von der See her.

Aber was ist das? Martin bremst scharf. Zwei Bäumchen liegen umgebrochen am Wegrand. Vom Feld führt eine schwarzbraune Spur auf die Holperstraße. Das sind Abdrücke von breiten Traktorreifen. Zwischen den Bäumchen kommen sie vom Acker. Aber die Bäumchen sind umgebrochen! Dicht über der Wurzel! Die Stützpfähle sind aus dem Boden gezerrt, die Schutzmäntel aufgerissen. Der Traktor, der neue Traktor muss das gewesen sein, der mit den Striegeleggen auf dem Feld war. So eine Gemeinheit, denkt Martin, so eine große Gemeinheit! Er steht da und starrt auf die abgerissenen Kirschenbäumchen. Was denn nun?

Martin lässt sein Rad auf der Straße liegen und rennt über den Bahndamm zurück. Opa Schriever steht noch immer zwischen seinen Hühnern. Sie kakeln, als Martin angerannt kommt.

»Jung, was ist dir«, schreckt Opa Schriever auf, »ist der Deubel hinter dir?«

»Unsere Bäume, Opa Schriever, unsere Bäume! Kannst du dir das vorstellen? Abgebrochen, einfach abgebrochen! So eine Gemeinheit!« Martin keucht, und er schluckt, und es fehlt nicht viel, dass die Tränen kommen, vor Wut, aber vor Jammer auch.

»Sachte, Jung, sachte«, sagt Opa Schriever, »unsere Kirschen?«

»Ja doch, Opa Schriever, komm bloß mal mit!«

Opa Schriever ist nicht mehr so flink auf den Beinen. Es dauert ein paar Minuten, ehe er vor den abgerissenen Kirschbäumen steht.

»Ne, so was«, sagt er. »Hat er denn keine Augen im Koppe?«

»War das der neue Trecker, Opa Schriever? Heute Morgen war noch alles heil, das habe ich gesehen!«

»Ja«, sagt Opa Schriever, »hier hat er gestriegelt. Der ist wohl gleich über die Straße und dann auf die andere Seite rüber, und mit den Eggen hat er die Bäume abgerissen!«

»Aber wir haben extra Platz gelassen!« Martin zeigt auf den Feldrand vor dem Bahndamm. »Immer fahren die Trecker da über die Straße. Warum muss er hier zwischen unseren Bäumen durch?«

Opa Schriever zuckt die Schultern. »Keine Augen im Koppe!«, knurrt er.

»Was machen wir nun, Opa Schriever?«

Der alte Mann sieht den Jungen an. Er schüttelt den Kopf. »Machen können wir gar nichts. Die Bäume sind hin!«

»Aber das geht doch nicht, Opa Schriever. Du hast doch mit gepflanzt, hat dir Spaß gemacht! Haste gesagt!«

»Ja, mein Jung, aber machen, machen können wir rein gar nichts!«

»Zur Polizei, Opa Schriever, könnte man nicht ...?«

»Ach Jung, nicht von wegen zwei Bäume!«

»Und das müssen wir uns gefallen lassen? Nee, Opa Schriever!«

»Das sag mal lieber deinem Vater und deiner Mutter, Martin. Ich bin da schon zu alt zu, für so viel Ärger!«

Martin kann Opa Schriever jetzt nicht weiter zuhören. Er hält es nicht aus. Einfach aufgeben! Mutter wird traurig sein. Und Vater? Der wird wütend werden! Martin nimmt sein Fahrrad auf. Langsam schiebt er das Rad nach Hause. Er muss nachdenken. Kann man wirklich nichts machen?

Am Rohrdachkaten steht Erich Höckendorf mit einem Farbtopf in der Hand. Er will die Haustür streichen. Seit Langem baut er das alte Haus wieder auf. Damit gibt er sich viel Mühe. Erich Höckendorf kommt aus der Stadt. Mit seinem Kran setzt er die Platten der großen Betonhäuser. Heute hat er Frühschicht gehabt.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragt er.

»Hast du nicht gesehen, Onkel Erich? Zwei von unseren Kirschenbäumen sind abgebrochen!«

»Ja«, sagt Erich Höckendorf, »das habe ich gesehen. War wohl doch keine gute Idee von uns!«

Martin weiß noch, was der Kranfahrer im Herbst gesagt hat: »Ob das wohl werden kann?« Auch sein Freund Fritz, der ihm hilft, das alte Haus wieder herzurichten, hatte Bedenken. »Hier fahren so oft große Ackergeräte entlang!«

»Aber stellt euch mal vor, wenn Bäume an unserer Straße wachsen! Wie Blumensträuße werden sie blühen!« So hatte die Mutter geredet. Es war ihre Idee. »Knurpelkirschen und Frühkirschen und vielleicht auch schwarze Herzkirschen!« Sie war nicht zu bremsen, ging von Haus zu Haus und redete mit den Nachbarn und mit den Wochenendgästen. Und schließlich sagte auch Erich Höckendorf: »Na, versuchen können wir es ja!« Nun waren alle für die Kirschbaumallee. Jeder wollte seinen Baum für die gemeinsame Allee pflanzen. Der Vater sollte die Bäume heranholen. Er kannte den Leiter einer Baumschule.

Es wurde ein Festtag. Die Mutter bereitete eine Riesenpfanne voller Klopse vor, die Männer kauften einen Kasten Bier, während Martin und der Vater zur Baumschule fuhren.

Dort standen eine Menge Leute. Sie alle wollten Obstbäume haben. Aber sie mussten eine ganze Zeit warten, ehe sie an die Reihe kamen. In einer großen Halle suchte der Vater die Kirschbäume aus. Er wählte hellrote Herzkirschen, dunkle Knorpelkirschen und noch ein paar Frühkirschen, sechzehn gesunde, gut gewachsene Kirschbäumchen. So war es ausgemacht.

Doch als der Vater die Bäume bezahlen wollte, sagte die Frau an der Kasse: »Sie dürfen nur zwei Kirschbäume kaufen. Wir haben nicht so viele. Zwei nur für jeden!«

Der Vater redete und redete und erklärte, dass er für ein halbes Dorf die Bäume holen und dass sie eine Allee pflanzen wollten. Die Frau schüttelte den Kopf und sagte nur »Das geht nicht!«

»Wäre ja noch schöner«, schimpfte ein älterer Mann in einem grünen Lodenmantel, »die einen kriegen alles, und die anderen gucken in den Mond!«

Der Vater packte das Bündel Kirschbäume zur Seite. Der ältere Mann machte ein böses Gesicht. »Komm«, sagte der Vater leise, »jetzt müssen wir doch den Chef suchen.«

Der Chef war ein blonder Mann mit Gummistiefeln. Er hatte eine rot gefrorene Nase und rote Backen. Seine Fellmütze saß ihm im Nacken, und seine Jacke und sein Hemdkragen standen offen. Er schwitzte, obwohl die ersten Schneeflocken vom trüben Himmel schaukelten. Er schwitzte vor Aufregung.

»Bloß keine Sonderwünsche«, rief er dem Vater entgegen. »Bloß das nicht!«

»Nein, nein, Karl«, versuchte ihn der Vater zu beruhigen, »nur ein paar Kirschen. Wir brauchen sechzehn Bäumchen!«

Der Leiter der Baumschule sah sie stirnrunzelnd an. »Wozu brauchst du sechzehn Kirschbäume? Zwei kannst du haben!«

Da erzählte der Vater auch ihm von der Kirschbaumallee durch die Felder zum Unterdorf.

Der blonde Mann schüttelte energisch den Kopf: »Das wird nichts! Glaub mir das! Es wird nichts!«

»Aber warum soll das nichts werden?«, fragte der Vater.

»Pflanzt Birken meinetwegen oder Äpfel oder Birnen oder hochstämmige Bratkartoffeln!« Er lachte spöttisch. »Nur keine Kirschen!«

»Aber warum denn nicht?«, fragte der Vater noch einmal.

»Es hat keinen Zweck! Die werden euch geplündert, Jahr für Jahr! Die locken Menschen an wie der Honig die Wespen! Und dann noch Frühkirschen, Mann, wo denkst du hin?«